Vom Kriege. Carl von Clausewitz
Читать онлайн книгу.worauf wir häufig stoßen, ist eine unbehilfliche, ganz unzulässige Anwendung gewisser einseitiger Systeme als eine förmliche Gesetzgebung. Aber es ist nie schwer, die Einseitigkeit eines solchen Systems zu zeigen, und das braucht man nur zu tun, um ein für allemal seinen richterlichen Spruch verworfen zu haben. Man hat es hier mit einem bestimmten Gegenstande zu tun, und da die Zahl möglicher Systeme am Ende doch nur klein sein kann, so sind sie an sich auch nur das kleinere Übel.
Viel größer ist der Nachteil, der in dem Hofstaat von Terminologien, Kunstausdrücken und Metaphern liegt, den die Systeme mit sich schleppen, und der wie loses Gesindel, wie der Troß eines Heeres, von seinem Prinzipal loslassend, sich überall umhertreibt. Wer unter den Kritikern sich nicht zu einem ganzen System erhebt, entweder weil ihm keins gefällt, oder weil er nicht so weit gekommen ist, eins ganz kennenzulernen, der will wenigstens ein Stückchen davon gelegentlich wie ein Lineal anlegen, um zu zeigen, wie fehlerhaft der Gang des Feldherrn war. Die meisten [142] können gar nicht räsonieren, ohne ein solches Fragment wissenschaftlicher Kriegslehre hier und da als Stützpunkt zu brauchen. Die kleinsten dieser Fragmente, die in bloßen Kunstwörtern und Metaphern bestehen, sind oft nichts als Verschönerungsschnörkel der kritischen Erzählung. Nun liegt es in der Natur der Sache, daß alle Terminologien und Kunstausdrücke, welche einem Systeme angehören, ihre Richtigkeit, wenn sie dieselbe wirklich hatten, verlieren, sobald sie, herausgerissen aus demselben, wie allgemeine Axiome gebraucht werden sollen, oder wie kleine Wahrheitskristalle, die mehr Beweiskraft haben als die schlichte Rede.
So ist es denn gekommen, daß unsere theoretischen und kritischen Bücher statt einer schlichten, einfachen Überlegung, bei welcher der Autor wenigstens immer weiß, was er sagt, und der Leser, was er liest, wimmelnd voll sind von diesen Terminologien, die dunkle Kreuzpunkte bilden, an denen Leser und Autor voneinander abkommen. Aber sie sind oft noch viel Schlimmeres; sie sind oft hohle Schalen ohne Kern. Der Autor selbst weiß nicht mehr deutlich, was er dabei denkt, und beruhigt sich mit dunklen Vorstellungen, die ihm bei der einfachen Rede selbst nicht genügen würden.
Ein drittes Übel der Kritik ist der Mißbrauch historischer Beispiele und das Prunken mit Belesenheit. Was die Geschichte der Kriegskunst ist, darüber haben wir uns schon ausgesprochen, und wir werden unsere Ansicht über Beispiele und über die Kriegsgeschichte überhaupt noch in besonderen Kapiteln entwickeln. Ein Faktum, welches bloß im Fluge berührt wird, kann zur Vertretung der entgegengesetztesten Ansichten gebraucht werden, und drei oder vier, die aus den entferntesten Zeiten oder Ländern, aus den ungleichartigsten Verhältnissen herbeigeschleppt und zusammengehäuft werden, zerstreuen und verwirren das Urteil meistens, ohne die mindeste Beweiskraft zu haben; denn wenn sie bei Lichte betrachtet werden, so ist es meistens nur Plunder, und die Absicht des Autors, mit Belesenheit zu prunken.
Was kann aber mit diesen dunklen, halbwahren, verworrenen, willkürlichen Vorstellungen für das praktische Leben gewonnen werden? So wenig, daß die Theorie vielmehr dadurch, solange sie besteht, ein wahrer Gegensatz der Praktik und nicht selten der Spott derer geworden ist, denen im Felde eine große Tüchtigkeit nicht abzusprechen war.
So hätte es aber unmöglich sein können, wenn sie in einfacher Rede und natürlicher Betrachtung der Gegenstände, welche die Kriegführung ausmachen, dasjenige festzustellen gesucht hätte, was sich feststellen läßt, wenn sie ohne falsche Ansprüche und ungehörigen Pomp wissenschaftlicher Formen und historischer Zusammenstellungen dicht bei der Sache geblieben und mit Leuten, die im Felde durch den natürlichen Blick ihres Geistes die Dinge leiten sollen, Hand in Hand gegangen wäre.
Sechstes Kapitel: Über Beispiele
Historische Beispiele machen alles klar und haben nebenher in Erfahrungswissenschaften die beste Beweiskraft. Mehr als irgendwo ist dies in der Kriegskunst der Fall. Der General Scharnhorst, welcher in seinem Taschenbuche über den eigentlichen Krieg am besten geschrieben hat, erklärt die historischen Beispiele für das Wichtigste in dieser Materie, und er macht einen bewunderungswürdigen Gebrauch davon. Hätte er den Krieg, in welchem er fiel, überlebt, so würde der vierte Teil seiner umgearbeiteten Artillerie uns einen noch schöneren Beweis gegeben haben, mit welchem Geist der Beobachtung und Belehrung er die Erfahrung durchdrang.
Aber ein solcher Gebrauch von historischen Beispielen wird nur selten von den theoretischen Schriftstellern gemacht; vielmehr ist die Art, wie sie sich derselben bedienen, meistens nur geeignet, den Verstand nicht allein unbefriedigt zu lassen, sondern sogar zu verletzen. Wir halten es daher für wichtig, den rechten Gebrauch und den Mißbrauch der Beispiele besonders ins Auge zu fassen.
Unstreitig gehören die der Kriegskunst zugrunde liegenden Kenntnisse zu den Erfahrungswissenschaften; denn wenn sie auch größtenteils aus der Natur der Dinge hervorgehen, so muß man doch diese Natur selbst meistens erst durch die Erfahrung kennenlernen; außerdem aber wird die Anwendung von so vielen Umständen modifiziert, daß die Wirkungen nie aus der bloßen Natur des Mittels vollständig erkannt werden können.
Die Wirkung des Pulvers, dieses großen Agens für unsere kriegerische Tätigkeit, ist bloß durch die Erfahrung erkannt worden, und noch zu dieser Stunde ist man unaufhörlich durch Versuche beschäftigt, sie genauer zu erforschen. Daß eine eiserne Kugel, der man durch das Pulver eine Geschwindigkeit von 1000 Fuß in der Sekunde gegeben hat, alles zerschmettert, was sie von lebenden Wesen in ihrem Lauf berührt, versteht sich freilich von selbst, es bedarf dazu keiner Erfahrung; aber wie viel Hundert Nebenumstände bestimmen diese Wirkung genauer, die zum Teil nur durch die Erfahrung erkannt werden können! Und die physische Wirkung ist ja nicht die einzige, die wir zu beachten haben; die moralische ist es ja, welche wir suchen, und es gibt kein anderes Mittel, diese kennen und schätzen zu lernen, als die Erfahrung. Im Mittelalter, als die Feuerwaffen eben erst erfunden waren, war ihre physische Wirkung der unvollkommenen Einrichtung wegen natürlich viel geringer als jetzt, ihre moralische war aber viel größer. Man muß die Standhaftigkeit eines jener Haufen, die Bonaparte in seinem Eroberungsdienst erzogen und angeführt hat, im stärksten und anhaltendsten Geschützfeuer gesehen haben, um sich einen Begriff davon zu machen, was eine in [144] langer Übung der Gefahr gestählte Truppe leisten kann, die durch eine reiche Siegesfülle zu dem edlen Satze gelangt ist, sich selbst die höchsten Forderungen zu machen. In der bloßen Vorstellung würde man es nie glauben. Von der anderen Seite ist es eine bekannte Erfahrung, daß es noch heut in den europäischen Heeren Truppen gibt, wie Tataren, Kosaken, Kroaten, deren Haufen durch ein paar Kanonenschüsse jedesmal zerstreut werden.
Aber keine Erfahrungswissenschaft, und folglich auch nicht die Theorie der Kriegskunst, ist imstande, ihre Wahrheiten immer von den historischen Beweisen begleiten zu lassen; teils würde es schon der bloßen Weitläuftigkeit wegen unmöglich sein, teils würde es auch schwer sein, die Erfahrung in den einzelnen Erscheinungen nachzuweisen. Findet man im Kriege, daß irgendein Mittel sich sehr wirksam gezeigt hat, so wird es wiederholt; einer macht es dem andern nach, es wird förmlich Mode, und auf diese Weise kommt es, auf die Erfahrung gestützt, in den Gebrauch und nimmt seinen Platz in der Theorie ein, die dabei stehenbleibt, sich im allgemeinen auf die Erfahrung zu berufen, um seinen Ursprung anzudeuten, nicht aber, um es zu beweisen.
Ganz anders ist es aber, wenn die Erfahrung gebraucht werden soll, um ein gebräuchliches Mittel zu verdrängen, ein zweifelhaftes festzustellen, oder ein neues einzuführen; dann müssen einzelne Beispiele aus der Geschichte zum Beweise aufgestellt werden.
Wenn man nun den Gebrauch eines historischen Beispiels näher betrachtet, so ergeben sich dafür vier leicht zu unterscheidende Gesichtspunkte.
Zuerst kann man dasselbe als eine bloße Erläuterung des Gedankens brauchen. Es ist nämlich bei jeder abstrakten Betrachtung sehr leicht, falsch oder gar nicht verstanden zu werden; wo der Autor dies fürchtet, dient ein historisches Beispiel dazu, dem Gedanken das fehlende Licht zu geben, und zu sichern, daß Autor und Leser beieinanderbleiben.
Zweitens kann es als eine Anwendung des Gedankens dienen, weil man bei einem Beispiel Gelegenheit hat, die Behandlung derjenigen kleineren Umstände zu zeigen, die bei dem allgemeinen Ausdruck des Gedankens nicht alle mit aufgefaßt werden konnten; denn darin besteht ja der Unterschied zwischen Theorie und Erfahrung. Diese beiden Fälle sind die des eigentlichen Beispiels; die beiden folgenden gehören zum