Den du nicht siehst - Ein Schweden-Krimi. Mari Jungstedt
Читать онлайн книгу.war schweißgebadet. Sie hatte einen widerwärtigen Geschmack im Mund, und ihr Magen krampfte sich vor Angst zusammen. Der Albtraum hatte sie noch immer im Griff. Sie und Helena waren wie so oft am Strand entlanggegangen. Helena lief ein Stück vor ihr. Emma rief, sie solle warten, aber Helena reagierte nicht. Sie beeilte sich und rief noch einmal Helenas Namen. Die Freundin drehte sich nicht um. Emma versuchte zu rennen, blieb aber auf der Stelle. Ihre Füße hoben sich in Zeitlupe vom Boden, und so sehr sie sich auch anstrengte, sie kam nicht vom Fleck. Sie konnte Helena nicht einholen. Mit einem Schrei fuhr sie aus dem Schlaf hoch.
Wütend strampelte sie sich von Olles Decke frei, die auf ihre Bettseite gerutscht war und über ihrer eigenen lag. Sie hätte gern geweint, doch sie schluckte den Kloß im Hals hinunter und stand auf. Das Sonnenlicht schien durch die dünnen Baumwollvorhänge und leuchtete in das große, luftige Schlafzimmer.
Sie war nicht zur Arbeit gegangen, obwohl das Schulabschlussfest schon in zwei Tagen stattfinden sollte und sie unendlich viel zu tun hatte. Sie wollte ihre Schüler ja auch nicht im Stich lassen, aber im Moment konnte sie ihnen einfach nicht gegenübertreten. Sie würde versuchen, die letzten Vorbereitungen von zu Hause aus zu treffen. Der Rektor hatte Verständnis gezeigt. Der Schock. Die Trauer.
Emma und Helena. Helena und Emma. Sie waren die allerbesten Freundinnen gewesen.
Mechanisch machte sie ihre übliche Toilette. Das Duschwasser lief über ihren erhitzten Körper, aber sie spürte keine Abkühlung. Ihre Haut war wie ein dicker Panzer, als gehöre sie nicht zu ihr. Emma war völlig aus dem Gleichgewicht geraten.
Olle hatte die Kinder zur Schule gebracht, ehe er zur Arbeit gefahren war. Er hatte angeboten, zu Hause zu bleiben, doch Emma hatte das energisch abgelehnt, sie wollte allein sein. Sie zog Jeans und einen Pullover an und lief auf bloßen Füßen in die Küche. Im Haus ging sie immer barfuß, selbst im Winter. Nach einer Tasse starkem Kaffee und einigen Scheiben Toast fühlte sie sich etwas besser. Aber das Gefühl der Unwirklichkeit wollte sie nicht verlassen. Wie hatte das nur passieren können? Ihre beste Freundin war an ihrem Strand ermordet worden. Dort, wo sie mit Eimer und Spaten im Sand gespielt, als pferdeverrückte Zwölfjährige Wettrennen veranstaltet, als Teenager ihre Probleme diskutiert hatten, wo sie Moped gefahren waren und sich zum ersten Mal betrunken hatten. Helena hatte an diesem Strand sogar ihre Unschuld verloren.
Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Es war Kommissar Knutas.
»Es tut mir Leid, Sie zu stören, aber es wäre gut, wenn wir so bald wie möglich miteinander reden könnten. Außerdem muss ich Ihnen mitteilen, dass Per Bergdal heute Morgen vorläufig festgenommen worden ist. Kann ich nach dem Mittagessen zu Ihnen kommen?«
Emma erstarrte. Per festgenommen. Das konnte doch nicht wahr sein. Die Polizei weiß offenbar über den Streit Bescheid, dachte sie.
»Warum ist er festgenommen worden?«
»Aus mehreren Gründen, die ich Ihnen später erklären kann.«
Schockiert und verwirrt, wie sie war, wollte sie keinen Polizisten in ihre private Höhle lassen. Da war es schon besser, den Kommissar auf neutralem Boden zu treffen.
»Könnte ich auf die Wache kommen? Gegen zwei?«
»Das wäre hervorragend. Wie gesagt, es tut mir Leid, Sie stören zu müssen, aber die Sache ist wirklich wichtig«, sagte Knutas noch einmal.
»Ist schon gut«, erwiderte sie tonlos.
Knutas trank einen Schluck Kaffee aus seinem Becher, den das Emblem des Fußballvereins AIK schmückte. Der Becher war ein Geschenk von seinem Bruder. Erik Sohlman, der schon als Fan der Konkurrenzmannschaft Djurgården geboren worden war, ärgerte sich immer schrecklich über diesen Anblick.
Knutas schaute auf die Wanduhr. Viertel vor zwölf. Sein Magen knurrte. Er hatte zu wenig geschlafen, und das musste er immer mit Essen ausgleichen. Bald war endlich Mittagszeit.
Das Ermittlungsteam traf sich, um die bisherigen Ergebnisse zusammenzufassen. Auch der Oberstaatsanwalt war anwesend.
Im Zimmer war es heiß und stickig. Wittberg öffnete das Fenster, das auf den polizeieigenen Parkplatz blickte. Die Sonnenstrahlen spielten zwischen dem hellgrünen Laub der Bäume. Ein Lastwagen voller gut gelaunter Abiturienten mit weißen Studentenmützen fuhr durch die Birkegatan. Schulschluss und Nationalfeiertag. Und hier saßen sie und redeten über den vielleicht schlimmsten Mord, der je auf Gotland passiert war.
»Wir sind hier, um den letzten Stand der Dinge zusammenzufassen«, begann Knutas. »Helena Hillerström wurde gestern irgendwann zwischen 8 Uhr 30 und 12 Uhr 30 ermordet. Schuhabdrücke, Blut und Schleifspuren am Strand zeigen, dass der Mord bei Gustavs geschehen ist. Der Leichnam wurde also nicht von anderswo dorthin gebracht. Aus dem vorläufigen Bericht der Gerichtsmedizin geht hervor, dass Helena Hillerström durch heftige Schläge auf den Kopf getötet wurde. Die gerichtsmedizinische Untersuchung hat bestätigt, dass es sich bei der Tatwaffe aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Axt handelt. Auch der Rumpf weist mehrere entsprechende Wunden auf. Ob sie vergewaltigt worden ist, wissen wir noch nicht. Äußere Zeichen, die auf sexuelle Gewalt hinweisen, gibt es nicht. Auch wurden keine Verletzungen der Geschlechtsorgane festgestellt. Der Leichnam wird gerade zur Gerichtsmedizin in Solna gebracht. Es kann zwei Tage dauern, ehe wir mit einem vorläufigen Obduktionsergebnis rechnen können. Die Unterhose ist zur Analyse ans SKL geschickt worden. Weder am Körper noch in der Unterhose der Toten sind bisher Spermaspuren gefunden worden. Wir werden ja sehen, was bei der weiteren Analyse herauskommt. Ihre übrigen Kleidungsstücke wurden noch nicht gefunden.«
»Und die Mordwaffe?«, fragte Wittberg.
»Die haben wir auch noch nicht«, meldete Sohlman sich zu Wort. »Wir haben die Umgebung des Tatorts durchkämmt. Aber da haben wir nur ein paar Kippen gefunden, die wir ebenfalls ans SKL geschickt haben. Wir haben mit den Anwohnern gesprochen, aber niemand hat etwas gehört oder gesehen. Bisher haben wir keinerlei brauchbare Spuren.«
Sohlman erhob sich. Mühsam faltete er eine Karte auseinander und befestigte sie an der Wand. Sie zeigte den Strand bei Gustavs und seine Umgebung. Sohlman wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn und deutete auf den Fundort.
»Hier wurde der Leichnam entdeckt. Die Spuren zeigen, dass Helena Hillerström einmal den Strand hoch und runter gelaufen ist. Am einen Ende des Strandes, an Helenas Ausgangspunkt, ist das Gras platt getreten. Da scheint er auf sie gewartet zu haben. Er kann gewusst haben, welchen Weg sie nehmen würde, und hat sie eingeholt. Vermutlich hat er sie dort ermordet. Die Blutflecken auf dem Boden weisen darauf hin. Und danach hat er den Leichnam ins Wäldchen geschleift.«
»Und der Hund?«, fragte Karin Jacobsson.
»Den musste er wohl zuerst aus dem Weg schaffen. Per Bergdal bezeichnet ihn als aufmerksamen und gehorsamen Wachhund, der sich immer in der Nähe seiner Herrin aufhielt und bereit war, sie zu verteidigen. Der Mörder hat ihn nicht nur fast geköpft, sondern ihm auch eine Pfote abgehackt. Ich wüsste gern, warum.«
Die anderen rutschten unruhig hin und her. Karin schnitt eine Grimasse.
»Wer wusste, dass sie sich auf der Insel aufhielt?«, fragte Norrby.
»Das müssen so um die dreißig Personen sein, wenn ich richtig gezählt habe«, sagte Karin und blätterte in ihren Papieren. »Ihre Familie, Arbeitskollegen und einige Bekannte in Stockholm, ihre Freundin Emma Winarve, die nächsten Nachbarn und natürlich die Partygäste.«
»Warum glauben wir, dass es Per Bergdal gewesen sein könnte?« Wittberg drehte sich zum Oberstaatsanwalt um.
»Belastend für ihn ist die Tatsache, dass er sie als Letzter lebend gesehen hat, und dass sie in der Nacht vor dem Mord handgreiflich aneinander geraten sind. Ich sehe ja ein, dass wir im Moment noch nicht genug haben. Um ihn in U-Haft stecken zu können, brauche ich noch mehr. Wenn ihr keine neuen Beweise bringen könnt, müssen wir ihn auf freien Fuß setzen. Ihr habt maximal drei Tage.«
»Was wissen wir über Helena?«, fragte Karin. »Wie hat sie gelebt?«
Knutas schaute in sein Notizbuch.
»Sie