Die Pfaffenhure. Alice Frontzek
Читать онлайн книгу.Studenten unter uns, die am 23. April ihr Studium beginnen werden und damit ihren neuen Lebensabschnitt, dazu Eure Väter, Mütter oder gar Geschwister. Ein ganz besonderer Tag also. Alle Neuankömmlinge werden nun von mir aufgerufen. Ich bitte die Anwesenden, kurz die Hand zu heben. Wir gehen anschließend hinüber ins Auditorium, wo Ihr die ersten Einweisungen bekommt und Eure Namen aufgeschrieben werden. Die Zeugnisse der Lateinschule sind vorzuweisen. Wer angemeldet ist, begibt sich zum Kassenbüro, um die Gebühr zu entrichten.« Nun studierte Trutvetter die Liste, die ihm der Student gerade gereicht hatte. »So, schauen wir mal: Eustachius Koler aus Kaufbeuren … Henricus Stupher aus Würzburg … Johannes Tendalen aus Hamburg … Georgius Setznaghel aus Salzburg … Andreas Schöneberg aus Elbingh … Martinus Ludher aus Mansfeld … Henricus Gran aus Brunswick … Johannes Botz aus Frankfurt … Alexis Schmied aus Mansfeld …«
Martin und sein Vater staunten über den Wohlklang der lateinisierten Namen und über die weiten Wege, die einige auf sich genommen hatten, um an der Erfurter Universität zu studieren. Dann schauten sie sich überrascht an. Alexis aus Mansfeld? Den kannten sie gar nicht.
»Ich bitte Euch nun, nach vorne zu kommen«, sagte Trutvetter.
Martin tat, wie ihm und den anderen Neulingen geheißen, und überlegte dabei, wer von den Übrigen nun wohl dieser Alexis war.
Im Chor mit dem Priester beendete Jodokus Trutvetter den Gottesdienst mit den Worten: »Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesu Christi, der uns gesegnet hat mit allerlei geistlichem Segen in himmlischen Gütern durch Christus. Herrgott, himmlischer Vater, wir danken Dir, dass Du Dich uns gegeben hast in Deinem Wort und Sakrament, und dass auch wir mit Dir reden durften in Gebet und Lobgesang. Amen.«
Dann verließen die neuen Studenten, angeführt durch den Rektor, die Kirche. Als Martin an seinem Vater vorbeilief, schauten sie sich an. Martin war stolz – sein Vater schenkte ihm einen ernsten Blick, der dem Sohn Respekt zollte, und nickte ihm anerkennend zu.
Vor dem Collegium Maius übergab Trutvetter sie einem älteren Studenten, der sich als Johannes Lang vorstellte und sie durch das große Eingangstor hinein in den riesigen, roségetünchten Steinbau führte. Über eine breite Treppe gelangten sie in die Eingangshalle, von der zwei Flure nach rechts und links abgingen und weitere Treppen nach unten und in die oberen Etagen führten. Johannes Lang schritt voran zum rechten Flur, und dort klopfte er wiederum rechts an eine Tür, die bereits leicht geöffnet war.
»Immer herein mit den neuen Scholaren!« Ein freundlich dreinblickender Mann stand auf und stellte sich in den Türrahmen. »Willkommen an unserer Universität! Ich heiße Walter Schreiber und bin hier für fast alle Verwaltungsaufgaben zuständig. Die Intitulationsfeier und der Eintrag in die Universitätsmatrikel finden am Sonntag, 2. Mai, statt, einen Tag nach der offiziellen Ernennung des neuen Rektors. Heute nehme ich Euch auf, dann erkläre ich Euch, wo Ihr was findet und wo Ihr schlafen werdet. Kommt näher, nicht so schüchtern. Ihr werdet in alphabetischer Reihenfolge aufgerufen.«
Während Walter der Reihe nach Namen und die Herkunft der Neuankömmlinge aufschrieb und einen Zettel für das Kassenbüro und einen mit Zimmer-, Bett- und Schreibtischnummer ausgab, kam Martin mit den anderen ein wenig ins Gespräch. Er tauschte sich mit ihnen darüber aus, seit wann sie in Erfurt wären, mit wem sie gekommen seien, wo sie übernachtet hätten. Dann musste er ins Kassenbüro und die Intitulationsgebühr von dreißig alten Groschen in voller Höhe zahlen. Der für ihn zuständige Taxator, Hermann Serges von Dorsten, hatte ihn als wohlhabend eingeschätzt. Er nannte Martin auch die Burse, in die er bald ziehen würde. Es war die Georgenburse, die schon ihr Wirt ihnen vorhergesagt hatte. Nachdem die Formalitäten erledigt waren, wurden alle neuen Scholaren wieder von Johannes Lang empfangen, der sie durch das Gebäude und zu ihren Schlafplätzen führen sollte.
»Hier, im Großen Kolleg – im Collegium Maius –, befinden sich die Hörsäle der philosophischen Fakultät. Das Gelände ist riesig. Es gibt hier zehn Häuser, zwölf Kammern, das Pädagogium. Im Pädagogium werdet Ihr auf das Universitätsstudium vorbereitet. Es liegt im Hof. Daneben fließt der Fluss. Die Häuser zur Arche Noä und zum Kleinen Drachen sind Gästehäuser. Der städtische Rat ernennt aus der Reihe der Magister acht Kollegiaten, die hier frei wohnen. Es handelt sich um ein Ehrenamt auf Lebenszeit. Sie führen die Aufsicht über die Mitbewohner, die Scholaren und Bakkalare. Die Oberaufsicht führt der auf ein Jahr gewählte Probst. Wir nennen ihn ›praepositus‹. Dann gibt es noch eine Bibliothek, ihr steht der ›librarius‹ vor. Ihr steht unter direkter Aufsicht der ›rectores bursae‹. Für das leibliche Wohl sorgt der Bierprobst, der ›praepositus cervisiae‹, der den Kellermeister beaufsichtigt und die Bierkasse führt. Den ›coquus‹, den Koch, findet man in der Küche. Ihr merkt schon, hier wird Latein gesprochen! Ich muss sicher nicht erwähnen, dass nicht gerauft werden darf, dass Unzucht mit Aus- und Einsteigern zu vermeiden ist, ihr zu Hause schlaft und keine unzüchtigen Frauen einführt. Im Sommer werden die Türen und Fenster der Bursen um halb neun, im Winter um acht Uhr abends verschlossen. Ordentliche Kleidung wird erwartet, genauso Gehorsam gegenüber Älteren, gutes Benehmen, Ruhe und pflegliche Behandlung und Nutzung der Universitätsräume, Möbel und Gegenstände.«
Dann führte Johannes sie zu den Kammern. »Kammer drei: Martin Ludher und Alexander Schmied!«
Die beiden Scholaren betraten ihre kleine Stube in der Burse zur Himmelspforte, nur wenige Schritte vom Hauptgebäude entfernt. Hier sollten sie erst einmal ablegen. Danach waren sie frei, sich alles anzuschauen, ihre Reisebegleitung zu verabschieden und zu tun, was sie mochten. Nach der Sechs-Uhr-Andacht in der Michaeliskirche war eine kleine Runde durch die Stadt für die Neuankömmlinge zum Kennenlernen vorgesehen.
Martin schaute auf die zwei Betten, dann auf seinen Zettel, woraufhin er die dort angegebene Nummer auf den Möbeln suchte. »III.II« – er fand die römische Zahl auf einer kleinen Schiefertafel, die an einer Hakenleiste über dem linken Bett hing. Unter den winzigen Fenstern zwischen den zwei Betten stand ein Tisch. Zwischen Bett und Tisch jeweils ein Stuhl. Den Tisch mussten sie sich also teilen. Neben der Tür befand sich ein größerer Schrank, dessen rechte Hälfte Martin für seine Sachen beanspruchte. Die Betten hatten an ihrer vorderen Längsseite einen Vorhang. Auch die lange Seite des Bettes konnte zugezogen werden. Die Stoffe waren blau. Hätte Martin nicht gewusst, dass das Stadtwappen rot war mit einem silbernen Rad, er hätte geglaubt, Blau wäre die offizielle Farbe der Stadt.
»Na ja, ist doch ganz ordentlich«, fing er das Gespräch an. »Was denkst du?«
Alexander nickte. »Packen wir aus, oder was hast du vor?«
»Mein Vater wartet sicher irgendwo draußen auf mich. Ich will ihn noch verabschieden. Später richte ich mich ein. Dann sehen wir uns zur Erfurt-Runde, ja? Freut mich, dich als Zimmerkameraden zu haben.« Martin reichte Alexander die Hand.
Der lächelte, erwiderte seinen Händedruck und sagte: »Nenn mich Alexis. Meine Freunde sagen Alex zu mir, und da wir uns hier ja künftig in den alten Sprachen verständigen …« Er zog die Augenbrauen hoch.
»Martinus, angenehm«, nickte Martin. Sie mussten lachen.
Sein Vater wartete draußen vor dem Eingang der Michaeliskirche.
»Ah, da bist du ja«, freute er sich, seinen Sohn wiederzusehen. »Und? Was habt ihr bisher gemacht?«
Martin stillte Hans’ Neugier und berichtete von seinen ersten Eindrücken. Dabei liefen die Männer in Richtung Fischmarkt, wo Trauben von Leuten zusammenstanden. Um den Brunnen tanzten ein paar kleine Kinder im Kreis, deren Mütter sich mit Wasser gefüllten Holzbottichen in der Hand unterhielten. Die Häuser ringsum waren österlich geschmückt. An den Türen waren Kränze aus Weidenzweigen und bemalten Eiern befestigt. Kätzchensträuße schmückten Fenster, Tore und Zäune. Kruzifixe wurden in den verschiedensten Größen und Ausführungen aufgestellt. Am Platz gab es auch ein großes Gasthaus. »Ratskeller« hieß es. Zwei Männer in dunkler Amtskleidung betraten es, wobei sie sich angeregt unterhielten und der eine dem anderen die Tür aufhielt und ihm höflich den Vortritt ließ. Ein alter Mann mit Handwagen transportierte ein kleines Bierfass, das er sich bei einem Brauhof hatte abfüllen lassen. Hühner liefen gackernd vor einer Kutsche mit zwei schweren Arbeitsgäulen davon. Sie blieben aber in der Nähe und flatterten