Das Auge des Feinschmeckers. Frank Winter
Читать онлайн книгу.gleichermaßen zu seinem ungewohnten Wagemut und dem Überraschungserfolg: »Respekt, das hast du schön gemacht.« Hin und wieder gefiel er sich darin, an so etwas wie eine Vorsehung zu glauben. Sicher war es kein Zufall, dass diese Begegnung heute in dieser Form stattgefunden hatte. Die Aussichten waren vielversprechend. Und morgen begannen auch noch die Dreharbeiten zu seiner neuen Kochsendung. Der Regisseur traf eine Menge Leute und konnte ihm vermutlich mit seiner Mexikaner-Recherche weiterhelfen. Allerdings war Robertson immer sehr auf die Sendung konzentriert. Die Frage musste deshalb gut getarnt, wie zufällig, im Gespräch auftauchen.
»Ich stimme völlig überein ... die Kinder dieses Landes sind unser bestes und wertvollstes Rohmaterial.«
Duchess of Atholl, in einer Debatte des britischen Unterhauses, 17.12.1925
Die Qual der Wahl
»Leonard, ich sag’s dir jetzt noch ein Mal. Gutes Schuhwerk ist unabdingbar. Das war in der gesamten Geschichte der zivilisierten Welt schon immer so, sogar als dein Vater mich noch ärgerte, und es wird sich niemals ändern.« Wäre die dünne, steife Dame in ihrem Trenchcoat in zwei Hälften zerbrochen, hätte sie ihren Sohn wie ein sprechender Regenwurm unerbittlich von links und rechts weiter belehrt. In einem Stück fuhr sie fort: »Er zählte nicht zu den klügsten Menschen. Dennoch hat er gewusst, dass man bei Schuhen nicht knausert. Wir hungern eine Woche, aber an den Tretern wird nicht gespart. Du musst wissen, dass ich es nur gut mit dir meine.« Ihr dünnes, schlohweißes Haar, auf beiden Seiten strategisch verteilt, unterstrich das Verdikt für all die Menschen in Hush Puppies, welche die Armut für bare Münze nahmen. Den Angesprochenen, promovierter Akademiker und in guter Stellung, bewahrten seine 44 Lebensjahre nicht vor der Schande der Zurechtweisung durch seine Mutter. Er putzte seine rahmenlose Brille und sagte nichts. Man hätte annehmen dürfen, dass er sich im Laufe des Lebens an diese Form des Purgatoriums gewöhnt hatte, doch die Vermutung würde jeden Lügendetektor zum Schmoren bringen. Tief in seinem Innern ärgerte er sich immer wieder aufs Neue. Was dachte sie sich bloß dabei, ihn vor der Schuhverkäuferin so zurechtzustutzen? Schließlich war er ein angesehener Wissenschaftler und kein Krimineller. Die Schuhe, die er trug, waren völlig in Ordnung. Zugegeben, er müsste sie bei Gelegenheit zum Schuster bringen, um die Löcher flicken zu lassen. Aber wann um alles in der Welt sollte er sich mit derart profanen Dingen abgeben? Er war dem Erkenntnisgewinn und der Nachwelt verpflichtet, keinesfalls aber einer Frau, die ihm gegenüber sehr undankbar war und sich Mutter schimpfte. All das ging ihm durch den Kopf, dessen unordentliches Haar Zeugnis von den Qualen ablegte, verließ aber niemals als artikulierte Rede sein Inneres. Und so erklangen stattdessen die Laute: »Ja, Mutter, ich denke, du hast recht.« Stolz, im ungleichen Kampf der Klügere geblieben zu sein, justierte er seine Brille. Wenn er jetzt durchhielt, konnte er in ungefähr einer Stunde im Institut sein und dort einen glücklichen Nachmittag verbringen, ohne Häme und Zurechtweisungen. »Ich bin froh, dass du das eingesehen hast, mein Sohn.« Dr. Hyckill band sich die durchlöcherten Treter auf und zog das Paar Business-Schuhe an. »Jetzt geh schon ein paar Schritte auf und ab, sei so nett.« Unter dem Blick der matronenhaften Verkäuferin wandelte er hin und her, wie die Pinguine, die im Edinburgher Zoo täglich um 14.15 Uhr den Pflegern in einem sich schlängelnden Halbkreis folgten, dabei aber wesentlich mehr Spaß hatten als ihr klägliches, menschliches Double. »Wie fühlen sie sich an? Nun sag doch etwas bitte.« In erneuter Agonie versunken, prallte die Frage an ihm ab. »Wir nehmen das Paar, meine Liebe. Machen Sie uns bitte die Rechnung fertig. Bestimmt findet mein Sohn irgendwann zu unserer schönen, englischen Sprache zurück. Ich gebe die Hoffnung jedenfalls nicht auf.« Die Tradition wollte es, dass er seine Mutter nach dem Einkauf nach Hause fuhr. Missmutig öffnete er der alten Dame die Tür des buckligen, auffallend roten Morris, Modell Minor 2000, und wartete, bis sie eingestiegen war. Das Auto war innen noch schmutziger als außen, worüber Mrs Hyckill pikiert die Nase rümpfte. Auf der Rückbank lag ein Gemenge von Aktenordnern und Schokoladepapierchen. »Leonard, wann wirst du endlich deinen Wagen besser pflegen? Und fahr bitte langsamer. Im Gegensatz zu dir möchte ich noch eine Weile am Leben bleiben.«
»Das wundert mich.«
»Wie bitte?«, fragte Frau Hyckill senior.
»Ich habe nichts gesagt, Mutter. Es ist nur, dass man in diesen Zeiten nie weiß, wer einen verfolgt.«
»Da hast du aber etwas Wahres gesagt, Leo. Wenn du mir die Einkäufe ins Haus getragen hast, kannst du dich deiner Beschäftigung widmen. Was war es noch mal, was du betreibst?«
»Ich arbeite an ...«
»Gut, aber wozu das alles?«
»Wie bitte?«
»Warum machst du nicht eine Arbeit, die jeder versteht?«
»Es ist in der Tat ein sehr delikater Zustand für dich. Ich werde mich umgehend um einen anderen Job kümmern. Wie wäre es mit Arzt oder Immobilienmakler? Ich glaube, die besitzen enorme Vorteile, zumindest, wenn in der Nachbarschaft über sie referiert werden soll.«
»Arzt, oh ja, oder Beamter im gehobenen Dienst, wie es dein Vater war.«
»Hast du ihm jemals gesagt, dass du seinen Job für respektabel hieltst?«
»Was tut denn das zur Sache?«
»Nichts, gar nichts.«
»Also bitte. Jetzt fahr schon los und komme bitte nicht so spät nach Hause, hörst du. Sonst muss das Mädchen wieder dein Abendessen aufwärmen.«
»Ist gut, Mutter. Hast du sonst noch etwas auf dem Herzen?«
Bevor sie ihre Frage ausstieß, fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen. »Wer war denn die nette junge Frau, mit der du vor Kurzem gesehen wurdest?«
»Wie bitte?«
»Du hast völlig richtig gehört. Eine liebe Freundin von mir hat dich beobachtet. Ich habe ein Recht zu wissen, wer die Dame ist.«
»Findest du?«
»Aber Leonard! Ich bin deine Mutter. Von allen Menschen auf der Welt würde ich mich am meisten freuen, wenn du eine Verlobte hättest.«
»Deine Bekannte hat sich geirrt. So etwas kommt vor.«
»Wie schön wäre es, dich bald vor dem Traualtar zu sehen. Doch solche Ereignisse wollen vorbereitet werden. Am besten begleitest du mich am Sonntag zum Gottesdienst.«
»Ich habe leider keine Zeit.«
»So lange schon warst du nicht mehr dabei. Der Pfarrer fragt immer nach dir. Ich weiß nie, was ich sagen soll. Früher konntest du es nie erwarten, das Haus Gottes zu betreten.«
»Damals war ich ein unschuldiges Kind und kannte die Welt noch nicht.«
»Und was bist du heute? Etwa ein Sünder?«
»Ich weiß kaum noch, was ich bin und was nicht. Es ist alles so anstrengend geworden.«
»Aber deiner Beschäftigung bist du doch immer gerne nachgegangen?«
»Ursprünglich schon, das stimmt.«
»Du weißt, dass du nicht arbeiten musst. Wir sind versorgt.«
»Natürlich.«
»Ich werde das Mädchen anweisen, uns heute Abend etwas Schönes zu kochen. Hast du einen besonderen Wunsch?«
»Vielleicht etwas Vegetarisches?«
»Bitte was?«
»Ich überlasse es dir, Mutter.«
»Eine schöne Suppe?«
»Ja.«
»Und Fisch?«
»Gerne.«
»Was denn nun?«
»Mutter, ich muss jetzt wirklich gehen.« Die bohrende Fragerei entnervte ihn immer wieder aufs Neue. Wenn es nach ihm ginge, würde jeden Tag das gleiche Gericht auf den Tisch kommen! So wie er jeden Tag die gleiche Kleidung trug: einen grauen Anzug, ein weißes Hemd und eine schwarze