Nordwestpassage. Roald Amundsen
Читать онлайн книгу.voll des herrlichsten Trinkwassers, ja wir erlaubten uns sogar den Luxus, uns in Süßwasser zu waschen und zu baden.
Am dreizehnten August morgens halb drei Uhr stand ich schaudernd und frierend am Steuer – nachdem ich um zwei Uhr abgelöst hatte. Als Polarfahrer sollte ich das vielleicht nicht gestehen, aber ich fror nun eben doch. Meine beiden Wachkameraden gingen auf dem Deck umher und versuchten sich warmzuhalten, so gut es ging. Der Nebel senkte sich herab und machte alles, womit er in Berührung kam, tropfnass. Im Ganzen war es zu so früher Morgenstunde ein recht miserables Dasein. Die abgelöste Wache saß jetzt drunten bei einem dampfend heißen Kaffee – den sie nach einer sechsstündigen Anstrengung wohlverdient hatte.
Plötzlich drang ein Lichtschein durch den Nebel. Und wie mit einem Zauberschlag öffnete sich vor mir eine weite Aussicht in strahlende Tageshelle hinein; gerade vor uns – und anscheinend ganz nahe – lag die wild zerrissene Landschaft von Kap York, die bei ihrem plötzlichen Auftauchen wie ein verlockendes Märchenland erschien.
Wir schrien alle laut auf vor Entzücken und Verwunderung. Die Freiwache ließ ihren Kaffee stehen und bald standen wir alle miteinander in stiller, hingerissener Beschauung da. Der Morgen war so glänzend, so übernatürlich klar, dass wir meinten, wir müssten Kap York in ein paar Stunden erreichen können. Und es war doch vierzig Seemeilen entfernt. Im Osten lag das ganze Innere der Melville-Bucht vor uns. Ganz drinnen in der Tiefe konnten wir einzelne hohe Felsengipfel sehen. Eine undurchdringliche Eismasse füllte die Bucht, mächtige Eisgebirge ragten da und dort aus der Masse heraus.
Als wir uns endlich umwendeten, lag der Nebel, aus dem wir plötzlich entschlüpft waren, dicht wie eine Mauer hinter uns.
Das war eines der Wunder, die man nur im Reich des Eises erlebt; sie bleiben einem unvergesslich und üben einen solchen Zauber, dass man sich danach sehnt und sich dahin zurückwünscht – trotz aller Entbehrungen und aller Mühe.
Die Eisverhältnisse unserer Kursrichtung sahen vielversprechend aus. Allerdings lag noch etwas Eis luvwärts, aber wir achteten weiter nicht darauf. An demselben Tag, gerade um Mittag, schloss sich das Eis zusammen, sodass nur eine ganz kleine Rinne gegen Norden blieb. Wir waren da noch fünfundzwanzig Seemeilen vom Kap York entfernt. Doch das Eis vor uns wurde wieder weicher – wie wenn sich der Weg vor uns ebnete – und um fünf Uhr nachmittags erreichten wir die feste Eiskante von Kap York. Wir fuhren diese eine Strecke entlang mit Kurs auf Kap Dudley Digges. Da der Nebel sich nun wieder einstellte, legten wir am Eis an, um zu warten, bis er sich lichte. Zwei von unseren Jägern benützten die Gelegenheit; sie nahmen ein Boot und machten Jagd auf Krabbentaucher. Nach ein paar Stunden kehrten sie mit so viel Vögeln zurück, dass es für eine Mahlzeit reichte. Sie schmeckten wie die delikatesten Krammetsvögel – und es ist merkwürdig, wie esslüstern man auf so einer Eismeerfahrt wird!
Beim Quartierwechsel am nächsten Morgen klärte sich das Wetter auf. Die nächsten Umgebungen waren dicht mit Eis bepackt. Dagegen erstreckte sich eine Seemeile südwärts eine große, breite Wake, und so ungern ich zurückfuhr, fand ich das hier doch am ratsamsten. Nach vieler Mühe gelangten wir in die Wake. Diese öffnete sich nach Westen weiter und weiter: Es war nicht daran zu zweifeln, dass sie in offenes Wasser hinausführte. Um halb vier Uhr waren wir dann auch in eisfreiem Meer.
Die Melville-Bucht war besiegt. Wir hatten allen Grund, vergnügt zu sein. Diese Meeresstrecke hatte immer als der schwierigste Teil der ganzen Nordwestpassage vor mir gestanden – das heißt, mit so einem kleinen Schiff wie dem unseren. Und jetzt waren wir ohne Missgeschick hindurchgekommen.
Am fünfzehnten August nachmittags vier Uhr erreichten wir Dalrymple Rock, wo die Kapitäne der schottischen Walfischfänger, die Herren Milne und Adams, ein bedeutendes Depot für uns errichtet hatten. Dalrymple Rock ist nach den Beschreibungen leicht zu erkennen; er steigt in Kegelform jäh aus dem Meer auf. Wenn man wie wir von der Ostseite von Wolstenholme kommt, erblickt man zuerst eine andere im Norden vorgelagerte Insel. Dies ist die Eidervogelinsel. Auf dieser Insel und auf Dalrymple Rock sammeln die Eskimos jedes Jahr eine Menge Eier.
»Zwei Kajaks voraus!«, brüllte plötzlich der Mann im Mastkorb.
In einem Nu waren alle Mann auf Deck. Ich ließ die Maschinen halten und die Kajaks wurden an Bord genommen. Wir waren sehr begierig, diese nordgrönländischen Eskimos, von denen man sich wunderliche Dinge erzählt, kennenzulernen. Es waren recht gut aussehende Männer. Ihre Kleidung erschien uns freilich im Anfang etwas auffallend; einen ungeheuren Jubel erregte es besonders, als einer von ihnen sich bückte, um ein Messer aufzuheben, das ihm entfallen war, und dabei einen großen Teil seiner Sitzgelegenheit entblößte. Eine feine Art, sich zu verbeugen! Sie waren überaus lebhaft, schrien durcheinander, fochten und gestikulierten mit den Armen. Sie hatten uns offenbar etwas ganz Besonderes zu berichten. Aber wir verstanden ja natürlich keinen Deut davon. Da verzog endlich der eine plötzlich seinen Mund zu einem breiten Grinsen und sagte: »Mylius!«
Und damit ging uns ein Licht auf. Nun errieten wir, was er meinte. Die so genannte dänische literarische Grönlandexpedition unter Mylius Erichsen musste in der Nähe sein. Nach dem, was wir über sie wussten, hatten wir sie unter den Eskimos bei Kap York vermutet.
Kaum war der Name ausgesprochen, da ertönte hinter einem hohen Eiskoloss hervor lautes Schießen und Knallen wie bei einer wirklichen Schlacht, und von dorther kamen blitzschnell sechs Kajaks gefahren. Einer war mit einer kleinen norwegischen Flagge geschmückt und ein anderer mit einer dänischen. Das war in Wahrheit eine frohe Überraschung!
Bald hatten wir den Führer der Expedition, Herrn Mylius Erichsen, und einen der Teilnehmer, Herrn Knut Rasmussen, sowie vier Eskimos an Bord. Sie wurden aufs Freundlichste begrüßt und ausgefragt. Fragen und Antworten klangen in froher Verwirrung durcheinander, und es dauerte eine gute Weile, bis wir uns beiderseitig so weit beruhigten, dass wir einander ordentlich Rede stehen konnten. Unsere größte Sorge galt dem Depot, und zu unserer ungeheuren Erleichterung erfuhren wir, dass es in schönster Ordnung sei.
Abends um sieben Uhr erreichten wir Dalrymple Rock. Es ist kein Hafen auf der kleinen Insel; wir lagen also ohne jeglichen Schutz da. Ich fuhr indes sogleich mit Lund ans Land, um das Depot in Augenschein zu nehmen und zu entscheiden, wie die Überführung an Bord bewerkstelligt werden sollte. Herr Mylius Erichsen übergab mir einen Brief von den Herren Milne und Adams, worin sie uns alles Glück auf die Reise wünschten. Ich kann diesen beiden Herren nicht genug danken für die Bereitwilligkeit, mit der sie die langweilige Arbeit auf sich genommen hatten, und für die Sorgfalt, womit alles ausgeführt worden war.
Das Depot lag zwischen großen Steinen auf einer Halde und war von allen Seiten mit Stacheldraht umgeben. Am Fuß des Hügels erstreckte sich eine alte Eisrampe ins Meer hinaus, die einen ausgezeichneten natürlichen Kai bildete. Wir beschlossen daher, unseren Ausladebaum als Kran auf dem Kai aufzurichten und mithilfe von diesem die Kisten, nachdem wir sie auf Schlitten dorthin gefahren hätten, direkt ins Boot hineinzubefördern. Um keinen zu weiten Boottransport zu haben, brachte ich die Gjöa so nahe wie möglich ans Land und verankerte sie da. Ich gebe zu, dass dies an einer offenen Küste unvorsichtig war, aber für uns war es sehr wichtig, bald fertig zu werden, um weiterreisen zu können. Wir schickten also einen Prahm an Land, um den dritten Teilnehmer der Expedition, Graf Moltke, der krank war, zu holen.
Ein eiliges Abendessen war bald eingenommen und um zehn Uhr machten wir uns an die Arbeit. Leutnant Hansen blieb an Bord, um da die Aufsicht zu führen. Ich selbst übernahm unter dem liebenswürdigen Beistand unserer dänischen Gäste und einiger Eskimos die Arbeit am Land. Hansen sollte die Kisten herbeischaffen und Lund sie an Bord heben. Das ganze Depot – hundertfünf Kisten – musste als Decklast verstaut werden. Währenddessen wurde von Ristvedt und Wiik der Motor gereinigt und geputzt.
Morgens um zwei Uhr gönnten wir uns Rast bei einer Tasse Kaffee, die wir wohlverdient hatten. Die Kisten wogen durchschnittlich ihre hundertdreißig Kilogramm und waren also kein Kinderspielzeug. Um halb drei Uhr gesellte sich zu meiner großen Freude Graf Moltke zu uns. Nach dem Kaffee begannen wir mit neuem Eifer. Ich wurde nun von vier Eskimos unterstützt. Es ist so viel darüber geschrieben worden, dass die Eskimos faul und unwillig und überhaupt im Besitz aller schlechten Eigenschaften der Welt seien; aber all dieses passte jedenfalls auf meine vier Gehilfen nicht. Sie handhabten unsere Kisten,