Der Flügelschlag des Zitronenfalters. Martin Scheil
Читать онлайн книгу.Schleier konnte er sich an das Gespräch erinnern. Das Geld allerdings fühlte sich echt und, wie gesagt, sehr gut an. Er klopfte sich mit dem Bündel Scheine bedächtig auf die Handfläche, während er seine Optionen durchspielte. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass er das Geld wohl gut gebrauchen konnte. Außerdem, wie sollte er es auch zurückgeben? Und was würde dann mit ihm passieren? Also beschloss Rick Pfeffer an jenem Morgen um viertel nach Zehn auf seinem Toilettendeckel sitzend, zu jenem Beerdigungsinstitut zu fahren und seine erste geheimdienstliche Tätigkeit aufzunehmen.
Und dann war alles ganz schnell gegangen. Es schien, als ob der Inhaber schon auf ihn gewartet hatte. Er stellte keinerlei Fragen, zumal keine unangenehmen, sondern begrüßte ihn direkt mit Namen.
„Richard Pfeffer, richtig?“
„Derselbe. Aber sagen sie ruhig Rick.“
„Was? Wie auch immer. Ich hatte ehrlich gesagt später mit Ihnen gerechnet, aber so ist es natürlich noch besser. Hat man Ihnen schon erklärt, was Sie hier tun sollen?“, fragte er, während er ihn zum Büro führte.
„Ehrlich gesagt nein. Hat es was mit den Toten zu tun? Muss ich ... also, muss ich die anfassen?“
Der Inhaber lachte laut. „Nein, mein Lieber. Wir sagen hier übrigens Verstorbene. Und die überlassen Sie mal schön mir. Sie werden eher mit den Lebenden zu tun haben.“
Und dann erklärte er Ihm, wie genau sein neuer Job als Miet-Grabredner aussehen würde, und dass es zwar Miet-Grabredner hieß, er ihm aber leider nichts bezahlen könnte. Aber – man wisse ja – es gebe noch andere Arrangements, Bargeld auf die Hand oderwassonstnoch und eigentlich wolle er davon auch ansonsten lieber nichts wissen. Aber anständig leben muss man ja auch und vor allem wenn man den ganzen Tag vom Tod umgeben ist. Das letzte Hemd hat keine Taschen und so weiterundsofort.
Und nun, knappe drei Wochen später, hatte er bereits seine dritte Grabrede gehalten, stand vor der trauernden Gemeinde und ließ den letzten Satz seiner Rede noch ein wenig nachwirken, bevor er sein Skript zusammenklopfte, es übertrieben sorgsam faltete, um sich anschließend wieder auf seinen Platz zu begeben. Die Zeremonie folgte der von den Angehörigen bestimmten Liturgie und anschließend wurde Joseph Rebschläger, den Rick Pfeffer nicht gekannt hatte pietätvoll unweit eines kleinen Birkenhains beigesetzt. Pfeffer kondolierte als einer der ersten und wurde von der Witwe zum anschließenden Leichenschmaus eingeladen.
„Sie haben das gut gemacht, Herr Pfeffer. Ehrlich. Joseph hätte es gefallen. Kommen Sie doch auch mit in die Kate und essen etwas mit uns, ja?“ Er nahm an.
In der Kate, die eigentlich Bauernkate hieß, saß Pfeffer dann in seinem schwarzen Anzug still am Tresen und trank sein Bier. Kaffee hatte er nicht gewollt, da er den hinterhältigen Fleck am Revers noch nicht vergessen hatte. Wie Du mir und so fort. Hin und wieder sprach ihn jemand an und bedankte sich für die „lieben Worte“, oder die „schöne Rede“. Ein sehr dicker Mann mit Glatze kam auf ihn zugewankt, schlug ihm für seine Statur viel zu leicht anmutend mit der flachen Hand auf die Schulter, ließ diese dort kurz verweilen, nickte anerkennend und wankte wieder davon. Einfache Menschen, einfache Gesten. So war das wunderschöne Landleben nun mal. Und so ging es weiter, etwa eine halbe Stunde lang und Richard genannt Rick Pfeffer war die ganze Zeit stumm geblieben. Was auch hätte er über den Verstorbenen sagen können, dass er nicht schon vorhin in der Kapelle gesagt hatte. Hatte er sich ja auch nur aus der Nase gezogen. Taschenspielertricks. Und indem er all die Menschen beobachtete, die gekommen waren, um Joseph Rebschläger die, wie es so schön hieß, letzte Ehre zu erweisen, begann Pfeffer zu sinnieren, wer wohl zu seiner eigenen Beerdigung mal kommen würde. Kinder hatte er keine, auch die Verwandtschaft war rar gesät und mit den meisten hatte er sich ohnehin schon vor Jahren überworfen. Seine Frau, ja, die würde wohl kommen. Vorausgesetzt, sie hätte ihn nicht selbst umgebracht, dann dürfte es schwierig werden. Grund genug hatte sie wohl, das stand mal fest. Ja, Freundschaften zu schließen war nie seine Paradedisziplin gewesen und wozu auch. Die meisten die er kennenlernte waren entweder schmierig oder neidisch. Oder beides. Oder totale Kulturbratzen, Kobolde und dumme Fritten. Er hatte es nie lange mit denselben Leuten ausgehalten und sie auch nicht mit ihm. So war er eben. Hard to handle, easy to hate. Das war doch aus irgend so’nem Song ... Aber dass er nicht den einen, echten, richtigen Kameraden hatte, das war schon traurig. In gleichem Schritt und Tritt, mein guter Kamerad. Einmal gab es einen, der hätte es werden können. Er hatte ihn damals in Bremen beim Joggen getroffen. Das war in der Zeit, als er bei der Polizei-Pressestelle gearbeitet hatte. Alles dort hatte ihn fasziniert und er bewunderte, wie die uniformierten Männer jeden Tag auf die Straße gingen, um für Recht und Ordnung zu sorgen. Was los hier? Erstma Ausweis zeigen, junger Mann! Als er dann selbst mit dem Gedanken zu spielen begann, Polizist zu werden, wurde ihm sehr schnell klar, dass er sich hierfür vor allem körperlich in Form würde bringen müssen. Keine Zigaretten mehr, kein Alkohol, keine Eskapaden. Und fit musste er werden. Daher hatte er angefangen, jeden Tag ein wenig an der Weser zu laufen und an einem dieser Tage war ihm dann dieser Kerl begegnet. Er versuchte sich zu erinnern, wie er geheißen hatte. Er hieß ... er hieß ... Ach verflixt, es war zum Mäusemelken, aber ihm wollte der Name einfach nicht einfallen. Blöd sowas. Jetzt würde ihn diese Sache den ganzen Tag lang verfolgen. Einmal konnte er die halbe Nacht nicht schlafen, weil ihm der Vorname von Strauß nicht eingefallen war. Oh je, nein soweit sollte es dieses Mal nicht kommen. Der hieß, warte, gleich hab ich es ... Nein. Er konnte sich nicht erinnern. Weil er das aber nun für ein Ding der Unmöglichkeit hielt, und weil er schon ein bisschen betrunken war, machte er die Augen zu, umklammerte das Bierglas mit beiden Händen und dachte noch schärfer nach. Er hieß ... er ... hieß ... er ...
„Machen Sie so was öfter?“
Die zarte Frauenstimme riss ihn jäh aus seinem kläglichen Versuch sich zu erinnern. Er schlug die Augen auf und konnte zunächst nur die verschwommene Kontur einer Brünetten neben sich erkennen. Dann nahm er die Brille ab, rieb sich einige Sekunden bei wieder geschlossenen Augen den Nasenrücken beidseitig der Wurzel mit Daumen und Zeigefinger seiner rechten Hand und sah noch einmal hin.
„Entschuldigung. Wie bitte?“ Das war zunächst alles, was er herausbrachte.
„Na, ob Sie so was öfter machen? Grabreden halten bei Leuten, die Sie nicht gekannt haben. Ich meine, das kann doch nicht Ihr Beruf sein, oder?“
Jetzt besah er sich sein Gegenüber etwas genauer. Er schätzte sie auf Anfang dreißig, mittellange gelockte Haare, wahrscheinlich Dauerwelle aber immerhin kein Minipli, wie sie ihn gerade alle trugen. Feste füllige Beine, aber eine dafür recht schmale Taille. Sein Blick glitt über Beine und Taille weiter nach Oben – auch alles fest und füllig, wie er fachmännisch feststellte. Ihr Gesicht schien trotz der verblassenden Jugend nicht verbittert, sie trug keine Brille. Puh, gut! Obwohl er selbst Brillenträger war, stellte Rick Pfeffer immer wieder fest, wie wichtig ihm dieser Punkt bei Frauen war. Vierauge, Nasenfahrrad, Brillenschlange – das sollten die Streber schön unter sich ausmachen. Aber mit der hier – mit der würde er sich wohl schon ganz gerne mal in die Erste Plural begeben. Das Auskundschaften der Frauen erfolgte bei Richard genannt Rick Pfeffer nach festgelegt taxierendem Maß in einer Geschwindigkeit, die im Übrigen jeden Kenner in Erstaunen versetzen musste. Überdies hatte er die seltene Gabe, es so zu tun, dass die Beobachteten nichts von der Vermessung mitbekamen. Zumindest glaubte Pfeffer das. Der ganze Vorgang hatte also, seit sie ihn erneut gefragt hatte, nur einige Sekunden in Anspruch genommen, so dass er ohne auffällige Verzögerung antworten konnte:
„Nein, nein, gnädige Frau. Das mache ich nur aushilfsweise. Eigentlich bin ich Journalist. Aber wenn mal Not am Mann ist, also ich meine bei Bestattungen, dann übernehme ich das. Ist mir eine Herzensangelegenheit. Außerdem sollte man da nicht jeden Stümper ranlassen. Man bringt schließlich einen Menschen unter die Erde, da gehört es sich, den Rhythmus im Takt des Anstandes zu spielen. Das kann nicht jeder, wissen Sie? Aber man kann ja auch nicht erwarten, dass jeder eine so fundierte und professionelle Ausbildung hat wie ich.“ Den Rhythmus im Takt des Anstandes spielen, dachte er sich und war auf einmal richtig stolz auf diese Schöpfung. Solche poetischen Phrasen fielen ihm sonst nie so spontan ein. Es musste wohl an dieser bezaubernden jungen Frau liegen, die schon verhalten kicherte, als er sie „gnädige Frau“, genannt hatte. Oder am Alkohol.