Salzburgsünde. Manfred Baumann
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Sie stellte den Keramikbehälter mit den Schwarzbrotscheiben in die Mitte des kleinen Tisches. Dann hob sie den Deckel von der Suppenschüssel, griff zur Schöpfkelle und füllte ihm den Teller.
»Danke, Oma.« Er wartete, bis sie sich selbst eingeschenkt hatte, dann begann er zu essen. Köstlich. Zugleich mit dem hervorragenden Geschmack breitete sich eine wohltuende Wärme in ihm aus. Das vertraute Gefühl seiner Kindheit stieg in ihm hoch. Erneut tauchte er den Löffel in die Suppe.
Offenbar hatte die Großmutter dieses Mal Süßkartoffeln zu den üblichen Erdäpfeln hinzugefügt. Neben Karotten, Sellerie, Lauch und Brokkoli. Und dieses Gewürz, dessen Geschmack ein wenig hervorstach? Er blickte sie an.
»Thymian?«
Sie lächelte. »Ausgezeichnet, Herr Kommissar. Aus den vielen Fährten hast du sofort die richtige Spur herausgefiltert. Ein wenig Petersilie und Majoran, und eine gute Prise Thymian. Auch wenn der Winter heuer streng war, habe ich meinen Thymian bestens über die kalte Jahreszeit gebracht. Du weißt, Martin, ein wenig Fichtenreisig und das passende Stroh, und schon kann der Frost wenig ausrichten.«
Er wusste genau, wovon sie sprach. Er hatte schon als Kind von ihr die richtigen Handgriffe und passenden Tricks gelernt. Der Garten mit den Blumen, den Sträuchern und dem Zauberreich der Gewürze war immer schon eine ihrer großen Leidenschaften gewesen. Seine eher nicht. Er hatte sich zwar unter Großmutters Anleitung redlich bemüht, aber die große Begeisterung war nie in ihm aufgekommen. Aber immerhin. Den Thymian hatte er herausgeschmeckt. Sie lächelte ihn erneut an. Und wieder einmal wurde ihm bis tief in sein Innerstes bewusst, wie sehr er diese kleine weißhaarige Frau liebte. Sie war und blieb der wichtigste Mensch in seinem Leben.
Martin Merana war bei seiner Großmutter aufgewachsen. Er war neun Jahre alt, als seine Mutter unter tragischen Umständen starb. Hier im Haus der Großmutter war er herangereift, groß geworden. Erst nach der Matura war er ausgezogen, um in der Stadt Salzburg zu studieren. Das Studium hatte er nicht beendet. Die Gelegenheit, in den Exekutivdienst zu treten und Kriminalpolizist in Salzburg zu werden, war ihm dazwischengekommen. Seine Arbeit war inzwischen sehr aufwendig. Als Kripochef war er mit den vielfältigsten Aufgaben eingedeckt. Freie Zeit blieb ihm wenig. Aber wann immer er es sich irgendwie einrichten konnte, hielt er Kontakt zu seiner Großmutter. Gelegentlich besuchte er sie sogar in seiner ehemaligen Heimatgemeinde im Oberpinzgau. So auch dieses Mal. Er war gestern, am Gründonnerstag, angekommen. Er hatte Urlaub bis Dienstag nach Ostern. Bis zum frühen Ostermontag wollte er die Zeit zusammen mit der Großmutter verbringen. Ursprünglich hatte er geplant, zusammen mit Jennifer ein paar Tage ins Friaul zu reisen. Doch der unvorhergesehene, aber wichtige Besuch eines Geschäftspartners aus Asien brachte Jennifers Pläne durcheinander. Und so musste sie die Ostertage für eine Reihe von Meetings zu Hause in Hamburg verbringen.
»Und wie deiner feinen Zunge sicherlich aufgefallen ist, Martin, habe ich dieses Mal Knollenwinden dazugegeben. Die habe ich zwar nicht im Garten. Aber der Haspinger hat sie mir empfohlen.« Der Haspinger war der Leiter des kleinen Gemischtwarenladens, der sich im Dorf gehalten hatte, trotz der Konkurrenz durch zahlreiche Großmärkte in der näheren Umgebung. Knollenwinde war ein anderer Name für Süßkartoffel. Da hatte Merana also richtig getippt.
»Und wie du weißt, Martin, gebe ich manchmal Speck in die Gemüsesuppe. Aber natürlich nicht heute.«
Natürlich nicht. Heute war Karfreitag. Da aß man kein Fleisch. Die Großmutter konnte mit vielen Vorschriften der katholischen Kirche eher wenig anfangen. Das wusste er. Von der Ehelosigkeit der Priester und der amtskirchlichen immer noch kuriosen Haltung zur Stellung der Frau hielt sie so gut wie gar nichts. Aber manches aus der christlichen Lehre passte gut zu ihrem Verständnis von Gemeinschaft. Und es harmonierte mit ihrer eigenen Sicht auf die lebensbestärkenden Seiten des Daseins. Deshalb fand sie die Empfehlungen für die Fastenzeit sinnvoll. »Das kannst du in allen Kulturen finden, Martin, nicht nur in der christlich-abendländischen«, hatte sie ihm schon als Kind beigebracht. »Dadurch nehmen wir uns besser aus der Hektik des Alltags zurück. Unerwartete Freiräume tun sich auf, in denen wir uns selbst näherkommen können. Wir reduzieren dabei vieles, nicht nur das Essen.«
Aber das auch. Und so hielt sie sich eben auch an die traditionelle Praxis während der Karwoche. Noch ein wenig mehr fasten. Und kein Fleisch am Karfreitag. Wenig essen am Karfreitag und am Karsamstag, das hatte ihm schon als Kind nie etwas ausgemacht, ihm sogar gutgetan. Er hatte sich dadurch sogar noch mehr auf die Osternacht gefreut. Die kirchliche Osternachtsfeier hatte oft stundenlang gedauert, wie er sich heute noch erinnern konnte. Ihm hatte sie dennoch gefallen.
Anfangs war das Gotteshaus verdunkelt. Es kam zum Einzug.
Lumen Christi! Wie eine helle, nahezu antike Säule hatte der Pfarrer die große Osterkerze vorangetragen. Er selbst hatte immer kräftig mitgesungen. Deo gratias!
Und wie viele andere hatte auch er einen Korb getragen. In dem befanden sich die Speisen. Ostereier, Schinken, Butter, ein von der Großmutter gebackenes Brot in Form eines Osterlamms. Dazu Butter, Salz und frische Kräuter. Und diese Köstlichkeiten wurden noch in der Osternacht feierlich geweiht und am Ostersonntag zum Frühstück verspeist.
»Darf ich dir noch ein wenig Suppe geben, Martin? Es bleibt genug Zeit, bis Salzburg heute beginnt.« Er nahm dankend an. Salzburg heute war die regionale TV-Nachrichtensendung. Er war am frühen Nachmittag mit der Großmutter auf dem Platz zwischen Kirche und Pfarrhof gewesen. Die Ministranten hatten dort ihre selbst produzierten Karfreitagsratschen präsentiert. Auch er hatte sich in seiner Kindheit an diesem weit verbreiteten Brauch beteiligt. Und das mit Begeisterung. Ab dem Abendgottesdienst des Gründonnerstags bis zum Gloria der Osternacht schwiegen die Glocken. Also brauchte es für diesen Zeitraum entsprechenden Ersatz. Und das waren eben die Ratschen, mancherorts auch Kleppern genannt. Meist funktionierte dieser Lärmbrauch so, dass in den speziellen Geräten kleine Hämmer auf Holzbretter schlugen und dadurch ein klapperndes Geräusch erzeugten. Die Ratschen, die er aus seiner Kindheit kannte, waren seiner Meinung nach sogar um eine Spur raffinierter. Da wurde der Lärm mithilfe einer Kurbel ausgelöst. Diese Drehvorrichtung hob die Holzleisten an und ließ sie augenblicklich zurückschnellen. Das verursachte genügend Wirbel. Auch die heute im Pfarrgelände präsentierten Ratschen funktionierten nach der Kurbelmethode. Ein TV-Team war anwesend und hielt die lärmende Präsentation der stolzen Ministrantentruppe mit der Kamera fest. Und davon würde in der gleich folgenden Nachrichtensendung ein Beitrag zu sehen sein. Er blickte kurz zur Uhr an der Wand, deren altertümliches Ziffernblatt von einem Bogen aus dunklem Holz umschlossen war. Ja, es blieben noch gut 20 Minuten, ehe die Sendung anfing. Sie hatten genug Zeit. Also gestattete er sich ein weiteres Stück Bauernbrot und widmete sich wieder der Suppe.
Dann war es so weit. Sie verließen den Essbereich der Küche und wechselten hinüber in die kleine Stube. Die Großmutter reichte Martin die Fernbedienung, er schaltete ein. Das TV-Gerät stand auf einer kleinen Kommode. Ein moderner Flatscreen. Der Bildschirm war zwar nicht sehr groß, aber von bester Ausführung. LED, Dolby, hervorragende Farbqualität und manches mehr.
»Warum soll ich weiter in das alte Röhrenkastl schauen, wenn ich hier so wunderbare Bilder bekomme?«, hatte die Großmutter schon vor vielen Jahren argumentiert, als sie sich den ersten Flachbildschirm anschaffte.
Der Beitrag über die Ratschenbuben war gleich der erste in der Sendung, gestaltet als Aufmacher. Merana schaute aufmerksam zu. Ihn interessierte immer, welches Ergebnis schlussendlich aus den zahlreichen Bild- und Worteinstellungen bei den doch sehr langen Aufnahmen hervorkam. Die Kamera schwenkte vom Kirchturm herunter zum Platz. So begann der Beitrag. Der Lärm der Ratschen war dabei von Beginn an zu hören. Allmählich kamen die Ministranten ins Bild. In der nächsten Einstellung auch ein Teil der Zuschauer. Die Großmutter stieß ein glucksendes Lachen aus, als sie sich selbst entdeckte, an der Seite ihres Enkelsohnes. Man zeigte das Gesicht der alten Frau sogar in Großaufnahme. Zwei der Ministranten erklärten das Innenleben ihrer Lärmwerkzeuge, schwärmten davon, wie sie die Ratschen gebaut hatten. Es kam auch ein Experte ins Bild. Er erklärte die besondere Stellung der Ratschen im Umfeld des Brauchtums. Mit einem letzten Schwenk von der