Vom Kriege. Carl von Clausewitz
Читать онлайн книгу.von Württemberg bei Montereau, der Graf Wittgenstein bei Mormant eingebüßt, das mußte der Fürst Schwarzenberg ziemlich genau kennen; was hingegen Blücher auf seiner ganz abgesonderten und getrennten Linie von der Marne bis an den Rhein für Unglücksfälle erlebt hätte, würde ihm nur durch die Schneelawine des Gerüchts zugekommen sein. Die verzweiflungsvolle Richtung, welche Bonaparte Ende März auf Vitry nahm, um zu versuchen, was eine angedrohte strategische Umgehung für eine Wirkung auf die Verbündeten hervorbringen würde, war offenbar auf das Prinzip des Schreckens gegründet, aber unter ganz anderen Umständen, nachdem er bei Laon und Arcis gescheitert war, und Blücher sich mit 100000 Mann bei Schwarzenberg befand.
Es wird freilich Leute geben, die durch diese Gründe nicht überzeugt werden, aber sie werden uns wenigstens nicht erwidern können: »Indem Bonaparte durch sein Nachdringen gegen den Rhein die Basis Schwarzenbergs bedrohte, bedrohte Schwarzenberg Paris, also die Basis Bonapartes«; weil wir durch unsere Gründe oben beweisen wollten, daß Schwarzenberg nicht daran gedacht haben würde, auf Paris zu marschieren.
In dem von uns berührten Beispiel aus dem Feldzug von 1796 würden wir sagen: Bonaparte sah den Weg, welchen er einschlug, als den sichersten an, die Österreicher zu schlagen; wäre er das auch gewesen, so war doch der Zweck, welcher dadurch erreicht wurde, ein leerer Waffenruhm, der auf den Fall von Mantua kaum einen merklichen Einfluß haben konnte. Der Weg, welchen wir einschlagen wollten, war in unseren Augen viel sicherer, um den Entsatz zu verhindern; aber wenn wir auch in dem Sinn des französischen Feldherrn ihn nicht dafür betrachten, sondern die Sicherheit des Erfolges als geringer ansehen wollten, so würde die Frage darauf zurückgeführt sein, daß in dem einen Falle ein mehr wahrscheinlicher, aber fast unbrauchbarer, also sehr geringer, in dem andern ein nicht ganz wahrscheinlicher, aber viel größerer Erfolg in die Waagschale zu legen war. Stellt man die Sache auf diese Weise, so hätte die Kühnheit sich für die zweite Lösung erklären müssen, was, die Sache oberflächlich betrachtet, gerade umgekehrt war. Bonaparte hatte gewiß nicht die weniger kühne Absicht, [136] und es ist nicht zu bezweifeln, daß er sich die Natur des Falles nicht bis zu dem Grade deutlich gemacht und die Folgen so übersehen hat, wie wir sie aus der Erfahrung kennengelernt haben.
Daß die Kritik sich bei der Betrachtung der Mittel oft auf die Kriegsgeschichte berufen muß, ist natürlich, denn in der Kriegskunst ist die Erfahrung mehr wert als alle philosophische Wahrheit. Aber dieser geschichtliche Beweis hat freilich seine eigenen Bedingungen, deren wir in einem besonderen Kapitel erwähnen werden, und leider sind diese Bedingungen so selten erfüllt, daß die historische Bezugnahme meistens nur dazu beiträgt, die Verwirrung der Begriffe noch größer zu machen.
Jetzt haben wir noch einen wichtigen Gegenstand zu betrachten, nämlich, inwieweit es der Kritik gestattet oder selbst zur Pflicht gemacht ist, bei der Beurteilung eines einzelnen Falles von ihrer besseren Übersicht der Dinge und also auch von dem, was der Erfolg bewiesen hat, Gebrauch zu machen; oder wann und wo sie genötigt ist, von diesen Dingen zu abstrahieren, um sich ganz genau in die Lage des Handelnden zu versetzen.
Wenn die Kritik Lob und Tadel über den Handelnden aussprechen will, so muß sie allerdings suchen, sich genau in seinen Standpunkt zu versetzen, d. h. alles zusammenstellen, was er gewußt, und was sein Handeln motiviert hat, dagegen von allem absehen, was der Handelnde nicht wissen konnte oder nicht wußte, also vor allen Dingen auch vom Erfolg. Allein das ist nur ein Ziel, nach dem man streben, was man aber nie ganz erreichen kann; denn niemals liegt der Stand der Dinge, von welchem eine Begebenheit ausgeht, genau so vor dem Auge der Kritik, wie er vor dem Auge des Handelnden lag. Eine Menge kleiner Umstände, die auf den Entschluß Einfluß haben konnten, sind verlorengegangen, und manches subjektive Motiv ist nie zur Sprache gekommen. Die letzteren lernt man nur aus den Memoiren der Handelnden oder ihnen sehr vertrauter Personen kennen, und in solchen Memoiren werden die Dinge oft in einer sehr breiten Manier behandelt, auch wohl absichtlich nicht aufrichtig erzählt. Es muß also der Kritik immer vieles abgehen, was dem Handelnden gegenwärtig war.
Von der anderen Seite ist es noch schwerer, daß sie von dem absehe, was sie zuviel weiß. Leicht ist dies nur in Beziehung auf alle zufälligen, d. h. in den Verhältnissen selbst nicht begründeten Umstände, die sich eingemischt haben, sehr schwer aber und nie vollkommen zu erreichen bei allen wesentlichen Dingen.
Sprechen wir zuerst von dem Erfolg. Ist er nicht aus zufälligen Dingen hervorgegangen, so ist es fast unmöglich, daß seine Kenntnis nicht auf die Beurteilung der Dinge Einfluß habe, aus denen er hervorgegangen, denn wir sehen ja diese Dinge in seinem Licht und lernen sie zum Teil durch ihn erst ganz kennen und würdigen. Die Kriegsgeschichte ist mit allen [137] ihren Erscheinungen für die Kritik selbst eine Quelle der Belehrung, und es ist ja natürlich, daß sie die Dinge mit eben dem Lichte beleuchte, was ihr aus der Betrachtung des Ganzen geworden ist. Müßte sie also in manchen Fällen die Absicht haben, durchaus davon abzusehen, so würde ihr das doch nie vollkommen gelingen.
Aber so verhält es sich nicht bloß mit dem Erfolg, also mit dem, was erst später eintritt, sondern auch mit dem schon Vorhandenen, also den Datis, welche das Handeln bestimmen. Die Kritik wird daran in den meisten Fällen mehr haben, als der Handelnde; nur sollte man glauben, es sei leicht, davon ganz abzusehen, und doch ist es nicht so. Die Kenntnis der vorhergegangenen und gleichzeitigen Umstände beruht nämlich nicht bloß auf bestimmten Nachrichten, sondern auf einer großen Zahl von Vermutungen oder Voraussetzungen, ja es ist von den Nachrichten über nicht ganz zufällige Dinge fast keine, der nicht schon eine Voraussetzung oder Vermutung vorausgegangen wäre, und wodurch die gewisse Nachricht, wenn sie ausbleibt, vertreten wird. Nun ist es begreiflich, daß die spätere Kritik, welche alle vorhergegangenen und gleichzeitigen Umstände faktisch kennt, dadurch nicht bestochen werden sollte, wenn sie sich fragt, was sie in dem Augenblick des Handelns von den nicht bekannten Umständen für wahrscheinlich gehalten haben würde. Wir behaupten, daß hier eine vollkommene Abstraktion ebenso unmöglich ist, wie bei dem Erfolg, und zwar aus denselben Gründen.
Wenn also die Kritik über einen einzelnen Akt des Handelns Lob oder Tadel aussprechen will, so wird es ihr immer nur bis auf einen gewissen Punkt gelingen, sich in die Stellung des Handelnden zu versetzen. In sehr vielen Fällen wird sie es bis auf einen für das praktische Bedürfnis genügenden Grad können, in manchen Fällen aber durchaus nicht, und das muß man nicht aus den Augen verlieren.
Aber es ist weder notwendig noch wünschenswert, daß die Kritik sich ganz mit dem Handelnden identifiziere. Im Kriege, wie überhaupt im kunstfertigen Handeln, wird eine ausgebildete natürliche Anlage gefordert, die man seine Virtuosität nennt. Diese kann groß und klein sein. In dem ersten Falle kann sie leicht die des Kritikers übersteigen, denn welcher Kritiker wollte behaupten, die Virtuosität eines Friedrich oder Bonaparte zu besitzen! Soll also die Kritik sich nicht jedes Ausspruchs über ein großes Talent enthalten, so muß es ihr gestattet sein, von dem Vorteile ihres größeren Horizontes Gebrauch zu machen. Die Kritik kann also einem großen Feldherrn die Lösung seiner Aufgabe nicht mit denselben Datis wie ein Rechenexempel nachrechnen, sondern sie muß, was in der höheren Tätigkeit seines Genies gegründet war, erst durch den Erfolg, durch das sichere Zutreffen der Erscheinungen bewundernd erkennen und den wesentlichen Zusammenhang, den der Blick des Genies ahnte, erst faktisch kennenlernen.
[138] Aber für jede, auch die kleinste Virtuosität ist es nötig, daß die Kritik sich auf einem höheren Standpunkt befinde, damit sie, reich an objektiven Entscheidungsgründen, so wenig subjektiv als möglich sei, und ein beschränkter Geist des Kritikers sich nicht selbst zum Maßstabe mache.
Diese höhere Stellung der Kritik, ihr Lob und Tadel nach einer völligen Einsicht der Sache hat auch an sich nichts, was unser Gefühl verletzt, sondern bekommt es erst dann, wenn der Kritiker sich persönlich hervordrängt und in einem Ton spricht, als wäre alle die Weisheit, die ihm durch die vollkommene Einsicht der Begebenheit gekommen ist, sein eigentümliches Talent. So grob dieser Betrug ist, so spielt ihn die Eitelkeit doch leicht, und es ist natürlich, daß er bei andern Unwillen erregt. Noch öfter aber ist eine solche persönliche Überhebung gar nicht in der Absicht des Kritikers, wird aber, wenn er sich nicht ausdrücklich dagegen verwahrt, von dem übereilten Leser dafür genommen, und da entsteht denn auf der Stelle die Klage über Mangel an Beurteilungskraft.
Wenn also die Kritik