Briefe über den Yoga. Sri Aurobindo
Читать онлайн книгу.von jenen gefühlt werden kann, die sie in der rechten Haltung, betreten. Die äußere soziale Struktur, welche sie [die Hindu-Religion] aufgebaut hat, um sich ihm zu nähern, ist etwas anderes.
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Ich betrachte die spirituelle Geschichte der Menschheit und besonders Indiens als eine immerwährende Entwicklung eines göttlichen Planes und nicht als ein Buch, das zugeklappt wurde und dessen Worte ständig wiederholt werden müssen. Selbst die Upanishaden und die Gita waren nichts Endgültiges, obwohl dort alles im Keim enthalten sein mag. In dieser Entwicklung bildet die jüngste spirituelle Geschichte Indiens eine sehr wichtige Phase, und die Namen, die ich erwähnte, nahmen in meinem Denken zu jener Zeit einen besonderen Platz ein, denn sie schienen mir die Richtungen aufzuzeigen, in die die künftige spirituelle Entwicklung ganz unmittelbar zu gehen haben würde, und zwar nicht verweilend, sondern fortschreitend. Ich möchte aber betonen dass es mir fernliegt, eine Religion, ob neu oder alt, für die Menschheit der Zukunft zu verkünden. Meine Auffassung der Sache ist vielmehr, einen Weg zu weisen, der noch verschlossen ist, und nicht eine Religion zu gründen.
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Wenn mit der Bemerkung1 gemeint ist, die Form der Religion sei etwas Bleibendes und Unveränderliches, kann sie nicht akzeptiert werden. Doch wenn hier mit Religion der eigene Weg der Beziehung zum Göttlichen gemeint ist, dann trifft es durchaus zu, dass dies etwas ist, das zum inneren Wesen gehört und nicht wie ein Haus oder ein Mantel um einer persönlichen, sozialen oder weltlichen Annehmlichkeit willen gewechselt werden kann. Wenn ein Wechsel vollzogen wird, kann es nur aus einem inneren, spirituellen Grund sein, aufgrund einer inneren Entwicklung. Niemand kann an eine Religionsform oder an ein bestimmtes Glaubensbekenntnis oder System gebunden werden; doch wenn er das eine, das er angenommen hat, gegen ein anderes aus äußeren Gründen austauscht, so bedeutet dies, dass er zuinnerst überhaupt keine Religion besitzt und sowohl seine alte als auch seine neue Religion lediglich eine leere Formel ist. Im Grund ist es vermutlich dies, worauf die Bemerkung abzielt. Die Bevorzugung einer neuen, andersartigen Annäherung an die Wahrheit oder der Wunsch nach innerem spirituellen Selbstausdruck sind nicht die Beweggründe für eine Veränderung, gegen die hier ein Einwand erfolgt. Es sind dies vielmehr das Anheben des sozialen Status, ein Abwägen, was ebensowenig ein spiritueller Beweggrund ist wie eine Konversion um des Geldes oder einer Heirat willen. Wenn ein Mensch innerlich keine Religion besitzt, kann er sein Glaubensbekenntnis aus jedem Grund ändern; wenn er sie jedoch besitzt, kann er es nicht, sondern allein dann, wenn er einer spirituellen Forderung folgt. Ein Mensch, der bhakti für das Göttliche in der Gestalt von Krishna empfindet, kann schließlich nicht gut Krishna um Christi willen aufgeben, weil es sein soziales Ansehen erfordert.
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Sicherlich ist vairagya, die Abkehr von der Welt, ein Weg, um sich dem Ziel zu nähern – es ist der traditionelle Weg und gleichzeitig ein drastischer, wenn nicht ein schmerzhafter Weg. Das Verlangen nach menschlich-vitalen Vergnügungen abzulegen oder nach literarischem und anderem Erfolg, nach Lob und Ruhm, selbst die Forderung nach spirituellem Erfolg, jenen inneren bhoga des Yoga aufzugeben, wurde immer als ein Schritt auf das Ziel zu betrachtet – vorausgesetzt, man bewahrt dieses eine Ausgerichtetsein auf das Göttliche. Ich selbst gebe dem ruhigeren Weg des Gleichmuts, dem Weg, den Krishna wies, den Vorzug vor dem schmerzvolleren des vairagya. Doch wenn das Erfordernis der eigenen Natur oder das Erfordernis des inneren Wesens in diese Richtung weist und sich seinen Weg durch die Schwierigkeiten der menschlichen Natur erzwingt, muss dies als die gültige Richtung angesehen werden. Wovor man sich in diesem Falle hüten muss, ist der Ton der Verzweiflung im Vital, das auf den Schrei reagiert, von dem du sprichst – nämlich dass es nie das Göttliche erlangen wird, da es das Göttliche bisher noch nicht erlangt hat, oder dass es keinen Fortschritt macht. Du hast mit Sicherheit einen Fortschritt zu verzeichnen – dieser größere Impuls der Seele und dann die Loslösung selbst, die fortwährend irgendwo in dir wächst. Das Wichtigste ist, durchzuhalten, nicht das Seil zu zerschneiden, weil es deinen Händen weh tut, sondern diese eine Beharrlichkeit zu bewahren, wenn alle anderen von dir abfallen.
Ganz offensichtlich setzt etwas in dir die unbeendigte Kurve eines vergangenen Lebens fort und drängt dich auf den Pfad des vairagya und auf den stürmischeren bhakti-Weg, trotz meiner – und auch deiner – Bevorzugung eines weniger schmerzvollen Weges, etwas, das entschlossen ist, mit der äußeren Natur drastisch zu sein, damit sie frei und ihr geheimes Streben erfüllt wird. Doch höre nicht auf diese Einflüsterungen der Stimme, die sagt, du würdest keinen Erfolg haben, und es sei nutzlos, es zu versuchen. Das ist etwas, was man auf dem Weg des Spirits niemals zu sagen braucht, wie schwierig er auch im Augenblick erscheinen mag. Bewahre in allem diese Sehnsucht, der du in deinen Gedichten so wundervoll Ausdruck verleihst; denn sie ist in dir, in deinen Tiefen, und Wenn sie die Ursache des Leidens ist – wie es große Aspirationen sind in einer Welt und Natur, in denen sich ihnen so viel widersetzt – dann ist sie auch das Versprechen und die Gewissheit eines künftigen Durchbruchs und Sieges.
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Ich wandte mich damals gegen asketisches und tamasisches vairagya. Mit tamasisch meine ich jene Haltung, die durch eine Niederlage im Leben entsteht, nicht weil man tatsächlich vom Leben angewidert ist, sondern weil man ihm nicht gewachsen war oder seinen Preis nicht bezahlen konnte; man wendet sich dann dem Yoga als einer Art Asyl für Krüppel und Schwache und dem Göttlichen als einer Art Trostpreis für die Sitzengebliebenen der Weltklasse zu. Doch für einen, der die Gaben und Werte der Welt gekostet hat, sie aber unzureichend und schließlich reizlos findet und sich deshalb einem höheren und schöneren Ideal zuwendet, oder für einen, der teilhatte am Kampf der Welt, doch dann erkannte, dass etwas Größeres von der Seele gefordert wird, für den ist vairagya durchaus hilfreich und ein guter Anfang für den Yogaweg; ebenso das sattvische vairagya, durch das man erkennt, was das Leben ist, und sich dem zuwendet, was darüber oder dahinter steht. Mit asketischem vairagya meine ich jene Haltung, die Leben und Welt insgesamt verneint und in das Unbestimmbare eingehen will; ich bin gegen vairagya für jene, die diesen Yoga aufnehmen, da es unvereinbar mit meinem Ziel ist, das darin besteht, das Göttliche in das Leben herabzubringen. Doch ist man mit dem Leben so wie es ist zufrieden, dann besteht kein Grund, das Göttliche in das Leben herabzubringen; deshalb ist vairagya in dem Sinn eines Unbefriedigtseins mit den Leben als solchem durchaus zulässig und in gewisser Hinsicht sogar unerlässlich für meinen Yoga.
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Ich anerkenne durchaus, dass ein vorübergehendes Stadium von vairagya als Gegengewicht gegen einen zu starken Sog des Vitals nützlich sein kann. Doch vairagya neigt immer zur Abkehr vom Leben, und das tamasische Element in vairagya, wie Verzweiflung, Niedergeschlagenheit usw., erstickt das Feuer des Wesens und kann sogar dazu führen, dass man zwischen zwei Stühle fällt und so die Erde verliert und den Himmel verfehlt. Ich ziehe es deshalb vor, vairagya durch eine stetige und ruhige Zurückweisung dessen, was zurückgewiesen werden muss, zu ersetzen – Geschlechtstrieb Eitelkeit, Egozentrik, Verhaftetsein usw. –, doch nicht etwa die Zurückweisung jener Tätigkeiten und Mächte, die zu einem Instrument der Sadhana und göttlichen Arbeit gemacht werden können, wie Kunst, Musik, Dichtung usw.; doch diese müssen eine neue, spirituelle oder seelische Grundlage finden, eine tiefere Inspiration, eine Hinwendung zum Göttlichen oder zu göttlichen Dingen. Yoga kann ohne die Zurückweisung des Lebens ausgeübt werden und ohne die Lebensfreude oder die vitale Kraft zu töten oder zu schmälern.
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Nein, ich sagte nicht, dass du das rajasische oder tamasische vairagya gewählt hättest. Ich erklärte lediglich, wie es von selbst entstanden sei, als Ergebnis einer vitalen Bewegung anstelle des sattvischen vairagya, das meist einer Abkehr von der Welt um des Göttlichen willen vorangeht und diese verursacht oder begleitet oder ihr entspringt. Tamasisches vairagya entsteht aus diesem Zurückschrecken des Vitals, wenn es fühlt, dass es die Lebensfreude aufzugeben hat, dass es lustlos und traurig wird; rajasisches vairagya entsteht, wenn das Vital die Lebensfreude zu verlieren beginnt und sich beklagt, keinen Ersatz dafür zu bekommen. Niemand wählt solche Bewegungen; sie entstehen unabhängig aus dem Vital als gewohnheitsmäßige Reaktionen der menschlichen Natur. Diese Dinge zurückzuweisen, indem man sich von ihnen loslöst, ein zunehmendes ruhiges Streben, eine reine bhakti, eine glühende Hingabe an das Göttliche – das war