KLEINER DRACHE. Norbert Stöbe

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KLEINER DRACHE - Norbert Stöbe


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das tote Tier genauer untersuchen sollen, dann hätte sie sich einige Aufregung erspart.

      »Sie können hier nicht rein«, sagte der zweite Uniformierte, als sie das Bike abgestellt hatte und vor die Absperrung getreten war. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, hinter der AR-Brille huschte sein gelangweilter Blick umher, er sah sie nicht. »Gehen Sie weiter.«

      »Aber ich sehe Angestellte im Geschäft. Ich arbeite hier.«

      »Ach ja?«

      »Allerdings«, sagte sie schnippisch. »Ich bin sogar die Chefin. Genau genommen gehört mir der Laden. Also sagen Sie mir gefälligst, was hier los ist.«

      Er musterte ihr zerknittertes Kostüm und das SegBike, das ihr gefolgt war wie ein Hund. Was er sah, überzeugte ihn anscheinend nicht. »Das Geschäft wird gerade mit Sprengstoffsonden untersucht«, sagte er unfreundlich. »Heute Morgen ist eine Drohmail der Liga zum Schutz humanen Lebens eingetroffen. Möglicherweise handelt es sich um einen Fake, aber es wäre trotzdem besser, wenn Sie in der Nähe warten würden, bis die Durchsuchung abgeschlossen ist.«

      »Also, ich glaube das nicht«, sagte Xialong entschlossen. »Lassen Sie mich auf der Stelle durch.«

      Der Polizist seufzte. »Wenn Sie mir Ihren Namen sagen würden …«

      »Wei Xialong«, sagte sie.

      Er trat ein paar Schritte beiseite, hob den Arm vor den Mund und sprach halblaut in sein Com. Eine zweite Kameradrohne schwebte dicht über den Passanten heran. Der Polizist kam zurück.

      »Frau Wei befindet sich in ihrem Büro«, sagte er. »Bitte weisen Sie sich aus.«

      »Mein Com ist defekt«, sagte Xialong. Sie hatte es nicht überprüft, doch auf einmal war sie sicher, dass die holografische Identprojektion nicht funktionieren würde. Der Horror des Vortags war kein Albtraum gewesen. Er ging einfach weiter.

      »Sie irren sich, wenn Sie glauben, Frau Wei sei im Geschäft«, sagte sie mit leiser, nicht sehr überzeugender Stimme. »Ich bin Wei Xialong. Bitte rufen Sie Zhang Sammo heraus, er kann es bezeugen.«

      »Ich habe gerade eben mit diesem Herrn gesprochen«, sagte der Polizist, hob den Arm und hielt ihr das Com vors Gesicht. Vermutlich wurde ihr Bild an jemanden übermittelt, der es überprüfen würde. Der AnBot zielte mit einer Waffe auf die zweite Drohne. Ein dunkler Schatten schoss aus dem klobigen Lauf und entfaltete sich zu einem Netz. Es traf die Drohne und hüllte sie ein. Das Gerät begann zu trudeln, schwenkte zur Straße ab, schlitterte über ein Autodach, prallte auf die Fahrbahn und wurde überrollt.

      Cheng Ko stand auf dem Namensschild des Polizisten. Während er und Xialong einander unschlüssig fixierten, trat ein Mann aus dem Eingang des Geschäfts. Xialong kannte ihn nicht, also war er vermutlich ein Kriminalbeamter in Zivil.

      »Festnehmen!«, rief er und hob befehlend die Hand. »Nehmt die Frau fest!«

      Der AnBot schwenkte herum und fuhr eine Art Trichter aus. Cheng Ko langte über das Absperrband hinweg und packte Xialong beim Arm. Sie riss sich los, machte kehrt und stieß gegen einen Transportbot. Sie kippte vornüber und stützte sich auf dessen gepolstertem Rücken ab. Der Bot erstarrte, offenbar hatte sich eine Schutzschaltung aktiviert.

      »Bitte behindern Sie mich nicht!«, plärrte der Bot. »Ich bin im Auftrag einer hilfsbedürftigen Person unterwegs. Bitte …«

      Xialong wandte sich zur Seite, stürmte zwischen Gaffern und VR-Blinden hindurch und rannte weiter, ohne sich umzusehen. Das SegBike blieb hinter ihr zurück. Erst als sie keine Luft mehr bekam, notgedrungen stehen blieb und feststellte, dass ihr niemand folgte, holte sie den Zettel aus der Kostümtasche, den Onkel Wu ihr gegeben hatte. Da sie kein Bottaxi anhalten konnte, gab sie die Adresse in den offline gespeicherten Stadtplan des Coms ein. Die Entfernung betrug 2,47 Kilometer.

      

      5

      Er träumte von einer schwarz-roten Schlange. Sie war so dick wie ein Finger und ringelte sich um seinen Arm. Sie bestand aus Segmenten, die entweder ein- oder zweifarbig waren. Wenn man die Reihenfolge variierte, entstünde ein Code. Die Zahl der Buchstaben war aufgrund der Länge der Schlange vorgegeben, ebenso die Zahl der möglichen Kombinationen der Segmente. Dafür musste es eine Formel geben, und vermutlich war sie einfacher, als es auf den ersten Blick erscheinen mochte. Trotzdem kam er nicht drauf. Vielleicht lag es an der ringelnden Bewegung, an diesem lebendigen, trockenen Gleiten auf seiner Haut, dass er sich nicht konzentrieren konnte. Er versuchte es trotzdem, strengte sich an … dann begriff er, dass die sich ringelnde Schlange das umlaufende Wake-up-Signal seines rhythmisch kontrahierenden Armbandcoms war.

      Er schlug die Augen auf. Es war viertel nach elf, verflucht früh für seine Verhältnisse, und an seinem Arbeitsplatz blinkte das Besucher-Icon. Er hatte etwa viereinhalb Stunden geschlafen, viel zu wenig nach einer arbeitsreichen Nacht. Benommen glotzte er den Stream der Türcam an, den das Com in die Dunkelheit projizierte, dann wälzte er sich auf die Seite, tastete auf der Kiste neben dem Bett zwischen Snackkartons, Atemmasken, aktiven Nasenstöpseln und InEars nach einer sechseckigen Pille und steckte sie sich in den Mund.

      Dann raus aus dem Bett und zur Tür getappt, mit einer Hand den Slip mit dem ausgeleierten Gummibund haltend: »Ja?«

      »Sind Sie … Kung?« Das Gesicht vom Monitor, erschreckt und ängstlich.

      »Komm rein.«

      Er überließ es ihr, die Tür zu schließen, tappte zurück ins Halbdunkel der Monitore und Stand-by-LEDs, ließ sich in einen Sessel fallen und stand noch einmal auf, um den Slip über seine Blöße hochzuziehen. Die junge Frau nestelte verunsichert an ihrer Kostümjacke.

      »Du bist nicht Linh«, krächzte er.

      »Ich bin Xialong. Ich …«

      »Hab Linh erst morgen erwartet, aber egal. Ich brauche je einen Pack Sechser und Dreier und zehn Portionen Neeze. Aber, he, das Zeug ist mächtig, hätte fast den Arzt gebraucht.« Er beugte sich vor und tastete auf dem Tisch nach einem Geldstick.

      »Meinst du Rauschgift?«, fragte Xialong.

      »Hä?« Er hob den Kopf, blickte schräg von unten in ihr rundliches, erschrockenes Gesicht. »Was ist eigentlich los mit dir?« Er ließ den Stick fallen, schnellte hoch, trat vor sie hin, riss ihre Jacke auseinander und zog ihr die Bluse hoch, ehe sie reagieren konnte. »Da ist ja nichts.« Linh hatte immer einen gut gefüllten Bauchgürtel dabei, aber diese Besucherin hatte nichts weiter vorzuweisen als ihren nackten, flachen Bauch.

      Xialong, von Furcht gelähmt, starrte den Slip an, der ihm die Beine runterrutschte, dann wanderte ihr Blick zu seinem Schulterhöcker. Der Bann löste sich. Mit einem Aufschrei raffte sie die Jacke vor der Brust zusammen und wich Richtung Tür zurück, doch Kung, den die Sechsertablette wiederbelebt hatte, stellte seine Beweglichkeit dadurch wieder her, dass er den um seine Füße gewickelten Slip wegkickte und ihr splitternackt den Weg verstellte. Sie hob abwehrend die Arme vor Gesicht.

      »Bitte tu mir nichts«, bettelte sie.

      »Nein, nein, nein«, sagte er, »so geht das nicht. Du tauchst hier auf, reißt mich aus dem Tiefschlaf und hast keine Ware dabei – ich würde sagen, du schuldest mir eine Erklärung.« Vielleicht sollte ich mir besser ein Handtuch um die Hüfte binden, ging ihm durch den Kopf.

      »Ein Handtuch, ein Handtuch«, murmelte er, wandte sich zum Bett, das wie ein Fremdkörper inmitten der Elektronik stand, zog das Laken unter der platt gewalzten Holoformdecke hervor und legte es sich um wie einen Ganzkörperlatz. »Besser?«

      »Etwas«, sagte Xialong, hinter ihren Armen hervorlugend. Argwöhnisch beobachtete sie, wie Kung sich wieder setzte, dann rückte sie vorsichtig näher.

      »Also«, sagte Kung.

      »Was … also?«

      »Vielleicht solltest du dich ebenfalls setzen. Jetzt setz dich schon.«

      Sie


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