Der Penis-Komplex. Gerhard Staguhn
Читать онлайн книгу.Hoden, griechisch didimoi (Zwillinge), kokkoi (Beeren), kyamoi (Bohnen), orches (Oliven) oder sphairidia (Kügelchen), galten schon den alten Griechen als der eigentliche Sitz einer potenten erwachsenen Männlichkeit. Das bevorzugte Wort für ›männlich‹ war enorcha (hodig). »Der Same«, so meinte der antike, aus Griechenland stammende römische Arzt Galenos (129 – 199), »macht die Männer warm, gelenkig, haarig, tiefstimmig, hochgemut, stark im Denken und Handeln.« Das sind exakt die Eigenschaften, die Michelangelos David ausstrahlt – neben einigen anderen mehr. Davids Skrotum, nicht sein Penis, weisen ihn als ›ganzen Mann‹, als enorches aner, aus, wie die Griechen zu sagen pflegten: als ›Hodenmann‹. Und ein besonders potenter Mann wurde lapidorchas genannt: ›Hodenkönig‹. Einen solchen haben wir wahrhaftig in Michelangelos David vor Augen.
Zusammenfassend kann man sagen, dass Michelangelos David gleich in mehrfacher Hinsicht in sich widersprüchlich ist: Der Dargestellte ist ein Knabe (Lockenkopf, knabenhafter Penis), aber gleichzeitig ein erwachsener Mann (Schamhaar, Skrotum). Er ist ein antiker Heros (Nacktheit), aber ohne Heroen-Waffe; vielmehr trägt er die hinterhältige Waffe des Feiglings. Gleichzeitig ist er ein biblischer Schafhirte, aber ohne die typischen Attribute eines solchen. Der Dargestellte ist Jude (biblischer David), aber ebenso kein Jude (vorhandene Vorhaut). Das will alles nicht so recht zusammenpassen.
Ob Michelangelo mit seiner Skulptur wirklich den biblischen David gemeint hat, ist letztlich zweitrangig. Denkt man sich die überflüssige, weil antiheroische Schleuder weg, dann ist keine bestimmte Person mehr gemeint, sondern, wie schon gesagt, das Ideal der Männlichkeit. Das gilt nicht nur in körperlicher, sondern ebenso in geistiger Hinsicht. In Davids Gesicht spiegeln sich Mut, Willenskraft und Entschlossenheit; sie formen jene markanten Gesichtszüge, wie wir sie, grotesk überzeichnet und zur Maske erstarrt, in den faschistischen Kolossalplastiken wiederfinden. Dort verkehren sie sich in ihr Gegenteil und verweisen auf nichts anderes als männliche Impotenz, die kriegerisch kompensiert werden muss. Durch diesen leeren NS-Klassizismus, ja durch alle klassizistischen Nachahmungen, ist uns die Freude an Michelangelos monumentalem Meisterwerk tatsächlich ein wenig vergällt.
Nicht zuletzt gibt es noch ein Drittes, das, neben Gesicht und Skrotum, in besonderem Maß die Virilität der David-Figur bekundet und den Blick des Betrachters immer wieder auf sich zieht: die rechte Hand. Sie springt nicht nur wegen ihrer fast schon expressionistisch überzeichneten Größe ins Auge, sondern ebenso durch ihre eigenartig gekrümmte, dadurch einerseits gespannte, gleichzeitig aber auch lässige Haltung. Diese Hand ist auf fast schon magische Weise präsent: eine Hand, die ohne Geste auf eindringliche Weise gestisch wirkt. Als meisterhaft durchgearbeiteter Ausdrucksträger der Figur übertrifft sie in ihrer Intensität fast noch das Gesicht und tritt nicht nur in eine spannungsreiche Beziehung zu diesem, sondern viel mehr noch zum Penis. Dieser erscheint im Verhältnis zur Hand noch kleiner, als er eh schon ist. Man stelle sich nur vor, David würde mit dieser Riesenhand sein kleines Ding ergreifen! Es würde zwischen den großen Fingern nahezu verschwinden. Das Spannungsverhältnis zwischen Hand und Geschlecht wäre allerdings auch bei einer normal großen Hand gegeben, insofern die Hand als wichtiges ›Vollzugsorgan der Sexualität‹ eine besondere Beziehung zu den Genitalien hat: jene der Masturbation.
Doch um Masturbation geht es hier nicht. Vielmehr scheint sich die Libido, die Davids Knabenpenis entbehrt, in die Hand verschoben zu haben. Davids ganzer Eros steckt in dieser überdimensionierten rechten Hand; sie ist sein erotischster Körperteil. Sie verkörpert den männlichen Eros, den Davids enterotisierter und dadurch gelähmter Penis nicht haben darf. In dem Maße, wie sich der dem Penis abhanden gekommene Eros auf Davids rechte Hand verschoben hat, verschiebt sich auch das erotische Interesse des Betrachters auf diese Hand, die in ihrer Übergröße und Angespanntheit tatsächlich etwas Erigierendes an sich hat. Die Hand, so könnte man sagen, erigiert stellvertretend für den Penis, der nicht erigieren darf, vielleicht auch gar nicht dazu fähig ist. In dieser Hand konzentriert sich alle sublimierte Libido. Sie ist die schöpferisch erregte Hand des Künstlers, konkret: die Hand Michelangelos, die auf geniale Weise befähigt ist, den Trieb zu sublimieren und in unsterbliche Kunst zu verwandeln.
Und nun stelle man sich, um zum Anfang dieses Kapitels zurückzukehren, das Unvorstellbare vor: Dieser David präsentierte uns eine formvollendete, von Michelangelo meisterhaft ausgearbeitete Erektion! Von einer Sekunde zur nächsten würde die Statue den Schritt vom Erhabenen ins Lächerliche vollziehen – und das, obwohl der ideal gestaltete Phallus, für sich genommen, nichts Lächerliches an sich hätte. Doch es bliebe nicht bei der Komik, die genau genommen eine Situationskomik wäre. In diese mischte sich ein Erschrecken über die rohe Triebseite des Mannes, die sich mit der idealisierten, triebfernen Schönheit des Dargestellten nicht in Einklang bringen ließe. Der Phallus machte auf drastische Weise das Tier sichtbar, das der Mensch, bei aller Ebenbildlichkeit mit Gott, eben auch ist – aber nicht sein will.
Und so kommt endlich die These, die längst im Raum steht: Michelangelos David ist gar nicht David. Aber wer ist er dann? Der soeben verwendete Begriff der ›Ebenbildlichkeit‹ liefert uns eine mögliche Antwort: Vor uns steht Adam, der Ur-Mensch in seiner gottgleichen Riesenhaftigkeit. (Zu diesem passte, nebenbei bemerkt, auch der Stein als Waffe; er war die Distanzwaffe des Urzeit-Menschen.) Vor uns steht der gottgleiche Adam vor dem Sündenfall, der noch keine Eva hat und noch ganz dem Schöpfer gehört, dessen erster Sohn und Geliebter er ist.
Aber er ist noch mehr. Er ist auch Michelangelos Sohn und Geliebter. In seinem David, diesem Adam ohne Eva, kommt Michelangelos eigene Homosexualität zum Tragen, nicht anders als in seinem berühmten Sixtinischen Bildnis von der Erschaffung Adams mit den symbolträchtig sich berührenden Fingern, mit denen symbolhaft die Penisse gemeint sind. Mit seinem David schlägt Michelangelo, über die formale, klassisch-antike Ästhetik der Figur hinaus, den Bogen zur päderastischen Homosexualität der Griechen, die deren plastische Kunst so stark geprägt hat. In der antiken griechischen Homosexualität, so meinte der Psychoanalytiker Otto Rank (1884 – 1939), kommt »die Hochschätzung nicht so sehr der Sexualität, als ihres Produkts, des Sohnes, zum Ausdruck, in dem das eigene Ich und die eigene Seele weiterlebte […] das lebendige Abbild seiner eigenen Seele, die in einem möglichst körpergleichen (oder idealisierten) Ich materialisiert erscheint«. Auch Gott schuf sich in Adam kein rein geistiges Ebenbild. Vielmehr stellt Adam, dieser leibliche Sohn Gottes, eine ebenbildliche Widergeburt Gottes als rein ›körperliches Ich‹ dar. Und dieses ist ausschließlich im gleichen Geschlecht zu finden, das bei einem männlichen Gott nun mal das männliche ist.
Wenn Michelangelos David in Wirklichkeit Adam ist, dann schlüpft der geniale Künstler wie von selbst in die Rolle des Schöpfergottes. Der künstlerische ›Schöpfer-Gott‹ Michelangelo hat sich in der Kolossalstatue des David ein vollkommenes, individualisiertes Unsterblichkeitssymbol geschaffen. Für einen göttlich-genialen Künstler wie ihn ist die Homosexualität, wie bei den antiken Griechen auch, keine bloße Sache der Geschlechtlichkeit, sondern ein Bemühen um die Schaffung der eigenen Wiedergeburt als idealisiertes menschliches Ich. Und dieses Ideal ist der Sohn als Geliebter. Diesen geliebten ebenbildlichen Sohn, und niemand anderen, suchten die Griechen unbewusst in ihrer Knabenliebe. Der biblische David, »bräunlich, mit schönen Augen und guter Gestalt« ist dieser Sohn und Geliebte, den Michelangelo eigentlich meint. Aber er muss ihn, wie Gott, als ganzen Mann, als Adam gestalten, genauer: als heroischen Adam und Ebenbild Gottes. Hierfür hatten die Griechen die Bezeichnung Heros theos (Gottheros). Adam ist nicht nur der gottgleiche erste Mensch, sondern ebenso der erste Held – freilich ein tragischer, wie alle echten Helden. Denn Adam, und darin liegt seine Tragik, ist nicht nur idealer Gottheros, sondern ebenso das triebhafte Menschtier. Aus diesem Gegensatz erwächst das ganze Heroismusproblem des menschlichen Daseins: dieses ewige Scheitern an der Welt und an sich selber.
Um am Ende auf die oben imaginierte Erektion des David/Adam zurückzukommen: Wer genau hinsieht, wird mit etwas Fantasie zu Füßen der Figur eine Art von stellvertretender Erektion entdecken, jenen phallisch aufragenden, die Figur abstützenden Baumstrunk hinter Davids Standbein. Diese symbolische Erektion steht in einem deutlichen homosexuellen Bezug zu David/Adam, indem sie ganz unverhohlen auf sein Gesäß gerichtet ist. David/Adam müsste nur in die Hocke gehen – und schon wär’s passiert!
Und