Hotel Z. Peter Rudolph
Читать онлайн книгу.sie etwas Erhabenes aus. Sie hatte einen Zwiebelturm mit rötlich schimmerndem Dach und ihre Fassade leuchtete in einem freundlichen Ockergelb. Vor der Kirche lag eine kleine Streuobstwiese und dahinter der Friedhof.
Von vielen Verstorbenen gab es Fotos, die auf gusseisernen Kreuzen angebracht waren. Auf Alois’ Grab stand kein Kreuz. Der Rhododendron ließ die Blätter hängen. Maria holte Wasser, goss ihn und setzte sich auf die Bank, die keine fünf Meter vom Grab entfernt stand.
„Weißt du, was mir heute alles passiert ist?“, begann sie langsam. Sie schloss die Lider halb. Wie schön die Stille war! Rotes warmes Licht drang in ihr Inneres, eine Biene landete auf ihrer Hand, krabbelte ein wenig herum und flog dann ohne Hast davon. Sie sog die Luft noch tiefer ein, schloss die Augen ganz, sie fühlte, wie sich ihr Brustkorb im Rhythmus von Flut und Ebbe, Werden und Vergehen, Geburt und Tod hob und senkte. Sie sah sich über der Bank schweben, wenige Millimeter und nur in ihrer Vorstellung, ihre Arme wurden schwer, ihre Hände warm, gleich würde der Moment kommen, in dem sie alles in völliger Klarheit sehen würde.
„Ja, was ist dir denn passiert?“
Maria zuckte zusammen.
Links und rechts von ihr hatten sich zwei Männer niedergelassen, so dicht, dass es kein Zufall sein konnte. Sie musste die Männer nicht anblicken, um zu wissen, wer sie waren. Maria starrte auf den Rhododendron auf dem Grab ihres Freundes. Seine Blätter zitterten im Wind.
„Was macht ihr hier?“, fragte Maria. Es war ein heiseres Flüstern.
„Na, dich beschützen, was denn sonst?“ Der Mann, der links von ihr saß, hatte gesprochen. Seine Stimme war kalt und schneidend.
Maria wandte sich zu ihm um und erschrak erneut. Es schien ihr, als wäre der Mann einäugig. Dass er schielte, war ihr schon beim letzten Mal aufgefallen. Von Schielen konnte jedoch fast keine Rede mehr sein, es war eine freundliche Umschreibung eines Phänomens, bei dem sich eine Pupille aus dem Gesichtsfeld verabschiedete. Weit erschreckender war jedoch das andere Auge. Die Pupille des gesunden Auges durchbohrte sie, es lag etwas Grausames, Unbarmherziges darin.
„Ich brauche euren Schutz nicht.“
„Und ob. Waldwege und Ruinen. Es kann so viel passieren. So eine böse Welt und so ein kleines Mädchen, das kann nicht gut gehen.“
„Ihr seid mir gefolgt?“
„Sicher!“, sagte der Mann, der rechts von ihr saß. Es war das erste Wort, das er sprach. Er hatte eine hohe Stimme und roch intensiv nach Herrenparfum. Eine Hand hatte er auf Marias Oberschenkel gelegt.
„Fast glaube ich, du magst uns nicht. Dabei ist das doch so ein lauschiger Ort hier“, sagte der Schielende.
Eine alte Frau schlurfte tief gebückt an der Bank vorbei. In der einen Hand hielt sie einen Stock, auf der ihr ganzes Gewicht zu ruhen schien. Die andere Hand umkrallte eine Gießkanne, die offenbar ein Loch hatte. Ein kleines Rinnsal ergoss sich auf den Weg. Dass das Mütterlein nicht bemerkte, dass die Kanne sich nach und nach leerte und ihr ganzes Bemühen vergeblich sein würde, war Maria unbegreiflich. Sie versuchte aufzustehen, doch der Parfümierte drückte sie nieder. Festgeklebt zwischen den beiden Schatten saß sie wieder auf der Bank.
„Es gibt ja Menschen, die macht so ein Ambiente hier richtig scharf“, fuhr der Schielende fort.
„Ja, und euch beide schätze ich genauso ein.“
„Vorsicht!“, sagte der Parfümierte und trat ihr mit Wucht auf den Fuß. Maria stöhnte auf. Trotz des Schmerzes wollte sie wieder aufspringen, doch da stand jemand, direkt vor der Bank.
„Die Kanne hat ein Loch.“ Die alte Frau lachte und ein einziger Zahn in ihrem Mund lachte mit. Sie schien jetzt weniger gebrechlich zu sein. Die Spitze ihres Stockes schwebte in der Luft und Maria hätte sich nicht gewundert, wenn sie ihn herumgewirbelt hätte wie Charlie Chaplin. „Ihr seid doch zwei stramme junge Burschen. Seids doch so gut und helft einer alten Frau mit dem Wasser.“
Die beiden blickten hasserfüllt um sich, aber sie erhoben sich. „Morgen um sechse sind wir bei dir. 2000 in bar. Die Zeit der Rabatte und Sonderangebote ist leider vorbei, Mädchen“, raunte ihr der Schielende zu. Er trug einen dunkelblauen Anzug, der ihm offensichtlich zu groß war. Wahrscheinlich hatte er nichts anderes und benutzte ihn auch als Schlafanzug, dachte Maria in einem Anflug von Hass. Sie versuchte sich wie ein Blutegel an seinem Gesicht festzusaugen, sich jede Unebenheit und überhaupt alles zu merken. Aber sie kam nicht sehr weit, denn der Mann schien ihre Gedanken zu erraten und wandte sich schnell um. Das Einzige, was sie wirklich erkannte: Er war jünger als sie und seine Augenwimpern waren länger als ihre.
„Und wenn ihr fertig seid, Egon und Josef, wenn ihr fertig seid, mit dem Wasser meine ich, dann geht ihr schön nach Hause, nicht wahr?“ Die alte Frau lachte immer noch oder schon wieder. Hinterher war sich Maria sicher, dass sie ihr zugezwinkert hatte.
5. KAPITEL
„Sie heißen Egon und Josef.“ Maria musste den Kopf nach rechts wenden, um den Kommissar zu sehen, der etwa fünf Meter von ihr entfernt hinter einem schweren Schreibtisch thronte. Sie selbst saß verloren an der Längsseite eines länglichen Holztischs, der zwei Drittel des Raumes ausfüllte und für Konferenzen gedacht schien. Die beiden Stühle zu ihrer Rechten waren frei geblieben. Es war speziell dieser eine Stuhl gewesen, der dritte der Reihe, den ihr der Kommissar angeboten hatte.
„Und wie weiter? Ich meine: Egon wie und Josef wie?“
„Keine Ahnung. Egon und Josef halt.“
„Und die alte Frau konnte Ihnen nichts sagen? Keinen Nachnamen?“
„Sie war dann fort. Wie vom Erdboden verschluckt.“
„Verstehe. Na ja, viel ist es nicht. Aber besser als nichts. Es ist ein Ansatz. Ich schaue im Computer nach.“ Seine Finger flogen über eine Tastatur und sein Gesicht verschwand hinter der Rückseite eines Flachbildschirms.
Der Marktplatz lag in prallem Sonnenschein. Touristen und Einheimische genossen den warmen Spätsommer. Die Cafés waren gut besucht. Gerne hätte Maria auch einen Espresso getrunken. Aber noch lieber hätte sie ihren eigenen Körper verlassen. Sie war besudelt, befleckt, die Schweine hatten sie angefasst. Das Parfum des einen klebte an ihr wie Pech. Morgen würden ihre Oberarme übersäht von blauen Flecken sein. Wie ein Zombie war sie vom Friedhof auf den Marktplatz gewankt. Die Leute waren vor ihr zurückgewichen wie vor einer Aussätzigen. Stundenlang, jedenfalls gefühlt, hatte sie sich Gesicht, Hände und Arme mit dem Wasser des großen Brunnens gewaschen und dann den geschwollenen Fuß gekühlt. Die Leute, Touristen mit Rucksack und Einheimische, hatten sie betrachtet wie eine Drogensüchtige. Eltern hatten ihre Kinder weggezogen. „Komm, lass die Frau!“ Als sie dann zügig weiter Richtung Kommissariat hatte gehen wollen, hatte sie der Schwindel gepackt. Schwindel und ein fast kompletter Verlust der Orientierung. Sie war zu einem der Marktstände gewankt und hatte sich Trauben gegen die Unterzuckerung gekauft. Der Verkäufer, eigentlich ein Bekannter, hatte sie nicht erkannt. „Ich bin es doch, Maria“, hatte sie noch gesagt, aber offenbar zu leise und außerdem war es gelogen. Sie war nicht sie selbst. Die Trauben hatte sie verschlungen wie ein Tier. Trotz der Trauben im Bauch hatte sie die Häuser um sich herum kaum erkannt. Mit mehr Glück als Verstand hatte sie hierhergefunden. Die Frau an der Anmeldung hatte ihr ungefragt ein Glas Wasser gebracht und ihr einen Stuhl untergeschoben. Inzwischen ging es ihr etwas besser und trotzdem hätte sie sich gerne gehäutet, mindestens.
„Registrierte Josefs gibt es 7812. Bei den Egons sieht es besser aus. Nur 899“, sagte der Kommissar, dessen Gesicht wieder neben dem Flatscreen auftauchte. Er verzog die schmalen Lippen zu etwas, das einem Lächeln ähnlich war. Er war jünger als Maria und hatte sich passend zu den Lippen einen schmalen Oberlippenbart wachsen lassen. „Die Bilder sind wir ja schon das letzte Mal durchgegangen. Ist Ihnen diesmal irgendetwas aufgefallen? Eine Narbe, eine Tätowierung vielleicht?“
„Leider nicht. Beide sind um die dreißig, vielleicht knapp darunter, und sprechen so, als kämen sie von hier. Der eine schielt stark. Sein rechtes Auge driftet ab.“
„Der