Black*Out. Andreas Eschbach

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Black*Out - Andreas Eschbach


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Prothesen bestimmt waren – Menschen, denen ein Arm fehlte oder ein Bein, entweder das ganze Bein oder der Unterschenkel vom Knie abwärts, Menschen, deren Gesichter verstümmelt waren von schrecklichen Wunden.

      Sein Großvater hatte Christopher nie die Schicksale dieser Leute verschwiegen. Manchmal waren Krankheiten schuld daran, dass Menschen Gliedmaßen oder andere Teile ihres Körpers einbüßten, meistens aber waren Unfälle die Ursache, und durchaus nicht irgendwelche. Es gab ein Wort dafür, das sich Christopher schon als kleines Kind tief eingeprägt hatte: Landminen.

      »Wir Menschen«, hatte sein Großvater immer gesagt, und sein buschiger Oberlippenbart hatte dabei voller Empörung gewippt, »haben viele schreckliche Dinge erfunden, aber Landminen gehören bestimmt zu den allerschrecklichsten.«

      Und dann hatte er von Splitterminen und Tellerminen erzählt, von Ländern wie Kambodscha und Afghanistan, in denen Millionen dieser Selbstschussanlagen irgendwo versteckt in der Erde lagen und nicht zwischen Krieg und Frieden, zwischen Freund und Feind unterschieden; zwischen spielendem Kind und bewaffnetem Soldat. Er berichtete von Millionen unschuldiger Opfer und den vergeblichen Bemühungen der UNO und zahlreicher Hilfsorganisationen, der Lage Herr zu werden.

      Christophers Großvater war oft für die Bundeswehr in diesen Ländern unterwegs gewesen, es kam aber auch vor, dass Landminenopfer, die in Deutschland Asyl beantragt hatten, zu ihm in die Werkstatt gebracht wurden, um genau vermessen zu werden, und später noch einmal, damit er ihnen das neue, künstliche Körperteil anpasste. Das waren Menschen gewesen, die fremdartig ausgesehen und fremde Sprachen gesprochen hatten, so fremd, dass sie oft von einem Übersetzer begleitet werden mussten, obwohl Großvater viele Sprachen verstand.

      Wenn Kinder kamen, die englisch sprachen, bat sein Großvater Christopher oft in die Werkstatt, um ihnen die Angst zu nehmen. Christopher war zweisprachig aufgewachsen, sein Vater war Engländer und hatte mit ihm zeit seines Lebens nur englisch gesprochen. Als Christopher noch sehr klein gewesen war, hatte er gemeint, jeder Mensch habe seine eigene Sprache; es war ihm lange seltsam vorgekommen, dass noch andere Leute die Sprache seiner Mutter verwendeten.

      Nicht alle der Kinder, die von seinem Großvater ein neues Bein oder eine neue Hand angepasst bekamen, waren darüber unglücklich. Christopher erinnerte sich an einen Jungen aus Somalia namens Pali, der ungeheuer stolz auf seine künstliche linke Hand gewesen war. Er meinte, sie sei viel besser als eine normale. Er lud Christopher ein, ihn in dem Heim zu besuchen, in dem er zusammen mit anderen Kindern aus aller Welt wohnte, und dort übten sie gemeinsam, Bälle zu werfen, kleine und große.

      Großvater ärgerte sich über Palis Begeisterung. »Eine künstliche Hand wird niemals auch nur genauso gut sein wie die echte, ganz zu schweigen davon, dass sie besser sein könnte«, erklärte er. Er war zwar stolz auf seine Arbeit und durchaus davon überzeugt, die besten Prothesen der Welt zu machen, aber zufrieden – zufrieden war er niemals. Er versuchte unentwegt, immer noch bessere künstliche Gliedmaßen herzustellen, experimentierte und bastelte an der Mechanik, erprobte neue Hydraulikzylinder, andere Motoren, flexiblere Gelenke und feilte unablässig an elektronischen Steuerungen, die in seinen Augen nie genug konnten und das, was sie konnten, nicht genau genug taten.

      Geld verdiente Christophers Großvater mit seinem Beruf wenig, zumal er seine Experimente oft aus eigener Tasche finanzierte, immer in einem schier aussichtslosen Kampf gegen Krankenkassen und Behörden, die die notwendigen Mittel nicht aufbringen wollten, schon gar nicht für mittellose Flüchtlinge, deren Asyl noch nicht einmal genehmigt war. Nur zu oft vertraten sie den Standpunkt, dass einem Menschen, sobald er sich nur irgendwie wieder ohne Krücken fortbewegen konnte, bereits geholfen war.

      Und so hatten Christophers Großeltern nie viel Geld. Ihr einziger wertvoller Besitz war das große Haus in einem der besten Viertel Frankfurts, doch dort fiel es dadurch unangenehm auf, dass es nach und nach verfiel, weil es am Geld für nötige Reparaturen mangelte.

      Christophers Großmutter war Malerin. Oder besser gesagt: Sie malte, verkaufte aber so gut wie nie etwas, und wenn, dann nicht für nennenswert viel. Sie hatte ein weitläufiges, lichterfülltes Studio im Erdgeschoss gegenüber der Werkstatt, von dem aus es in den Garten ging. Sie malte ausschließlich Blumen und Vögel, und von beidem hatte der verwilderte Garten mehr als genug zu bieten.

      Christopher hatte auch viel Zeit bei ihr und ihren riesigen, nach Farbe duftenden Leinwänden verbracht und ihr dabei zugesehen, wie sie mit sachten, hingebungsvollen Pinselstrichen malte. In diesen Momenten war sie ihm immer, trotz ihres farbverschmierten Kittels, wie eine feine Dame vorgekommen, und dass es sich nicht gehört hätte, sie zu stören oder auch nur mit einer Frage zu unterbrechen, war die selbstverständlichste Sache der Welt gewesen.

      Einige Male hatte sie ihre Werke in Ausstellungen gezeigt, sich aber oft einfach nicht von Bildern trennen können. Es war ihr immer nur ums Malen gegangen, nicht darum, Geld zu verdienen.

      Christophers Mutter war ganz anders als ihre Eltern. Vielleicht lag es an dem Umfeld, in dem sie aufgewachsen war, aber für sie war Geld so wichtig, dass sie es zu ihrem Beruf machte. Sie absolvierte eine Banklehre, studierte später Finanzwirtschaft und war, als sie den Mann kennenlernte, der Christophers Vater werden sollte, eine der wenigen Frauen im Devisenhandel des großen Frankfurter Bankhauses, in dessen Computerabteilung er zu der Zeit arbeitete.

      Deswegen blieb, sobald Christopher auf der Welt war, sein Vater zu Hause, um sich um ihn zu kümmern. Als Christopher etwas größer war, gründete sein Vater eine eigene kleine Softwarefirma, die er von zu Hause aus betreiben konnte, und wenn er einmal zu Kunden musste – was nicht allzu oft vorkam, denn so richtig gut lief seine Firma nie –, waren die Großeltern immer verfügbar, um auf ihn aufzupassen. Und ab und zu ließen sie sich auch das nötige Geld aufdrängen, um das Dach der alten Villa abdichten und den Zaun erneuern zu lassen. Nur der Garten blieb so wild, wie er geworden war.

      Christopher wuchs mit Computern auf. Dass er das Programmieren sehr früh lernen würde, war absehbar gewesen. Dass er allerdings schon mit acht Jahren besser programmierte als sein Vater, dass er die Fehler in dessen Programmen zu finden und Routinen mit Zugriff auf das Betriebssystem zu schreiben imstande sein würde – Funktionen, die so komplex waren, dass James Kidd Schwierigkeiten hatte zu verstehen, was sein Sohn da machte –, das war nicht unbedingt vorhersehbar gewesen. Aber es erwies sich bald als recht nützlich.

      Und Spaß machte es auch. Großen Spaß sogar.

      So hatten die ersten vierzehn Jahre von Christophers Leben ausgesehen: das reinste Paradies auf Erden.

      Bis das Unglück über die Familie Raumeister-Kidd hereinbrach.

      Es begann damit, dass Großmutter erblindete.

      »Also, ehrlich gesagt«, meinte Kyle an dieser Stelle, »wenn mich jetzt jemand fragen würde, was das alles mit abstürzenden Hubschraubern zu tun hat, wüsste ich keine Antwort. Aber mal so richtig gar keine.«

      »Das kommt gleich«, erwiderte Christopher. »Ich habe doch gesagt, es ist eine lange Geschichte.«

      8

      Die Blindheit von Christophers Großmutter kam nicht schlagartig; sie begann schleichend, beinahe unauffällig, verschlimmerte sich dann aber unaufhaltsam weiter in einer Weise, dass man das Gefühl bekam, den Zeitpunkt, an dem sie endgültig nichts mehr sehen würde, auf den Tag genau vorherberechnen zu können.

      Die Krankheit hatte einen komplizierten lateinischen Namen, galt als sehr selten, und über Fälle von Heilung war nichts bekannt. Es begann mit blinden Flecken, Stellen in ihrem Gesichtsfeld, die wie ausgeblendet, wie verschwunden waren – nicht Flecken von Schwärze, sondern von Nichts, so, als würde an diesen Stellen die Welt nicht existieren –, und diese Flecken wurden immer zahlreicher und größer. Man versuchte allerhand Therapien und Operationen, aber nichts half.

      Das deprimierte Christophers Großmutter maßlos und erbitterte seinen Großvater ebenso sehr. »Wenn sie ihre Hand verloren hätte«, erklärte er Christopher eines Tages, »dann könnte ich ihr wenigstens eine neue machen. Ich würde ihr die beste künstliche Hand aller Zeiten machen, das kannst du mir glauben; ein Wunderwerk würde ich bauen, wie es die Welt noch nicht gesehen hat. Aber wenn sie ihr Augenlicht verliert… Was


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