Vom Kriege. Carl von Clausewitz

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Vom Kriege - Carl von Clausewitz


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alles bewegt, so ist es auch vorzüglich der Mut, das Gefühl der eigenen Kraft, durch welches das Urteil anders bestimmt wird. Es ist gewissermaßen die Kristallinse, durch welche die Vorstellungen gehen, ehe sie den Verstand treffen.

      Und doch kann man nicht zweifeln, daß diese Dinge schon durch die bloße Erfahrung einen gewissen objektiven Wert bekommen müssen.

      Jeder kennt die moralischen Wirkungen des Überfalls, des Seiten- und Rückenangriffs, jeder schätzt den Mut des Gegners geringer, sobald er den Rücken gewandt hat, und wagt ganz anders beim Verfolgen als beim Verfolgtwerden. Jeder beurteilt den Gegner nach dem Ruf seiner Talente, nach seinen Jahren und seiner Erfahrung und richtet sich danach. Jeder tut einen prüfenden Blick auf den Geist und die Stimmung seiner und der feindlichen Truppen. Alle diese und ähnliche Wirkungen im Gebiet der geistigen Natur haben sich in der Erfahrung erwiesen, sind immer wiedergekehrt und berechtigen dadurch, sie in ihrer Art als wirkliche Größen gelten zu lassen. Und was sollte wohl aus einer Theorie werden, in der man sie unbeachtet lassen wollte?

      Aber freilich ist die Erfahrung ein notwendiger Stammbrief dieser Wahrheiten. Mit psychologischen und philosophischen Klügeleien soll keine Theorie sich befassen und kein Feldherr sich versuchen.

      Hauptschwierigkeiten der Theorie des Kriegführens

      Um die Schwierigkeit der Aufgabe, welche in einer Theorie der Kriegführung enthalten ist, deutlich zu übersehen und daraus den Charakter ableiten zu können, den eine solche Theorie haben muß, müssen wir auf die Haupteigentümlichkeiten, welche die Natur der kriegerischen Tätigkeit ausmachen, einen näheren Blick werfen.

      Erste Eigentümlichkeit: geistige Kräfte und Wirkungen [Das feindselige Gefühl]

      Die erste dieser Eigentümlichkeiten besteht in den geistigen Kräften und Wirkungen.

      Kampf ist ursprünglich die Äußerung feindseliger Gefühle; es wird aber allerdings in unseren großen Kämpfen, die wir Krieg nennen, aus dem feindseligen Gefühl häufig nur eine feindselige Absicht, und es pflegt dem einzelnen wenigstens kein feindseliges Gefühl gegen den einzelnen beizuwohnen. Nichtsdestoweniger geht es nie ohne eine solche Gemütstätigkeit ab. Der Nationalhaß, an dem es auch bei unseren Kriegen selten fehlt, vertritt bei dem einzelnen gegen den einzelnen mehr oder weniger stark die individuelle Feindschaft. Wo aber auch dieser fehlt und anfangs keine Erbitterung war, entzündet sich das feindselige Gefühl an dem Kampfe selbst, denn eine Gewaltsamkeit, die jemand auf höhere Weisung an uns verübt, wird uns zur Vergeltung und Rache gegen ihn entflammen, früher noch, ehe wir es gegen die höhere Gewalt sein werden, die ihm gebietet, so zu handeln. Dies ist menschlich oder auch tierisch, wenn man will, aber es ist so. - Man ist in der Theorie sehr gewohnt, den Kampf wie ein abstraktes Abmessen der Kräfte ohne allen Anteil des Gemüts zu betrachten, und das ist einer der tausend Irrtümer, welche die Theorien ganz absichtlich begehen, weil sie die Folgen davon nicht einsehen.

      Außer jener in der Natur des Kampfes selbst gegründeten Anregung der Gemütskräfte gibt es noch andere, die nicht wesentlich dazu gehören, aber sich der Verwandtschaft wegen leicht damit verbinden, wie Ehrgeiz, Herrschsucht, Begeisterung jeder Art usw.

      Die Eindrücke der Gefahr [Der Mut]

      Endlich gebiert der Kampf das Element der Gefahr, in welchem sich alle kriegerischen Tätigkeiten, wie der Vogel in der Luft und der Fisch im Wasser, erhalten und bewegen müssen. Die Wirkungen der Gefahr gehen aber alle auf das Gemüt entweder unmittelbar, also instinktmäßig, oder durch den Verstand über. Die erstere würde das Bestreben sein, sich ihr zu entziehen, und, insofern dies nicht geschehen kann, Furcht und Angst. Wenn diese Wirkung nicht entsteht, so ist es der Mut, welcher jenem Instinkt das Gleichgewicht hält. Der Mut aber ist keineswegs ein Akt des Verstandes, sondern ebenfalls ein Gefühl wie die Furcht; diese ist auf die physische Erhaltung, der Mut auf die moralische gerichtet. Der Mut ist ein edlerer Instinkt. Weil er aber das ist, so läßt er sich nicht wie ein lebloses Instrument gebrauchen, was seine Wirkungen im genau vorgeschriebenen Maße äußert. Der Mut ist also kein bloßes Gegengewicht der Gefahr, um diese in ihren Wirkungen zu neutralisieren, sondern eine eigentümliche Größe.

      [107] Umfang des Einflusses, welchen die Gefahr übt

      Um aber den Einfluß der Gefahr auf die im Kriege Handelnden richtig zu würdigen, muß man ihren Bereich nicht auf die physische Gefahr des Augenblickes beschränken. Sie beherrscht den Handelnden nicht bloß, indem sie ihn bedroht, sondern auch durch die Bedrohung aller ihm Anvertrauten; nicht bloß in dem Augenblick, wo sie wirklich vorhanden ist, sondern durch die Vorstellung auch in allen andern, die zu diesem Augenblick eine Beziehung haben; endlich nicht bloß unmittelbar durch sich selbst, sondern auch mittelbar durch die Verantwortlichkeit, die sie mit zehnfachem Gewicht auf dem Geist des Handelnden lasten läßt. Wer könnte eine große Schlacht anraten oder beschließen, ohne daß der Geist sich mehr oder weniger gespannt oder betroffen fühlte von der Gefahr und Verantwortlichkeit, die ein solcher großer Entscheidungsakt in sich trägt! Man kann sagen, daß das Handeln im Kriege, insofern es ein wirkliches Handeln, nicht ein bloßes Dasein ist, nie ganz aus dem Bereich der Gefahr hinaustritt.

      Andere Gemütskräfte

      Wenn wir diese durch Feindschaft und Gefahr aufgeregten Gemütskräfte als dem Kriege eigentümlich betrachten, so schließen wir alle anderen den Menschen auf seinem Lebenswege begleitenden nicht davon aus; sie werden auch hier häufig genug Platz finden. Zwar darf man sagen, daß manches kleinliche Spiel der Leidenschaften in diesem ernsten Dienst des Lebens zum Schweigen gebracht wird, doch gilt dies nur von den Handelnden der niederen Regionen, die, von einer Gefahr und Anstrengung zur andern fortgerissen, die übrigen Dinge des Lebens aus den Augen verlieren, sich der Falschheit entwöhnen, weil der Tod sie nicht gelten läßt, und so zu jener soldatischen Einfachheit des Charakters kommen, die immer der beste Repräsentant des Kriegerstandes gewesen ist. - In den höheren Regionen ist es anders, denn je höher einer steht, um so mehr muß er um sich sehen; da entstehen denn Interessen nach allen Seiten und ein mannigfaltiges Spiel der Leidenschaften, der guten und bösen. Neid und Edelsinn, Hochmut und Bescheidenheit, Zorn und Rührung, alle können als wirksame Kräfte in dem großen Drama erscheinen.

      Eigentümlichkeit des Geistes

      Die Eigentümlichkeiten des Geistes in dem Handelnden sind neben denen des Gemütes gleichfalls von einem hohen Einfluß. Andere Dinge darf man erwarten von einem phantastischen, überspannten, unreifen Kopf, als von einem kalten und kräftigen Verstande.

      [108] Aus der Mannigfaltigkeit der geistigen Individualität entspringt aber die Mannigfaltigkeit der Wege, die zum Ziel führen

      Diese große Mannigfaltigkeit in der geistigen Individualität, deren Einfluß man sich vorzüglich in den höheren Stellen denken muß, weil er nach oben hin zunimmt, ist es vorzüglich, welche die von uns schon im ersten Buche ausgesprochene Mannigfaltigkeit der Wege zum Ziel hervorbringt und dem Spiel mit Wahrscheinlichkeit und Glück einen so ungleichen Anteil an den Begebenheiten zuteilt.

      Zweite Eigentümlichkeit: lebendige Reaktion

      Die zweite Eigentümlichkeit im kriegerischen Handeln ist die lebendige Reaktion und die Wechselwirkung, welche aus derselben entspringt. Wir sprechen hier nicht von der Schwierigkeit, eine solche Reaktion zu berechnen, denn diese liegt schon in der erwähnten Schwierigkeit, die geistigen Kräfte als Größen zu behandeln, sondern weil die Wechselwirkung ihrer Natur nach aller Planmäßigkeit entgegenstrebt. Die Wirkung, welche irgendeine Maßregel auf den Gegner hervorbringt, ist das Individuellste, was es unter allen Datis des Handelns gibt; jede Theorie aber muß sich an Klassen von Erscheinungen halten, und niemals kann sie den eigentlichen individuellen Fall in sich aufnehmen; dieser bleibt überall dem Urteil und Talent anheimgegeben. Es ist also natürlich, daß ein Handeln wie das kriegerische, welches so häufig in seinem auf allgemeine Umstände gebauten Plan durch unerwartete individuelle Erscheinungen gestört ist, überhaupt mehr dem Talent überlassen bleiben muß und von einer theoretischen Anweisung weniger Gebrauch gemacht werden kann als in jedem anderen.

      Dritte Eigentümlichkeit: Ungewißheit aller Data

      Endlich ist die große Ungewißheit aller Data im Kriege eine eigentümliche Schwierigkeit,


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