Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil

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Der Flügelschlag des Zitronenfalters - Martin Scheil


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andere wahrscheinlich die sieben Leben einer Katze bräuchten. Mag sein Betrieb auch klein sein, er hat ihn Kraft seiner Hände aufgebaut, ihn auch durch schwierige Zeiten gelenkt und nunmehr an seinen ältesten Sohn Walter übergeben.“ Er deutete auf den jungenhaften Mann in der ersten Reihe. „Aber was ihn vor allem auszeichnete war seine Menschlichkeit. Entlassungen hat es bei ihm nicht gegeben, niemals. Und erinnert sich nicht der ein oder andere an den unbekannten Weihnachtsmann, der auf einmal vor der Tür stand und Geschenke reichte, als das Geld auch mal knapp und die Not groß war?“ Die, die es wussten nickten, einer sagte leise „Jawohl“, und Pfeffer machte erneut eine kleine Pause. Wieder Schluchzen, diesmal schon mehr, deutlicher, und aus den Augen der meisten sprach nun erkennende Zustimmung. Er hatte sie. Jetzt hatte er sie alle. Er spürte die Erleichterung und war nun fast beschwingt.

      „Und seine Familie, die er so sehr liebte – keiner soll sagen, er hätte sich nicht gekümmert. Joseph Rebschläger war ein liebender Ehemann, ein gütiger Vater und ein aufopferungsvolles Familienoberhaupt. Es zerreißt mir das Herz in der Brust, wenn ich Sie nun hier ansehe“, er blickte ein wenig übertrieben zu der Witwe und da plötzlich – Jawollja! Sie weinte große Kullertränen! Volltreffer! Besser geht’s nicht. Jetzt nur nicht nachlassen! „Wenn ich Sie ansehe und nicht einmal annähernd Ihren Verlust ermessen kann. Und doch weiß ich eins: so wie ich Ihn kenne, wird er von da, wo er jetzt ist, weiter über Sie wachen und seine Hand schützend über Sie halten. Es mag Sie, es mag uns alle nicht trösten, darum zu wissen, denn für uns ist er fort. Doch lebt er fort, lebt in allem, was uns umgibt weiter. In Seinen Kindern, in seinem Schaffen, in all unseren gemeinsamen Erinnerungen, und wir dürfen nie aufhören, sie dem Vergessen zu entreißen. Nein, ich kannte unseren Joseph nicht. Aber wenn ich heute einen Wunsch frei hätte, dann wünschte ich mir, dass ich ein bisschen so sein könnte wie er. Dass wir alle ein bisschen so sein könnten wie Joseph Rebschläger.“

      Er blickte nach unten, strich sich eine Träne aus dem Auge, die gar nicht dort war und ließ wiederum das Gesprochene wirken. Er hatte sie tatsächlich erreicht. So viele Tage hatte er sich auf diesen Moment vorbereitet, so lange an seiner Rede gefeilt, so oft vor dem Spiegel geübt, aber dennoch war ihm beim Anblick der vielen in Trauer aufgelösten Menschen beinahe schlecht vor Angst geworden. Nun jedoch spürte er auf einmal wieder dieses triumphierende Gefühl in sich, es geschafft zu haben, dieses Hochgefühl der Freude über seine Arbeit, dass er seit seinen Tagen beim Weser-Land-Blatt so schmerzlich vermisst hatte. Darüber hinaus gab es ja schließlich auch noch Geld und zwar keinen Pappenstiel, wie Pfeffer erstaunt hatte feststellen müssen, als er das erste Kuvert erhalten hatte.

      Er musste plötzlich darüber nachdenken, welch absurde Windungen das Leben doch zu nehmen pflegte. Immer dann, wenn man am wenigsten damit rechnete. Das Schicksal ist eben ein wirrer Stratege, dachte er sich und musste unwillkürlich an jenen Augenblick vor nun gut drei Wochen denken, als der Platz ihm gegenüber im Sattelschlepper auf einmal von einem unbekannten Fremden besetzt worden war. Hatte er ihn eigentlich begrüßt? Hatte er ihm einen guten Abend gewünscht oder ihm ein eher gängiges Moin über den Tisch geworfen? Er konnte sich nicht mehr genau darauf besinnen. Das erste, woran er sich in der Rückschau erinnerte, war jener Satz, den er Zeit seines Lebens nicht mehr vergessen sollte.

       III.

      „Ich bin vom Bundesnachrichtendienst“, hatte der Unbekannte gesagt. Und er sagte es so ernst und bestimmt, dass Richard genannt Rick Pfeffer sich an seinem tiefen und sonst so geübten Zug Pils verschluckte und laut prustete.

      „Wollen Sie mich verscheißern, oder was? Sie sind doch nicht vom BND!“ Pfeffer sagte es mit aller Strenge, um sich seine Unsicherheit nicht anmerken zu lassen. Innerlich jedoch rasten seine Gedanken. Hatte er jetzt ein Problem? Was konnten die von ihm wollen? Hatte er mit irgendwas richtigen Mist gebaut? Musste er ins Gefängnis? Ohgottohgottohgott! Bloß nicht ins Gefängnis.

      „Nein, das will ich nicht, Herr Pfeffer. Ich bin Oberleutnant Hans Müller, und ich arbeite für den Auslandsgeheimdienst der Bundesrepublik Deutschland. Und bevor Sie fragen: Nein, natürlich ist das nicht mein richtiger Name.“

      „Müller also“, sagte Pfeffer, „Haben Sie irgendeinen Ausweis oder so was? Ich meine, können Sie das beweisen?“

      „Wie wäre es damit!“, sagte Hans Müller, zog sein Jackett zur Seite und Pfeffer konnte einen ledernen Pistolenholster mit der darin befindlichen Waffe sehen. Jetzt wurde ihm schlecht. Er hatte noch nie in seinem Leben eine Waffe so nah gesehen, höchstens mal bei den BGS-Leuten während der Rasterfahndung. Aber die wollten ja damals nichts von ihm, die waren ja auf die Meinhof und den Baader mit ihrer Schweinebande aus. Solange Sie nicht auf Dich gerichtet sind, nimmst Du Waffen kaum wahr. Das war auch bei einem Rick Pfeffer nicht anders. Jetzt aber saß ihm jemand gegenüber, der gerade noch ein völlig Fremder war, ihn direkt ansprach und eine Pistole bei sich trug, und das war der Moment in dem Rick Pfeffer echte Angst bekam.

      Müller indes musste wohl Pfeffers plötzlichen Stimmungsumschwung bemerkt haben, denn er zog schnell wieder das Jackett vor die Brust während er sagte: „Keine Sorge, Pfeffer, ich werde Sie schon nicht erschießen. Da wäre ich ja schön blöd!“ Er lachte jetzt und klang sanfter.

      „Schön blöd?“ Rick Pfeffer war irritiert.

      „Schön blöd, weil ich mich ja mit Ihnen unterhalten will. Tote reden nicht, Pfeffer.“ Jetzt schmunzelte er sogar. „Glauben Sie mir, ich muss es wissen.“

      Hans Müller trank den Rest seines Bieres in einem Zug aus, stellte das Glas auf den Untersetzter, faltete die Hände vor sich auf dem Tisch und sah Pfeffer einige Momente in stiller Freundlichkeit an.

      „Kann ich Ihnen erst mal einen ausgeben? Auf den Schreck meine ich?“

      Pfeffer nickte und trank nun seinerseits das Glas leer.

      „Und einen Schnaps dazu“, sagte er noch immer ein wenig abwesend. Der nun nicht mehr ganz so Fremde, der sich ihm als Hans Müller vorgestellt hatte stand auf, ging beinahe übertrieben lässig und schwungvoll zum Tresen und bestellte wie gewünscht. Dann kam er zurück, setzte sich wieder hin, und beide sagten kein Wort ehe nicht die Gläser mit dem frischen, schäumenden Bier von der Bedienung vor sie auf den Tisch gestellt wurden. Und für Rick Pfeffer einen Schnaps nebenbei.

      „So, jetzt wollen wir uns erst mal aufwärmen!“ Hans Müller hob sein Glas und deutete Pfeffer zu, anzustoßen. Der hingegen war noch mit dem Schnaps beschäftigt, welchen er ums Neue in einem Zug hinunterkippte, sich kurz schüttelte, das kleine, schwere Glas auf den Tisch stellte und erst dann die Biertulpe anhob und mit seinem Gegenüber anstieß.

      Müller trank einen nicht mehr ganz so tiefen Schluck, und während er sich den Schaum noch mit dem Handrücken von der Lippe wischte, entfuhr ihm ein wohliges „Ahhh!“ Er stellte das Glas ab und sah Pfeffer an.

      „Ich will nicht lange drum herumreden, Pfeffer. Wir beobachten Sie schon einige Zeit, und uns gefällt, was Sie tun. Also, vielmehr, was Sie getan haben. Einer wie Sie kann in Pullach viel Kredit erwerben.“

      „Kann er das?“, raunte Pfeffer, nun schon weniger ängstlich, dafür aber beginnend misstrauisch.

      „Ja, das kann er. Sehen Sie, die Expansion des Kommunismus ist nach wie vor die größte Gefahr für unser Land, Pfeffer, Sie als Journalist sollten das wissen. Die UdSSR ist kein nach Innen gerichtetes System mehr wie in den zwanziger oder von mir aus dreißiger Jahren. Seit dem Zweiten Weltkrieg haben die Kommis immer weiter an Boden gewonnen. Haben Sie das von Gorbatschow gelesen? Diesen ganzen Unfug über Glasnost und Perestroika? Seit er letztes Jahr angetreten ist, versucht er, dem Westen in die Manteltasche zu springen. Wenn Sie mich fragen, ist das alles nur wieder eine abgekartete rote Masche. Bei Stalin oder Chrustschow, da wusste man, woran man war. Aber heute ...!“ Er machte eine abschätzige Handbewegung. „Seit Breschnew abgenippelt ist, geht es im Politbüro zu wie in einem Wanderpuff. Erst Andropow, dann Tschernenko, jetzt Gorbatschow – was weiß ich denn, wer da nächstes Jahr im Sessel sitzt. Wenn Sie mich fragen, steht denen seit Afghanistan das Wasser bis zum Hals, und bevor die Genossen dicke Backen machen, versprechen sie Dir lieber erst mal das Blaue vom Himmel. War doch schon immer so. Und während das alles läuft, hat der kleine Bruder in Berlin


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