Salzburgsünde. Manfred Baumann
Читать онлайн книгу.in Begleitung. Mit Ehepartnern, Lebensgefährten. Und das zu Pfingsten.
»Vielleicht bekommen wir sogar Karten für eine Veranstaltung der Festspiele. Das kriegst du sicher hin, Martin. Und dir wird auch sonst etwas Grandioses einfallen, damit für unsere Kollegen der Salzburg-Aufenthalt bleibenden Eindruck hinterlässt.«
Das kriegst du sicher hin, Martin … Ha! Er nahm einen Schluck vom Champagner, dann biss er in eines der Brötchen. Wie stellte sein Chef sich das immer vor? Es war ja nicht das erste Mal, dass Hofrat Kerner ihn zu so etwas drängte. Davon stand nichts in seinem dienstlichen Anforderungsprofil. Er war Leiter der Kriminalpolizei, Chef der Mordkommission und kein Salzburg-Tourismus-Fuzzi. Karten für die Festspiele! Für die Händel-Oper ganz sicher nicht. Wohl auch kein Ticket für die konzertanten Aufführungen der Mozart-Oper. Die waren seit Monaten ausverkauft. Vielleicht gab es noch etwas für eines der geistlichen Konzerte. Wie er wusste, hielt man in der Direktion immer ein paar Extra-Tickets bereit für unvorhergesehene Ereignisse. Im Gegensatz zu den Osterfestspielen waren die Pfingstfestspiele zu seinem Glück nicht eigenständig. Sie waren Teil der Salzburger Festspiele. Also so etwas wie die kleine Schwester der erheblich größeren Sommerfestspiele. Sie gehörten folglich in den Zuständigkeitsbereich der Festspielpräsidentin. Die hatte ihm vorhin ein baldiges Treffen in Aussicht gestellt. Und sie war ihm, Gott sei Dank, wohlgesonnen. Aber sollte er seine gute Beziehung einfach so ausnützen, nur um dem Herrn Polizeipräsidenten einen Gefallen zu erweisen, damit er vor der Chefetage des Innenministeriums glänzen konnte? Er nahm das zweite Lachsbrötchen. Er würde das spontan entscheiden, wenn er das Treffen mit der Präsidentin hatte. Vielleicht würde er sie darauf ansprechen, vielleicht auch nicht. Dann leerte er das Glas. Ein schneller Blick auf die Uhr. Das ging sich noch aus.
»Ich hätte gerne noch einen Dom Pérignon.«
Es war nur eine kleine Bewegung. Fast unscheinbar. Aber das Orchester folgte sofort dem Gestus des Dirigenten. Noam Isenberg hatte nur leicht mit der offenen Handfläche nach unten gewiesen. Merana konnte es von seinem Platz aus bestens verfolgen. Augenblicklich nahmen Holzbläser und tiefe Streicher ihre ohnehin sanft gesetzten Töne um eine deutliche Nuance zurück. Sie umhüllten dadurch fast auf magische Art das gedämpfte Pochen der Pauken. Im selben Moment wurde die Szenerie auf der Bühne heller. Eine Wiese war angedeutet, dazu ein Strauch mit dunklen Zweigen auf der linken Seite. Von rechts näherte sich in langsamen Schritten eine Gestalt. Die weiter anwachsende aufhellende Stimmung machte bald klar, wer mit leicht gehemmten Bewegungen in die Mitte der Bühne schritt. Gurnemanz.
»Von dorther kam das Stöhnen. So jammervoll klagt kein Wild …«
Dem aus Münster stammenden Sänger gelang es wunderbar, die unruhige Verwirrtheit der dargestellten Figur auch in der sorgfältig nuancierenden Bassstimme zu vermitteln.
»… und gewiss gar nicht am heiligsten Morgen heut.«
Der weiche, sanft-feierliche Klang des Hornes betonte die behutsam sich anbahnende besondere Situation. Karfreitagszauber. Erwachen der Kräfte. In der Natur genauso wie in den Herzen der Menschen. Es waren genau solche achtsamen Momente in der Musik, die Merana immer wieder berührten. Und davon gab es, bei aller Dramatik, bei allem Getöse des zur vollen Klangwucht fähigen Orchesters, eine ganze Reihe in dieser Oper. Die dem Spiel zugrunde liegende Geschichte war ihm seit Langem vertraut. Er hatte als Kind viel gelesen. Dazu hatte ihn die Großmutter immer wieder angehalten. Er hatte sich gerne in dicke Bücher versenkt, die mittelalterliche Geschichten erzählten. Zu denen gehörte auch die Sage von Parzival. Der Dichter und Minnesänger Wolfram von Eschenbach hatte diesen ritterlichen Helden sogar in einem eigenen Roman verewigt. Da wird von Parzivals Kindheit und Jugend erzählt, von seinen Abenteuern als Ritter der Tafelrunde in der Gefolgschaft von König Artus und auch von seinen Bemühungen um die Suche nach dem Heiligen Gral. Richard Wagner machte daraus ein »Bühnenweihefestspiel«, wie er es bezeichnete. Er reduzierte, verdichtete die an vielen Geschehnissen reiche Sammlung der verschiedenen Erzählungen. Im Zentrum von Wagners Oper lag nahezu ausschließlich die Gralsthematik, die Geschichte um den wundertätigen Kelch, der in Verbindung mit dem Letzten Abendmahl Christi steht. Dass Wagner eine eigene Version ansteuerte, verdeutlichte der Dichter und Komponist schon in der gewählten Schreibform des Titels. Mit s. Aus Parzifal oder Perceval wurde bei ihm Parsifal. Im ersten Akt trifft Parsifal auf Gurnemanz. Der fürsorgliche Gralsritter befragt den jungen Ankömmling.
»Wo bist du her?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wer sandte dich dieses Weges?«
»Das weiß ich nicht.«
Auch bei diesem schlichten Dialog war Merana von der in jeder Szene deutlich spürbaren Einfühlsamkeit des Basssängers begeistert gewesen. Julian Bremach machte das großartig. Hanno Flesch als Parsifal wirkte dagegen ein wenig steif. Stimmlich gut, aber etwas hölzern in der Bewegung. Das hatte sich im zweiten Akt besser angelassen. In Klingsors Zaubergarten schlug sich Flesch als zwar immer noch naiver, aber allmählich doch heranreifender und immer mehr an Einsicht gewinnender Jungritter ganz gut. Und eines hatte Merana deutlich mitbekommen. In der Szene mit der rätselhaften Kundry, die Parsifal verführen sollte, ließ der Tenor sich voll auf den Spielduktus seiner Bühnenpartnerin ein. Mati Tamm übernahm, gab Tempo und Intensität vor, und Flesch folgte passabel.
Auf der Bühne war ein Stöhnen zu hören. Es kam aus Richtung des angedeuteten dunklen Strauches auf der linken Seite. Gurnemanz, der in der Bühnenmitte stand, nahe am Orchestergraben, reagierte.
»Mich dünkt, ich kenne diesen Klageruf.«
Er eilte hinüber, entdeckte unter dem Strauch eine auf dem Boden liegende Gestalt.
»Ha! Sie! – wieder da?
Das winterlich raue Gedörn hielt sie verdeckt
Nochmals ein kurzes Stöhnen.
Auf! Kundry! Auf!
Der Winter floh, und Lenz ist da!
Erwache!«
Es würde eine Weile dauern, bis Kundry sich tatsächlich erhob. Das war Merana bekannt. Leider würde er die eindrucksvolle Gesangsstimme der großartigen Mezzosopranistin bis zum Schluss nicht mehr hören. Denn Kundry hatte im dritten Aufzug nicht mehr allzu viel zu tun. Sie hatte noch ein wenig Parsifal zu betreuen, ihn mit Quellwasser zu besprengen, ihm beim Ablegen der Rüstung behilflich zu sein. So stand es zumindest in den Regieanweisungen des Librettos. Merana war gespannt, ob man das alles in dieser Inszenierung so überhaupt zu sehen bekam.
Parsifal würde bald im dritten Aufzug erscheinen. Und wie immer der Regisseur die Szene angelegt hatte, Parsifal würde vielleicht gar keine Rüstung tragen, aber wohl den Speer mit sich führen. Den hatte er im zweiten Akt aus Klingsors Zaubergarten zurückgewonnen. Damit würde er die Wunde des Amfortas schließen und gleichzeitig die gesamte Gralsgesellschaft erlösen. Ja, dachte Merana, in dieser Geschichte ging es viel um Schuld und Sühne. Auch um Sünde.
»Von sündigen Welten mit tausend Schmerzen«, singen die Jünglinge bereits im ersten Akt. »Ich, einz’ger Sünder unter allen«, bedauert König Amfortas. Auch Parsifal selbst, der anfängliche reine Tor, der viele Fehler macht, klagt über Sünde und Schuld.
Auch bei diesem Spektakel erging es ihm so wie oft, wenn er ein Spiel auf der Bühne beobachtete, wenn er den Geschehnissen eines Stückes, manchmal auch eines Filmes, folgte. Er saß hier nicht nur als kunstinteressierter Zuschauer, sondern auch als Polizist. Das konnte er nicht abstreifen. Er verfolgte die Handlung. So wie jeder andere auch. Aber ihn interessierten besondere Details, die sich oft gar nicht offenkundig präsentierten. Versteckte Motive, mögliche Gelegenheiten zur Tat, Dialoge, die an Vernehmungen erinnerten, Handlungsstränge, die so konzipiert waren, dass sie von der eigentlichen Wahrheit im Hintergrund ablenkten. Er schrieb oft im Kopf sein völlig eigenes Libretto. Oder, besser ausgedrückt, viele Fußnoten, Anmerkungen, Ermittlerfragen zum Libretto. Er konnte einfach nicht anders. Er war und blieb Kriminalpolizist. Und zwar ein guter.
Ja, dieser junge Mann, der jetzt mit dem Speer auftauchte, hatte einen Fehler gemacht. So erzählte es die Geschichte. Einen entscheidenden Fehler. Er hatte im ersten Akt die falsche Entscheidung getroffen. Er hatte gezögert.