Der Penis-Komplex. Gerhard Staguhn

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Der Penis-Komplex - Gerhard Staguhn


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Sie, wegen der Schleuder, keinen Anderen als David! Ohne dieses Symbol käme wohl niemand auf den Gedanken, im Dargestellten den biblischen David zu vermuten.

      Dabei stört die Steinschleuder massiv die Heroen-Aura. Denn zum Heros antiker Prägung gehört entweder das gezogene Schwert oder der in den Boden gepflanzte Speer oder, im Falle des Herakles, die geschwungene Keule: alles phallische Symbole einer aggressiven männlichen Potenz, wie sie in den antiken Heroen-Darstellungen ihren klassischen Ausdruck gefunden hat. Die Schleuder ist alles andere als phallisch; sie mutet in ihrer rundlich-weichen Form eher weiblich an. Davon abgesehen ist sie aus Heroensicht absolut inakzeptabel: die typische Distanzwaffe für Halbwüchsige und Feiglinge. Ein Heros wirft nicht mit Kieselsteinen; er stellt sich dem Kampf Mann gegen Mann. Und wenn er schon meint, etwas werfen zu müssen, dann ist es der Speer. Von daher erscheint die Steinschleuder auf Davids Schulter geradezu als Persiflage der klassischen griechischen Ikonographie des Helden.

      Dabei erkennt der unbedarfte Betrachter die leicht zu übersehende Schleuder gar nicht als solche. Er sieht in dem schlaff hängenden Gebilde eher ein übergeworfenes Tuch. Dieser nackte junge Mann könnte, das Handtuch lässig über die Schulter gelegt, geradewegs aus einer Sauna kommen. Die typischen Utensilien eines Schafhirten, die in der Bibel auch eigens benannt werden, lässt Michelangelo weg: die Hirtentasche, in der David »fünf glatte Steine aus dem Bach« verstaut hat, und den Hirtenstab. Und was er vor allem weg lässt: die Bekleidung. Natürlich wusste Michelangelo, dass Hirtenjungen auch in biblischen Zeiten nicht splitternackt durch die Gegend gelaufen sind. Und erst recht gilt das für einen Schafhirten, der sich anschickt, einen Riesen von Mann und gefährlichen Krieger zum Zweikampf herauszufordern, zu dem es, durch die tödliche List des Knaben, nicht kommen wird.

      Damit ist eines klar: Michelangelo geht es gar nicht um die Darstellung des biblischen David. Er benutzt ihn nur als literarisches Vehikel. In Wahrheit geht es ihm um nichts anderes als um die Darstellung nackter männlicher Schönheit – und dies in der Tradition der klassischen Antike. Diese Schönheit repräsentierte, neben dem Knabenkörper, vor allem der athletische Körper des gottgleichen Heros. Einen solchen haben wir in Michelangelos David vor Augen, freilich um den Preis einer absichtlichen Verfehlung des Themas durch den genialen Künstler. Der Dargestellte ist zweifellos ein schöner, kraftvoller junger Mann, aber nie und nimmer ist er der biblische David. Das, so ist zu vermuten, war auch Michelangelo klar.

       Das Rätsel um Davids Vorhaut

      Michelangelos Verfehlung des Themas war pure Absicht, und diese erweist sich vor allem an Davids Penis. Das setzt allerdings voraus, dass man diesen sehr genau betrachtet, mehr noch: ihn buchstäblich unter die Lupe nimmt. Zu diesem Penis (samt Skrotum) kehrt der schweifende Blick des Betrachters, wie magnetisch angezogen, immer wieder zurück. Er ist das heraus- und hervorragende energetische Zentrum der Figur, eben weil es das sexualenergetische Zentrum des Mannseins ist.

      An Davids Penis bestätigt sich die These, dass mit dem Dargestellten, Schleuder hin oder her, nicht der biblische Hirtenjunge und spätere König der Juden gemeint sein kann. Denn die fotografische Vergrößerung offenbart, dass dieser Penis unbeschnitten ist und somit nicht der Penis eines Juden sein kann. Oder anders gesagt: Michelangelos David ist ein Jude mit Vorhaut – und damit eine paradoxe Figur. Was sich Michelangelo dabei gedacht hat, wissen wir nicht. Es kann gut sein, dass er sich gar nichts gedacht hat. Vielleicht, dass ihm die Vorhaut einfach so von der Hand gegangen ist, weil ihm die Jüdischheit Davids nicht bewusst oder einfach nicht so wichtig war – der klassische Fall einer verdrängenden Fehlleistung. Vorstellbar wäre immerhin, dass das Christentum der Hochrenaissance, nach Jahrhunderten der Feindschaft zu den Juden, zumindest auf der religiösen Ebene verdrängend vergessen hatte, dass die großen Identifikationsfiguren der Bibel, Jesus inbegriffen, Juden waren, mehr noch: dass die Bibel, mitsamt dem Neuen Testament, ein jüdisches Buch ist.

      Selbstverständlich wusste Michelangelo, dass David als bedeutende Figur des Alten Testaments ein Jude war, aber seine David-Skulptur zeigt, dass auch er es nicht glauben wollte. Oder war Davids Vorhaut am Ende nur eine (unausgesprochene, aber selbstverständliche) Forderung der christlichen Auftraggeber, die Michelangelo zu erfüllen hatte? Streng genommen ist diese Vorhaut, wie Michelangelo sie zeigt, ein fauler Kompromiss: Sie bedeckt die Peniseichel nicht vollständig, sondern lässt deren Spitze hervorlugen. Aus der Distanz könnte man meinen, es mit einem beschnittenen Penis zu tun zu haben. Selbst bei Fotos in Großaufnahme muss man schon sehr genau hinsehen, um den fein herausgearbeiteten Vorhautrand zu erkennen. Irgendwie macht diese Vorhaut den Eindruck, als wäre sie halb beschnitten. Als Arzt würde man vielleicht sogar eine Vorhautverengung (Phimose) diagnostizieren, die aus medizinischen, nicht aus religiösen Gründen eine Beschneidung nötig machen würde.

      Michelangelos David – um die Paradoxie des Dargestellten weiterzuspinnen – ist der Jude, der keiner sein darf. Sonst könnte sich ja kein Christ mit der Figur identifizieren. Er wird von Michelangelo mittels der dargestellten Vorhaut nachträglich christianisiert, freilich nur halbherzig in Gestalt einer ›halbherzigen‹ Vorhaut. Wenn man so will, dann hat Michelangelo seinen David gezwungen, zum Christentum überzutreten. Er lässt an seinem David jenes Wunder geschehen, das einem wirklichen Juden, der zum Christentum konvertierte, versagt bliebe: dass ihm die Vorhaut wieder nachwächst. Dieser von Michelangelo als nackter Riese gestaltete Hirtenknabe tritt uns als ›der Unbeschnittene‹ gegenüber. Exakt als solchen schmäht der biblische David mehrmals seinen gefährlichen Feind. Der David Michelangelos hat sich, im Sinne Nietzsches, selbst in einen unbeschnittenen Goliath verwandelt: Wer gegen Riesen kämpft – bei Nietzsche sind es Drachen –, wird selbst zum Riesen.

      Unabhängig von dieser religiösen Paradoxie der Davidfigur, die sich buchstäblich in ihrer Penisvorhaut zuspitzt, zeigt die gesamte David’sche Geschlechtspartie eine weitere, nämlich biologische Paradoxie: in Gestalt eines Knabenpenis über dem respektablen Skrotum eines erwachsenen Mannes. Dieses Mischensemble wird überdacht von einem regelrechten Gebüsch aus idealisiertem Schamhaar, das züngelnden Flammen ähnelt. Es wirkt wie aufgeklebt und dadurch irgendwie komisch. Es hat etwas von einer übertrieben gelockten Perücke am falschen Platz. Zusammen ergibt das ein ›Gemächt‹, bei dem man nicht so recht weiß, ob man es bewundern oder belächeln soll.

      Und wie steht dieser David überhaupt da! Nun, er steht klassisch-griechisch da: im kokett-femininen Kontrapost, womit der harmonische Ausgleich zwischen Ruhe (des Standbeins) und Bewegung (des Spielbeins) gemeint ist – exakt jene Haltung, die für die griechischen und römischen Heroen-Statuen typisch ist. Doch in einer realen Kampfsituation wird sich kein Mensch so hinstellen.

      Mit seinem David distanziert sich Michelangelo vom päderastischen Körperideal der alten Griechen, obwohl es vortrefflich zu einem Hirtenknaben passen würde. Doch er distanziert sich nicht mit letzter Konsequenz, eben weil er dem Knabenpenis treu bleibt und nur dem Skrotum und dem Schamhaar eine erwachsene Männlichkeit zugesteht. Nun kann man einwenden, dass auch so mancher erwachsene Mann einen knabenhaften Penis haben kann, der sich erst im Erigieren zu einem respektablen Mannsphallus auswächst. Dieser Einwand ist überzeugend, bekräftigt aber letztlich nur die These, dass wir es hier nicht mit dem biblischen Schafhirten David zu tun haben, sondern mit dem Mann an sich, und zwar in der vollen Blüte seiner Männlichkeit. Michelangelo hat sich für den kleinen Penis aus Gründen der klassisch-griechischen Ästhetik entschieden, vielleicht aber auch aus Gründen des christlichen Schamgebots. Immerhin sollte die Monumentalplastik auf dem belebten und repräsentativen Hauptplatz der Stadt Florenz aufgestellt werden. Seit dem Ende der Antike, das heißt seit über 1000 Jahren, wurde damit zum ersten Mal wieder eine monumentale Statue eines nackten Mannes auf einem öffentlichen Platz gezeigt – ein gewiss sehr heikles Unterfangen. Es heißt, dass es über die Jahrhunderte immer wieder zu Anschlägen, etwa Steinwürfen, gegen das Kunstwerk gekommen ist.

      Tatsächlich verschwindet der ohnehin klein geratene Penis fast vollständig hinter dem Skrotum, sobald man als Betrachter direkt vor der Statue steht und von schräg unten, buchstäblich aus der Froschperspektive, auf sie blickt. In direkter Anschauung der David-Figur wird deren Männlichkeit weitaus stärker vom Skrotum und vom Schamhaar als vom Penis repräsentiert. Das Skrotum erscheint nicht als beutelartige, runzelige Hauttasche, sondern die Hoden sind von einer glatten, transparent wirkenden Haut überzogen, sodass sie fast wie bloßgelegt wirken


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