Die Pfaffenhure. Alice Frontzek
Читать онлайн книгу.Frau ein rechteckiges dünnes Leder, in welches getrocknete Kräutersträuße eingewickelt waren, die sie jetzt darauf arrangierte. Hans Ludher trat näher. Er wollte Grete etwas aus Erfurt mitbringen. Vielleicht ein besonderes Kraut als Zutat zum Kochen.
»Was könnt Ihr empfehlen?«, sprach er die Frau an.
»Das kommt darauf an. Als Heilkraut oder Gewürz? Zum Kochen oder Brauen?«
»Einfach etwas, das meine Frau in Mansfeld nicht bekommt. Gibt es etwas Besonderes?«
»Vielleicht habt Ihr schon davon gehört, dass es hier in Erfurt den besten Waid gibt. Er ist nicht nur zum Färben gut. Er beruhigt auch den Magen.« Sie überreichte ihm einen Strauß getrockneter Waidblätter. »Gießt einfach heißes Wasser darüber und trinkt täglich von dem Aufguss!«
Martins Vater war einverstanden und bezahlte. Waid zum Trinken, das war ihm neu, und der Strauß sah gut aus. So große Blätter hatte er zuvor noch nirgends gesehen.
Sie liefen durch die Schlössergasse, beobachteten von der Brücke aus, wie das Mühlrad gleichmäßig ins Wasser stach, und drehten eine kleine Runde vorbei an der Barfüßerkirche, gingen weiter vorne links in Richtung Wigbertikirche, bogen am Haus zum Stolzen Knecht rechts ab und liefen bis zur Vitikirche geradeaus. Dann gingen sie über die lange Brücke und orientierten sich an den Türmen des Domes, der die Dächer der kleinen Häuschen überragte. Am Platz vor dem Dom angekommen, sahen sie sich erneut in Ruhe um. Hier gab es eine Apotheke, mehrere Gasthäuser und den großen Markt.
»Vater, gehen wir zurück. Wir machen gleich nach der Andacht noch einen Stadtrundgang mit den Studenten. Um drei muss ich wieder an der Michaeliskirche sein.«
»Geh nur schon vor, Martin. Ich finde den Weg zurück. Bin ja nicht zum ersten Mal hier. Ich wünsche dir eine erste gute Nacht alleine.«
Martin winkte seinem Vater zu und lief zügig die Breite Gasse bis zur Allerheiligenkirche hinunter, wo er dann zur Universität abbog. Die Erfurter Glocken schlugen gerade drei.
Nach der Andacht in der Michaelisstraße trafen sich die neuen Scholaren an der Ecke zur Studentengasse erneut. Ein älterer Mann stellte sich ihnen als Nikolaus Marschalk vor. Magister der artistischen Fakultät und Bakkalar der Jurisprudenz. Besitzer einer Druckerei seit diesem Jahr.
»Ich zeige Euch heute, wo sich hier im lateinischen Viertel alles Wichtige befindet. Ich verdinge mich auch als Stadtschreiber in Erfurt und freue mich jedes Mal, die Neuen in Erstaunen zu versetzen.«
Martin hatte sich schon gewundert, weil Nikolaus ihm für einen Studenten recht alt erschienen war, aber das erklärte es natürlich.
»Die Kirche habt Ihr bereits kennengelernt. Sie dient uns als Auditorium Maximum und Aula. Wenn Ihr nun dorthin schaut, dem großen Kolleg gegenüber, dann seht Ihr die Burse zum weißen Rad, Bursa Albae Rotae. An das Collegium Maius angrenzend hier um die Ecke in der Studentengasse befindet sich das sogenannte Domus nova, ein Kolleg für schlesische Studenten.«
Nikolaus Marschalk gab einen schnellen Schritt vor und kümmerte sich nicht sonderlich darum, ob ihm alle folgen konnten. Er zeigte im Vorbeigehen am Fluss auf kleine Fachwerkhäuser auf der linken Seite.
»Hier ist die Bursa pauperum, die Armenburse, für Studenten, deren Eltern sich das Studium für ihre Söhne nicht leisten können. Dort kommt die Horngasse.« Sie bogen links ab und überquerten eine kleine Brücke über einen der beiden Flussarme.
»Dies hier rechts ist das Universitätshospital. Alles am Fluss. Dort hinten die Krämerbrücke. Aber gehen wir wieder zurück.«
Martin gefiel, was er sah, wenngleich dieser Nikolaus Marschalk alle Sehenswürdigkeiten sehr schnell passiert hatte. Ihr kleiner Tross machte eine Kehrtwende und ging zurück in Richtung Hauptgebäude. Sie liefen nun an der Michaeliskirche vorbei in die gegenüberliegende Allerheiligenstraße.
»Dies ist eine unserer Druckereien. Das Haus zum Goldenen Stern. Hier wird mit beweglichen Lettern gedruckt. Ein ehemaliger Student unserer Alma Mater, Johannes Gensfleisch – auch Johannes Gutenberg genannt –, hat diese neuartige Druckmethode erfunden. Genial! Die Buchstaben werden einmal gesetzt, das Ganze mit Farbe bestrichen, und so lassen sich Schriftstücke beliebig vervielfältigen. Hier, daneben, die Burse der niedersächsischen Studenten.«
Martin las die lateinische Inschrift für Niedersachsen, während er von ihrem Pulk weitergedrängt wurde.
»Hier links geht es in die Waagegasse, das Speicherviertel für die durchreisenden Händler«, zeigte Nikolaus in eine schmale Gasse, die von hohen Speicherhäusern gesäumt war. Eins davon sah aus, als hätte es kein Dach, denn ebendieses war schmal, hoch und spitz an der Straßenflucht ausgerichtet, während die Hausfront und die Toreinfahrt so schräg gebaut waren, dass ein Fuhrwerk bequem frontal einfahren konnte. Vor der städtischen Waage standen Pferdefuhrwerke mit ihren Händlern, die ihre Waren wiegen lassen und die entsprechenden Steuern zahlen mussten.
»Und dort rechts, das Haus zur Windmühle, gehört dem Waidhändler Gerstenberg«, lenkte er die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer auf die andere Seite. »Gegenüber das Haus zur Engelsburg mit seinen Nebengebäuden. Die Engelsburg beherbergte einst das kleine Hospital zur Elendenburg, zu dem die angrenzende Hospitalskirche Allerheiligen gehörte. Daneben einige Wohnhäuser. Der Turm der Allerheiligenkirche dient als einer von vier Wachtürmen, von denen aus die Stadt überblickt wird und die Türmer ins Horn blasen, sollte es irgendwo brennen oder Ähnliches.« Hier änderte er wieder die Richtung.
»Gehen wir durch die Waagegasse zurück und schließen die Runde. Am Kratzstein vorbei, hier rechts, befindet sich ein großer Speicher, der ein wenig an eine Kirche erinnert. Das war die jüdische Synagoge, die beschädigt wurde, als die Bürger sich an den Juden für die Pest rächten, die vor 150 Jahren über das Land zog. Das war dreizehnhundertneunundvierzig. Die Juden hatten die Brunnen vergiftet.«
Sie traten aus der Gasse hinaus.
»Jetzt sind wir wieder in der Michaelisstraße. Rechts seht Ihr den Platz vor der Benediktskirche und das große steinerne Handelshaus. Wir gehen aber gleich wieder links herum. Dort gegenüber ist die Druckerei von Matthes Maler und Wolfgang Schenk, Freunde von mir. Das Haus zum Schwarzen Horn.«
Dann wandte er sich nach links und fuhr mit der Führung fort.
»Hier das Collegium Amplonianum, Studienort der Mediziner.« Er eilte weiter und stellte sich wieder vor das Hauptgebäude der Universität. »Links neben dem Collegium Maius, das ist das Haus zur Arche Noä mit der Werkstatt von Melchior Sachse. Dahinter befindet sich das Haus zum Kleinen Drachen, das das Große Kolleg zu Wohnzwecken angemietet hat. Das kennt Ihr ja – das Gästehaus.« Dann wies er mit der Hand in die gegenüberliegende Richtung. »Ach so, und dort hinten rechts, in der Pergamentergasse, fertigen die Pergamenter den unentbehrlichen Schreibstoff – sie bekommen ihr Material von den vielen Papiermühlen der Stadt.« Er deutete mit nach oben offener Handfläche die Richtung der Gasse an, wendete sich dann den neuen Studenten zu, öffnete beide Arme in ihre Richtung und schloss seinen Vortrag. »Das ist also das lateinische Viertel. Meinen Lieblingsstadtteil seht ihr ein anderes Mal. Wir Juristen halten uns westlich der Marienkirche auf – im Mainzerhofviertel. Dort befinden sich das Collegium Marianum und die Schola iuristarum, in der die juristischen Vorlesungen stattfinden. Die Theologen findet Ihr im Auditorium coelicum über dem Ostflügel des Kreuzganges der Marienkirche. Vielleicht zeige ich es Euch bei Gelegenheit.«
Die Neuen klatschten und Marschalk deutete mit dem Kopf eine Verbeugung an.
Er lieferte die neuen Studenten wieder am Hauptgebäude ab, wo sie von Jodokus Trutvetter in ihren freien Abend entlassen wurden.
»Um acht Uhr müsst Ihr eure Kammern beziehen, Ende der Woche übersiedelt jeder in seine Burse. In ein paar Tagen werdet Ihr Euch offiziell in die Matrikel eintragen und Euren Eid leisten. Viele werden heute noch von ihren mitgereisten Eltern erwartet, deshalb wünsche ich allen noch einen schönen Ausklang.«
Die Gruppe löste sich auf, und Trutvetter begrüßte seinen ehemaligen Schüler noch einmal persönlich, als zeitgleich Martins Vater die Michaelisstraße hinaufkam, um sich mit seinem