Das Auge des Feinschmeckers. Frank Winter
Читать онлайн книгу.Schotten zu Hause oder im Pub, und wer außer ihm dachte an die armen Familien der Busfahrer? Angetan von seiner karitativen Ader, beförderte er das nötige Kleingeld aus der Hosentasche und kullerte es in die Box. Der Bus verströmte den vertrauten Geruch nach Gummi. Er faltete die Hände vor dem mächtigen Bauch, glücklich wie ein Mönch, der gerade zum Wohle des Herrn einen Hektoliter süffigen Bieres gebraut hat. Zu seinem Bedauern endete die Fahrt schon nach wenigen Minuten. MacDonald lebte in Dean Village, einem Stadtteil mit dörflichem Charakter. Von seinem Haus aus verfügte er über einen bezaubernden Blick auf Water of Leith, jenes schmale Flüsschen, das sich mit erstaunlicher Beharrlichkeit durch die Stadt schlängelte. Kollegen vom Kontinent glaubten MacDonald nicht so recht, dass man hier auf dem Lande leben und dennoch in fünf Minuten zur Innenstadt gelangen konnte. Fast alle Nachbarn hatten sich bereits ins Reich der Träume begeben. Nur die Musikstudentin schräg gegenüber war wach. Sie musste wohl am nächsten Tag eine Prüfung haben, denn nur dann übte sie so spät noch. Er wurde überschwänglich begrüßt von seinem Mitbewohner Robert the Bruce . Der fuchsrote, nicht unkluge Kater erhoffte sich durch seine Courtoisie ein Dessert für die Nacht, sozusagen als Anerkennung für die kleine Maus mit den spitzen Zähnen, die er in den Flur gelegt und welche offensichtlich schon Stunden zuvor zum letzten Mal gequiekt hatte. Sein Herrchen verwarf diese Interpretation, sodass selbst überlautes Brummen keinen Erfolg zeitigte. MacDonald zog es vor, schnurstracks zu seiner Bar zu wandeln, um sich einen geeigneten Schlummertrunk zu genehmigen. Unerfreulicherweise musste er feststellen, dass Mister Talisker mit vollem Körper der Flasche entwichen war. Die Vorbereitung für seine neue Fernsehserie hatte eine gute Menge an Treibstoff gefordert. Weil er kein Verlangen spürte, Wasser des Lebens zu trinken, das weniger oder mehr nach Torf schmeckte als dieser Scotch, goss er sich zum Wohle seiner Leber sowie seines Zahnarztes ein Milchglas randvoll mit Irn Bru ein, unsicher, ob er damit nicht einen eklatanten Regelbruch beging, denn die Limonade, welche ihn leuchtend und blubbernd zum Trinken lockte, wurde in der Regel als Kater-Kur am Morgen danach eingesetzt. Angenehm prickelte die süß-orange Essenz im Mund. Mit einer zweiten Füllung nahm er vor dem Fernseher Platz. Robert folgte ihm, zog es aber vor, sich auf den Boden zu legen. Als natürlicher Begleiter des zuckersüßen Getränks bewährte sich immer wieder ein Shortbread von Jenners. MacDonald schob einen der Butterkekse in den Mund und kaute genüsslich. Was war das nur für ein eigentümliches Fleisch gewesen heute Abend! Ganz und gar nicht einzuordnen. Mit freundlicher Unterstützung des besten Fernsehens der Welt, gemeinhin als BBC bekannt, fand er schon nach einer Viertelstunde zu Träumen, die ihm ganz und gar nicht behagten. Alpdrücke von skurrilen Tieren, die über eine Klippe getrieben wurden und in einem gewaltigen Kessel landeten.
»Ich kann mich nicht mehr darüber wundern, dass die Edinburgher zu poetischer Schwärmerei neigen. Gestern schweifte ich über Brücken und durch Calton Hill in einer verzauberten Stimmung. Ich habe währenddessen kein einziges öffentliches Gebäude besucht, sondern mich nur voller Staunen und Schwärmerei der romantischen Szenerie hingegeben.«
Washington Irving, Historiker und Schriftsteller, 1817
Das Unglück beginnt
Gegen zehn Uhr geruhte MacDonald aufzuwachen. Er reckte sich wie ein Murmeltier nach dem Winterschlaf, während der Fernseher weiter vor sich hinplapperte. Mit der Fernbedienung entzog er der Wetterfee die nötige Energie für ihre Prognose. Empört klappte sie den Mund zu. Der Sessel kommentierte das aus dem Grund seines hölzernen Gestells mit menschlichem Ächzen. Das Modell Churchill hatte er noch in seiner Studentenzeit gekauft und sich trotz dessen offensichtlicher Altersschwäche nie von ihm trennen können, denn wahre Liebe hielt sich nicht mit Äußerlichkeiten auf. Er streichelte die rechte Lehne des ehemaligen Premiers und dachte an seine Jugend, die sich aus finanziellen Erwägungen heraus kulinarisch bescheiden gestaltet hatte. Die Woche über hatte er sich wie ein Asket ernährt, um am Sonntag vom ersparten Geld in einem guten Restaurant ein Schlemmermahl zu sich zu nehmen. Einen Anfall von Schwermut, der sich spontan formierte, verscheuchte er mit lautem Händeklatschen. In der Küche würde er sich nach dem gestrigen Dinnerschreck ein passables Frühstück bereiten. Darunter verstand er Porridge, zwei Spiegeleier, vier Scheiben Schinken, feine Pilze, ein gegrilltes Tomätchen, Würstchen, Baked Beans und Black Pudding. Großzügig hievte er gesalzene Butter in eine Pfanne und beobachtete, wie sich die Enden des Schinkens unter dem Einfluss der blaugelben Gasflamme zu krümmen begannen. Zufrieden mit dem Garzustand, nahm er die Scheibchen aus der Pfanne und hielt sie im Backofen warm. Getreu den Weisungen seiner verstorbenen Mutter ließ er die Pfanne kurz abkühlen, um dann die Eier zu braten. Kochen lernte er vor dem Sprechen. Als Topf, Pfanne und Bratenwender noch auf der Höhe seiner Augen lagen, wurde er mit den Mysterien der guten Küche vertraut gemacht. Seine Mum zeichnete das potenzielle Verhängnis mit dem Finger in die Luft. »Angus, es ist ganz einfach. Wenn du die Eier in eine zu warme Pfanne gibst, dann brennt das Eiweiß an und wird sofort zäh. Brätst du aber den Toast, hat die Butter so heiß wie möglich zu sein, denn sonst saugt das Weißbrot sie zu schnell auf! Kannst du mir folgen?« Klein-Angus bewegte eifrig den Kopf von oben nach unten, denn mit dem Essen verstand Mrs MacDonald keinen Spaß. Ohne ihre Hilfe wäre es ihm niemals gelungen, eine Karriere als Journalist einzuschlagen. Als er genüsslich in eine Ecke des Dreispitztoastes biss, ärgerte er sich wieder über das eigentümliche Fleisch, das man ihm am Abend zuvor serviert hatte. Eilig beendete er sein Breakfast und erklomm die Treppe. Die Bibliothek im oberen Stockwerk beherbergte gut 5.000 Bücher. Wie viele es genau waren, wusste niemand, am allerwenigsten der Besitzer. Nach der Küche war sie ihm der zweitliebste Platz auf der Welt. Die Hälfte der Werke widmete sich Essen und Trinken. Im Laufe der Jahre hatte er Kochbücher, Weinbücher, Bierbücher, gewichtige Lexika und beleibte Anthologien versammelt. Von jedem Land der Erde fand sich mindestens eine Rezeptsammlung. Inmitten seiner papiernen Freunde konnte er vorzüglich entspannen, aber auch arbeiten. Um von der Außenwelt nicht abgelenkt zu werden, zog er die schweren Vorhänge zu und spannte einen Bogen hellgelbes Papier in seine Schreibmaschine, die mehr Jahre auf dem Buckel hatte als er. Sie benutzte er ausschließlich für fürchterliche Verrisse, denn die Tasten seines Computers hätten den hämmernden Fingern kaum Paroli bieten können. Das Grauen nistete noch so frisch in Gehirn und Magen, dass es ihm überaus leicht fiel, die Restaurant-Kritik für den »Scotsman« zu Papier zu bringen. »Schlimmer als jede Polizei erlaubt« lautete die Headline. »Edinburgh hat eine furiose Folterkammer bekommen. Das Kabinett des Grauens nennt sich ›Welcome to TexMex‹ und gibt vor, mexikanische Küche zu servieren. Nie hat sich ein Anspruch so weit von der Realität entfernt wie in diesem Fall. Wenn Sie jemals vorhatten, Ihren Gaumen mit etwas wirklich Außergewöhnlichem zu verwöhnen, dann sind Sie hier fehl am Platz. Alles, was Sie erhalten, ist ein vergraulter Magen. Geben Sie lieber Senf auf ihre Fish and Chips. Das verspricht und hält mehr, als es diese Stätte der Ungastlichkeit je tun wird. Ich bin gestern Abend noch einmal lebend davongekommen. Falls Sie mir nicht glauben und sich dennoch in diesem sogenannten Restaurant einfinden, dann probieren Sie bitte weder die fettigen Pilze noch das Alabama Fried Steak, das einen abartigen Fleischgeschmack bietet. Derartig miserabel wurde ich noch an keinem Ort der Erde behandelt, und ich habe schon an unzähligen Plätzen gespeist. Hier ist tatsächlich alles misslungen, das Personal eingeschlossen.« MacDonald zog den Bogen aus der Maschine und schwelgte in süßen Erinnerungen. Wie exquisit hatte er bei seinem Aufenthalt in Mexiko gespeist: cremige Maissuppe, Fisch in vielerlei Variationen und nicht zu vergessen der Mandelmilchpudding aus Morelos, eine Köstlichkeit, die er sich in der Zwischenzeit schon häufig kredenzt hatte. Das Leben konnte so herzhaft sein, wenn sich die Köche und Sauciers nur ein bisschen Mühe gaben. »Töpfe und Pfannen aller Länder, vereinigt euch gegen miserables Essen!« Mit energischen Ausrufezeichen beendete er seinen Artikel. Der erste Schritt zur Verbrechensbekämpfung war getan. Eher früher als später würde er nun herausfinden, was es mit dem so genannten Fleisch beim Pseudo-Mexikaner auf sich hatte.
»Ich bin, was ich immer gewesen bin, ein Schotte, vielleicht ein bisschen introspektiv. Ich erzähle keine Lügen und bin aufrecht.«
Sean Connery, Schauspieler
James Bond lässt grüßen
Die dunklen Häuser des Stadtteils Fountainbridge