Das Auge des Feinschmeckers. Frank Winter

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Das Auge des Feinschmeckers - Frank Winter


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du das wissen? Du liest doch höchstens die Überschriften.«

      »Genügt völlig.«

      »Und doch ist dein bester Freund Journalist.«

      »Erstens schreibt er nicht über Mord und Totschlag, sondern über la cucina. Und zweitens sehe ich es kommen, dass ich dem Herrn auch dieses Mal wieder aus der Patsche helfen muss.«

      »Solange du dich nur aus der Schusslinie hältst.«

      Alberto legte die Hand auf die Brust. »Keine Sorge, so schnell mache ich dich nicht zur Witwe.«

      »Das hast du das letzte Mal auch gesagt.«

      »Nun? Steht etwa ein Geist vor dir?« In Wahrheit musste er sich zu Hause mehr fürchten als auf der Straße, so viele Kriminalgeschichten las seine Gattin. Weil sie früher oder später auf dumme Ideen kommen könnte, schlief er bereits mit einem offenen Auge.

       »Ein Intellektueller ist für mich jemand, der die Ouvertüre zu Wilhelm Tell anhören kann, ohne dabei an den ›Lone Ranger‹ zu denken.«

      Billy Connolly, Kabarettist und Schauspieler aus Glasgow

      Herr Doktor / Frau Doktor

      Heute stand er an, der mehrfach verschobene Besuch bei seinem Arzt. Den letzten Anruf der Sprechstundenhilfe hatte er mit der lapidaren Äußerung »Ja, selbstverständlich, ich komme auf jeden Fall, selbst wenn der Primeur in den nächsten zwei Stunden ausgeliefert wird« beantwortet. »Nein, Primeur, nicht Premier!« MacDonald befand sich seit Jahren in Behandlung wegen eines mutmaßlichen Übergewichts, das sich aus geheimnisvollen Gründen nicht in den Griff kriegen ließ. Und das, obwohl er bereits beim Anblick seines Trimmrades im Schlafzimmer Schweißfontänen vergoss. Er bewunderte das blaue Harris Tweed-Jackett, das sich seinem Oberkörper gefällig anschmiegte. Wie nach der Einnahme einer Wunderdroge kehrte die gute Laune in seinen Leib zurück. Zwei Dutzend der sündhaft teuren, handgewebten Werke, die nicht zufällig Namen trugen wie Gemälde – Hebridean Blue, Autumn Gold, Heather Green oder Oatmeal –, besaß er. Alle nebeneinander gelegt hätten einen wunderschönen Regenbogen ergeben und wären einer Ausstellung würdig gewesen. Kritische Kommentare von Freunden schmetterte er, sich seiner Sünde ein bisschen bewusst, ungefällig ab: »Was soll das heißen, zu teuer? Essen muss ich beruflich. Golf ist mein einziges Hobby. Da wird nebenher noch ein kleiner Spaß gestattet sein. Ist es etwa meine Schuld, dass ich ins Turnschuhzeitalter hineingeboren wurde?« Das maßangefertigte Vergnügen setzte seine eigenen Kilos zwar sehr vorteilhaft in Szene. Aber was geschah, wenn noch mehr mexikanische Restaurants in Edinburgh eröffneten und ihn mit Aushungerung bedrohten? So weit würde er es nicht kommen lassen! Er zeigte dem fragenden Spieglein ohne zu zaudern auch die rechte Schulter und entfernte graziös ein Staubflöckchen. Da ihn keine weiteren dringlichen Angelegenheiten im Haus beschäftigten, machte er sich seufzend auf den Weg. Vielleicht würde ihn der Arztbesuch ja etwas ablenken von der allzu grausigen Erinnerung. Um der lockenden Versuchung zu entgehen, drückte er, sowie seine Stammbäckerei zu erblicken war, fest die Augen zu. Die Versuchung war unerbittlich. Sie ereilte ihn in Gestalt von Mrs Patterson, die ein Werbeplakat im Schaufenster anbrachte: »Hallo, Mister MacDonald, warum so eilig? Wollen Sie nicht vielleicht unser Angebot begutachten?«, rief die freundliche Hüterin des Horts der Verführung. Es wäre ungemein unhöflich gewesen, einer netten Dame nicht zu antworten. Und Mrs Patterson war eine solche.

      »Was haben Sie denn Schönes, meine Liebe?«

      »Eine ganze Menge. Ich kann Ihnen die Chelsea Buns empfehlen. Allerdings sind die Scones heute auch wieder delikat, schauen Sie«, sagte sie und hob die süße Versuchung zum Beweis mit der Gebäck-Zange in die Luft, »sie schweben geradezu.«

      »So, tun sie das? Wie immer glaube ich Ihnen aufs Wort. Gut, dass es noch Dinge gibt im Leben, auf die man sich verlassen kann. Packen Sie mir doch bitte von beiden je vier, nein, besser fünf ein, ja?« Schuldbewusst trug er die Tüte in möglichst großem Abstand neben sich her, so als ob sie ihm jemand aufgedrängt hätte. Leider lag die Arztpraxis im zweiten Obergeschoss, in einem Haus ohne Aufzug. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte sich Treppensteigen als Disziplin für die Olympischen Spiele qualifiziert. Er versuchte, die Sprechstundenhilfe als unfreiwillige Helferin zu gewinnen und fragte sie demonstrativ laut: »Können Sie das bitte für mich aufbewahren? Es ist für meinen Wauwau.« Mrs Muir, der es keine besondere Mühe machte, die Umrisse der Kalorienbomben zu erspähen, fragte: »Sie besitzen einen Hund, Mister MacDonald. Was für eine Rasse ist es denn?«

      »Ja, äh, das ist noch nicht so recht erforscht.«

      »Jedenfalls scheint er aber ein ganz Süßer zu sein, nicht wahr?« MacDonald lief sehr rot an. Und gerade, als er wieder eine passable Gesichtsfarbe angenommen hatte, ereilte ihn der nächste Schreck. Die Tür des Sprechzimmers öffnete sich und in ihr stand eine fremde Person, bildhübsch und mit pechschwarzen Haaren, seiner Lieblingshaarfarbe bei Damen. »Mister MacDonald bitte«, sagte sie in einem Ton, der freundlich und fordernd zugleich klang und hervorragend zur kecken Nase und den Sommersprossen unter den Augen passte. »Mein Name ist Miller, Karen Miller. Ich habe die Praxis von meinem Vorgänger übernommen. Treten Sie bitte ein und nehmen Sie Platz.« Die Ärztin nahm nachdenklich die Brille vom Gesicht. Sie setzte die zarten Ellbogen auf den Tisch, verklammerte die Finger und sah zur Patientenakte auf der linken Seite des Schreibtisches. Als sie die Zahl in der Rubrik Blutdruck las, schüttelte sie heftig den Kopf, sah MacDonald bekümmert an und fragte dann: »Was wiegen Sie?«

      »Ist ein Staatsgeheimnis. Es wird Ihnen aber ein Leichtes sein, mein Volumen zu berechnen, indem Sie Grundfläche mit Höhe multiplizieren und das Ergebnis durch drei teilen.«

      »Bewegung ist das A und O.«

      »Wissen Sie, Dr. Miller, ich habe nichts gegen Ihr Alphabet, aber es scheint mir zu wenig Buchstaben zu enthalten.«

      »Sie wissen jedoch, wie ich es gemeint habe, oder?«

      »Ich fürchte ja und gelobe baldige Besserung«, antwortete er und kreuzte die Finger hinter dem Rücken.

      »Die meisten britischen Todesfälle sind auf Herz- und Kreislauferkrankungen zurückzuführen«, dozierte die Ärztin.

      »Dann habe ich ja großes Glück gehabt.«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Ich bin Schotte, kein Brite.«

      »Abgesehen davon ...«

      »Ich weiß, ich soll nichts mehr essen.«

      »... sollten Sie besonders kalorienreiche Kost meiden.«

      »Das ist ungefähr so, als ob ich Ihnen riete, den Blutdruck Ihrer Patienten nur noch zur Hälfte zu messen.«

      »Wenn Sie eines Tages tot umfallen, sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«

      »Aber nein, Frau Doktor, spätestens, wenn ich einen Schlaganfall habe und ein Jahr auf einen Krankenhausplatz warten muss, werde ich abspecken.«

      »Kann ich mich darauf verlassen?«

      »Besser nicht«, brummte MacDonald angesichts dieser schrecklichen Vorstellung. »Eine Sache wäre da noch, Frau Doktor.«

      »Ja bitte«, sagte diese erwartungsvoll.

      »Der Hinweis an der Eingangstür, soll ich den ernst nehmen?«

      »Wie meinen Sie das?«

      »Da steht: Die Toilette ist kaputt. Bitte benutzen Sie das zweite Stockwerk. Nein, Scherz beiseite. Darf ich Sie etwas sehr Persönliches fragen?«

      Dr. Miller sah mehr als interessiert aus: »Schießen Sie los.«

      »Essen Sie hin und wieder etwas?«

      »Weshalb möchten Sie das wissen?«

      »Nun, ich würde gerne eine Kleinigkeit für Sie kochen, wenn Sie einverstanden sind.«

      »Das ließe sich durchaus arrangieren. Rufen Sie mich Ende der Woche einfach einmal an, ja?«


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