Hexengruft – Abenteuer in Moorland. Ralph Müller-Wagner
Читать онлайн книгу.verschafft. Da beginnt wiederum das Klopfen. Siebenmal hintereinander, genauso zaghaft wie zuvor. Es ist ein hölzernes, melodisches Geräusch, von hohen und tiefen Tönen.
Felix geht ein Licht auf. Andrea! Die Schwester spielt ihm einen Streich, klopft mit einem hölzernen Gegenstand gegen die Wand, vermutet er. Ihr Zimmer befindet sich gleich neben seinem. Dass sie noch wach ist, wundert ihn zwar, ist jedoch nicht zu ändern. Wieder steigt er aus dem Bett. Schleicht sich mit seiner Taschenlampe auf Zehenspitzen zu ihrem Zimmer, macht leise die Tür auf und schaltet die Lampe an. Andrea ist aber nicht zu sehen, also kann sie auch nicht geklopft haben. ‚Wahrscheinlich ist sie aus Angst vor dem Unwetter in das Schlafzimmer der Eltern geflüchtet, die Heulsuse’, denkt Felix.
Nachdenklich geht er in sein Zimmer zurück. ‚Wenn sie es nicht gewesen ist, wer denn sonst?’ Felix ist unwohl bei dem Gedanken, denn es ist immer noch Geisterstunde. Und wenn er sich alles nur einbildet? Verwundern würde es ihn gar nicht, bei seiner blühenden Fantasie.
Wieder klopft es. Es ist ein gleichmäßiges Klopfen, neunmal hintereinander. Das Geräusch kommt aus der Richtung des alten Kleiderschrankes, auf den Felix sehr stolz ist. Niemand hat so ein wertvolles Teil. Es ist aus Rio-Palisander gefertigt. Eine edle Holzart, die in Brasilien beheimatet ist. Furniere für den Innenausbau, Musikinstrumente, Wasserwaagen, Möbel oder Messerhefte lassen sich aus dem Holz anfertigen. Der schokoladenbraune Schrank ist weit über dreihundert Jahre alt, weiß Vater zu berichten. Er ist so schwer, dass hundert starke Männer ihn nicht von der Stelle bewegen können. Felix liebt das matt glänzende Möbelstück mit dem aromatisch süßlichen Geruch, dessen Holz auch in der frühen Fantasy-Literatur seinen ewigen Platz gefunden hat. In Alexander Wolkows spannendem Kinderbuch »Der schlaue Urfin und seine Holzsoldaten« hat dieser Urfin jene aus Palisanderholz hergestellt. Ein Zauberpulver verhilft den ungemütlichen Gesellen später zum Leben. Ob der Schrank vielleicht auch …, nein! Niemals, unmöglich! Hier ist nicht die Fantasie-Welt eines Schriftstellers, sondern die Wirklichkeit!
Felix weiß nicht warum, aber er kriegt eine Gänsehaut. Ihm fröstelt, es wird stetig kälter im Zimmer. Wie in einer frostigen Winternacht. Er spürt echt seinen Atem, der in Form kleiner Nebelwölkchen die eiskalte Luft erwärmt. Rasch flieht er unter die Bettdecke. Hui, ist es da kuschelig.
Das geheimnisvolle Klopfen lässt Felix nicht in Ruhe. Ob es vielleicht Andrea ist?
»Komm schon aus dem Schrank, kleine Schwester!«, ruft er siegessicher. »Wenn du mich ärgern willst, musst du dir etwas anderes ausdenken. Von dir lasse ich mich noch lange nicht verkohlen.«
Niemand antwortet. Nur ein dumpfes Donnergrollen ist zu hören. Felix stutzt. Andrea hätte sofort auf seine Äußerung reagiert, aber er versucht es noch einmal. »Nun komm schon, das ist doch langweilig und für kleine Kinder. Denkst du, ich weiß nicht, dass du im Schrank hockst?«
Als Antwort schlägt jemand vehement von innen gegen die Schranktür, die jetzt leicht vibriert. Im ersten Moment ist Felix erschrocken. Dann glaubt er seinen Augen nicht zu trauen. Ein mattes rötliches Licht umhüllt plötzlich den Schrank und durchflutet bald den ganzen Raum. Jetzt kann Felix deutlich seinen Atem sehen. Seine Augen werden immer größer. Was passiert da mit ihm? Wird er Kronzeuge einer unheimlichen Begegnung?
Sein Staunen will kein Ende nehmen, als sich der schwere Palisanderschrank wie von allein ungefähr einen halben Meter vom Boden abhebt. Felix kriegt seinen Mund gar nicht mehr zu, so gefesselt ist er von der makaberen Situation. Es gruselt ihn. Ein eiskalter Schauer fährt über seinen Rücken. Findet das alles wirklich statt oder träumt er mit offenen Augen? Hat er zu viele Gespenstersterbücher gelesen? Felix will sich den Schrank mit der Taschenlampe genauer anschauen, doch sie funktioniert nicht mehr. Eine Geistererscheinung in seinem Zimmer? Wie seltsam. Daran wagt der entsetzte Junge nicht zu denken.
Felix spürt sein Herz schneller schlagen. Ist das vielleicht die Angst? Nein, er hat keine Angst. Es ist eher die Neugier. Sie drängt ihn, die Situation endlich aufzuklären. Aber wie soll er das anstellen? Wäre doch Sebastian jetzt hier! Der Freund wüsste bestimmt einen guten Rat. Er könnte ihn ja anrufen, auch wenn es mitten in der Nacht ist. Wäre sozusagen ein Notruf. Schon will er den Gedanken in die Tat umsetzen, sein zweites Ich hindert ihn jedoch daran. Das macht es immer, wenn Felix zweifelt und das ist gar nicht so schlecht, wie er aus Erfahrung weiß.
Minuten vergehen, die dem Jungen wie Stunden erscheinen. Der Schrank schwebt immer noch über dem Boden. »Hallo! Ist da jemand!«, ruft Felix couragiert, während seine Augen das schwere Möbel scharfsinnig beobachten. Er bekommt keine Antwort, auch als er seine Frage noch einmal wiederholt.
Dafür senkt sich der Schrank wieder und will gar nicht mehr aufhören. Immer tiefer versinkt er im Fußboden, um wenige Augenblicke später abermals aufzusteigen. Dann schlägt es heftig gegen die Schranktür, dass diese nur so erzittert. Felix zuckt erschrocken zusammen. Hernach dringt grüner Nebel in Form winziger Ringe aus den Ritzen des Schrankes hervor. Sie schweben bis zur Zimmerdecke empor, bilden dort einen quadratischen Teppich. Es sieht aus wie ein Gitter. Felix ist nun sonnenklar, dass ihm jemand etwas mitteilen will.
Kurz darauf erklingt mittelalterliche Musik auf einer Laute. Es ist eher eine traurige Melodie, die Sehnsüchte erweckt und Suche nach Geborgenheit. Dann hört Felix irgendwen leise schluchzen. In diesem Moment beginnt das Licht wieder zu brennen. Das grüne Nebelgebilde zieht sich blitzartig in den Schrank zurück. Felix sammelt all seinen Mut zusammen. Er springt aus dem Bett, läuft zum Schrank und kriegt wieder eine Gänsehaut. Auf der rechten Schranktür ist das Gesicht eines Knaben eingraviert. Ein frohes Gesicht, aber auf einmal verändert es sich. Der Knabe weint Bluttropfen. Sie rinnen in winzigen Bächen die Schranktür herunter und verschwinden in seinem unteren Teil.
Plötzlich spürt Felix so richtig Angst. Seine Knie schlackern, er kann sich nicht von der Stelle bewegen, ringt nach Luft. Ja, ihm ist sogar furchtbar übel. Doch genau so plötzlich, wie es begonnen hat, endet das unheimliche Spektakel wieder. Felix schaut auf den Wecker. Genau eine Stunde nach Mitternacht. Ende der Geisterstunde. Es geht durch und durch mit ihm. Was hat er da bloß erlebt?
3. Kapitel: Wenn Freunde streiten
Am nächsten Morgen sitzt Felix abwesend in der Küche beim Frühstück. Die Mutter hat frische Semmeln vom Bäcker geholt. Sie weiß, ihre Kinder mögen diese besonders gern. Doch Felix kriegt heute keinen Bissen herunter. Er trinkt nur ein Glas Orangensaft. Die ganze Nacht hat er kein Auge zugedrückt. Zu sehr beschäftigen ihn jene geheimnisvollen Ereignisse in seinem Kinderzimmer. Fragen, auf die Felix immer noch keine Antworten hat.
»Ist dir etwa eine Laus über die Leber gelaufen?«, scherzt die Mutter mit freundlicher Miene. »Und das am ersten Ferientag. Die Sonne scheint. Der Morgen ist klar und Lisa scheint auch über den Berg zu sein. Übrigens glaube ich, du könntest viel bessere Leistungen in der Schule bringen, als dein Zeugnis hergibt, mein Junge. Vielleicht liest du ja die falschen Bücher. Ich meine: Lesen ist schon prima. Doch immer nur Fantasy? Weiß nicht, ob das so richtig ist. Außerdem träumst du mir zu viel. Dein Verhalten hier liefert mir wieder einmal den Beweis. Befasse dich lieber mit realen Geschichten. Es gibt so schöne Pferdebücher.«
‚Sie hat mein Zeugnis also gesehen’, denkt Felix, während er endlos mit dem Löffel in der Tasse herum rührt. Am liebsten würde er sich die Ohren zuhalten. Besser, er sagt gar nichts zu diesem Thema, sonst beruhigt sich Mutter den ganzen Tag nicht und seine Ferien sind im Eimer. Dabei ist Fantasy etwas sehr Schönes. Es fördert die Kreativität. Man, den Spruch hat er neulich von Sebastian gehört. Was hat er damals gesagt? ‚Träumer haben keinen Plan. Aber Realisten besitzen keine Visionen’. Recht hat er, sein bester Freund. Fremde Welten erschaffen, wo andere Naturgesetze gelten. Tapfere Helden, im ewigen Kampf gegen das Böse. Ritter, Schwertkämpfe und gefährliche Drachen. Davon hat Mutter eben keinen blassen Schimmer. Aber dafür kann sie natürlich nichts. Sie ist eine sich sorgende Mutter und Ehefrau. Der Felix versteht das und deswegen liebt er sie auch, so wie sie ist.
»Oh ja, Mama. Ich liebe natürlich Pferdebücher. Der Felix hat sicher die halbe Nacht Gespenstergeschichten gelesen«, stichelt Andrea los. »Darum ist er heute so müde und schaut aus wie sieben Tage Regenwetter.«
Als