Tatort Gemeindebau. Manfred Rebhandl

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Tatort Gemeindebau - Manfred Rebhandl


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zu, bevor sie die Tür öffnet.

      »Grüß Sie«, sagt Stani und stellt den Werkzeugkoffer ab.

      Ich schicke ein letztes Stoßgebet zum Himmel, damit alles so klappt, wie wir es geplant haben. »Einen Kaffee, Herr Stani? Und vielleicht einen kleinen Beifahrer dazu?«, fragt meine Freundin und holt den Sliwowitz aus dem Küchenkastl. »Nehmen S’ ruhig Platz«, sage ich meinen gut geübten Einleitungssatz für den finalen Showdown auf. »Olles leiwaund?«, fragt Stani und ich merke, wie mein Lampenfieber nachlässt, weil sich auch der Elektriker an unser Drehbuch hält.

       Erwin Riess

      Brief an einen Floridsdorfer im Exil

       Lieber Freund!

      Wundere Dich nicht über diesen Brief, nimm ihn als schicksalhaftes Ereignis. Vor langer Zeit, im Winter und Frühling 1976, waren wir Bettnachbarn in der Neurologie des Alten AKH, diesem düsteren Bau, den einige Patienten überlebten, allerdings mit schweren seelischen Schäden. Du erinnerst Dich an den schmächtigen Jungen mit der Vorliebe für Binnenschiffe und Otis Redding. Mittlerweile bin ich nicht mehr schmächtig und fahre im Rollstuhl. Otis Redding liebe ich nach wie vor. All die Jahre habe ich mich gefragt, was aus Dir geworden ist. Nach den vielen Wochen im Krankenhaus haben wir uns nicht mehr gesehen, Du warst wie vom Erdboden verschluckt. Niemand wusste, wo Du Dich herumtreibst, ob Du überhaupt noch in Österreich bist. Die Nachbarn aus Eurem Gemeindebau waren ratlos. Deine Mutter war verzweifelt, zumindest schien es so. Ich wohne nun schon viele Jahre in der Nähe Deiner alten Wohnung in Stammersdorf. Sehr selten ist in den Heurigen der Umgebung noch von Dir die Rede.

      Neulich habe ich beim Binder-Heurigen einen pensionierten Erdölingenieur kennengelernt, der in seiner Jugend bei einer kanadischen Firma namens van Sickle arbeitete, einer Pionierin der Erdölwirtschaft in Osteuropa und Österreich. Die van Sickles waren die Ersten, die noch vor dem ersten Krieg in Rumänien Öl erbohrten, und auch in Österreich waren sie Anfang der Dreißigerjahre in der Prospektion erfolgreich. Es war der alte Ingenieur, durch den ich auf Deine Spur gekommen bin.

      Die van Sickles mussten vor den Nazi nach England flüchten, ihre Fabrik wurde von den Deutschen beschlagnahmt. Die Kampfflieger der deutschen Luftwaffe, die ihre Bomben über dem Zentrum Londons abluden, wo die van Sickles lebten, waren mit Sprit aus dem in Österreich geraubten Erdöl der van Sickles unterwegs. Nach dem Krieg kam die Familie zurück und führte die Firma weiter. Irgendwann in den späten Siebzigerjahren, der Zeit, in der wir beide im Spital lagen, ging die Firma im Konzern der staatlichen ÖMV auf.

       Lieber Karl!

      Du fragst Dich, was das alles mit Dir zu tun hat. Lies weiter, Du wirst staunen. Der besagte Ingenieur hatte über die van Sickles Kontakte nach Kanada und war auch immer wieder beim kanadischen Teil der Familie in Ontario zu Gast. Eines Tages besuchte er jenseits der Grenze zu den nahen USA ein Autorennen im entlegensten Nest, das je Formel-1-Rennen gesehen hat, in Watkins Glen an den Finger Lakes im gleichnamigen Nationalpark in Upstate New York. Als der Ingenieur die Finger Lakes erwähnte, fiel bei mir der Groschen. An den Finger Lakes, so hattest du in den endlosen Spitalnächten erzählt, wächst nicht nur akzeptabler Wein, es gibt dort auch tiefe Wälder, in denen Du in den Sechziger- und Siebzigerjahren wie ein Indianer wochenlang im Wald unterwegs warst, mit Pfeil und Bogen, einem Bowie-Knife und einem Schlafsack. Du warst ja nach dem Staatsvertrag ausgewandert, die alten und jungen Nazi kriechen wieder aus ihren Löchern, hattest Du gesagt, ich mag diese Bande nicht triumphieren sehen, lieber geh ich nach Amerika. Du warst nur der Operation wegen nach Wien zurückgekehrt, in den Staaten warst Du nicht versichert. Du warst damals Partner in einer Garage in Arlington, dem Heimatort Franklin und Eleanor Roosevelts, die beiden hatten dort ein Landhaus oberhalb des Hudson River bewohnt. Woody Guthrie wurde von den Roosevelts dorthin eingeladen, er bekam den Auftrag, einen Song zu schreiben, der den Eintritt in den Krieg gegen Nazi-Deutschland populär machen sollte, ein Vorhaben, das damals in den USA auf großen Widerstand nicht nur der Nazi-Anhänger um Walt Disney, Joseph L. Kennedy (Vater von John F. und Robert), des Zeitungsmagnaten Randolph Hearst und des glühenden Antisemiten Henry Ford stieß. Charlie Chaplin setzte sich für den Kriegseintritt ebenso ein wie die gesamte Linke und Teile der Großbourgeoisie. Und der kommunistische Wandersänger Guthrie, der nicht in Konzerthallen, sondern vor den Orangen- und Zitronenpflückern Kaliforniens auftrat, welche unter sklavenartigen Bedingungen unter Wachtürmen und Stacheldraht lebten, sollte den Song für den Kriegseintritt liefern. Ein talentierter Bursche aus Duluth am Oberen See, Sohn jüdisch deutscher Einwanderer, pilgerte 1961 zum kranken Woody in die psychiatrische Klinik. Und der große alte Mann der Folkmusik spielte dem grünen Jungen den Song, den Franklin Delano Roosevelt bei ihm bestellt hatte, vor. Bob Dylan passte gut auf. In »Song for Woody« und dem späteren »Masters of War« findet sich der Song verewigt. Dass Guthries Kriegslied nicht populär wurde, hing damit zusammen, dass man es nicht mehr benötigte. Die Antwort auf die Frage des amerikanischen Kriegseintritts hatten die Japaner mit ihrem Angriff auf Pearl Harbor im Dezember 1941 geliefert.

      Du siehst, Deine politischen Schulungsmaßnahmen waren bei mir nicht erfolglos. Bären sind dort oben eine Landplage, pflegtest Du auch zu sagen. Wie die Biber am Marchfeldkanal, könnte ich heute ergänzen. Aber zu Deiner Zeit gab es in Floridsdorf noch keinen Marchfeldkanal und keine Biber. Angeblich hast Du an einem dunklen Tag in den tiefen Wäldern der Finger Lakes zwei Jungbären erschossen, aus Notwehr. Ich glaube, mit einem einzigen Schuss. Die Geschichte war zu gut, um Zweifel aufkommen zu lassen. Diese Leidenschaft hat mich nicht verlassen, alter Freund. Ist eine Story gut, lasse ich mir auch heute noch gern einen Bären aufbinden. Aber den Verstand schalte ich dabei nicht aus. Das ist auch der Grund, warum ich Dir diesen Freundschaftsgruß sende.

       Lieber Karl,

      Du bist in der Josef-Flandorfer-Straße in Wien-Stammersdorf, dem schönsten Teil von Floridsdorf, aufgewachsen. Eure winzige Wohnung im Gemeindebau aus den Fünfzigerjahren lag neben der Wendestelle des 31ers, der Tramway zu den Heurigen Stammersdorfs. Das Grölen der Betrunkenen und das Quietschen der Straßenbahn wiegten dich in den Schlaf. Von einem Vater hast Du nie erzählt, ich glaube, Deine Mutter war schon sehr früh Alleinerzieherin. Als ich Dich 1976 im AKH kennenlernte, besuchte sie uns jedes Wochenende, werktags arbeitete sie als Putzfrau in Arztpraxen und bei einem Rechtsanwalt, der für die FPÖ im Parlament saß und ehemaliger SS-Flieger der Legion Condor war, die Guernica dem Erdboden gleichgemacht hat. Immer brachte sie Obst und Zeitungen mit, manchmal war eine New York Times dabei, und ich habe mich gefragt, wo man die in Stammersdorf kaufen konnte. Ich erinnere mich an eine kleine, wieselflinke Frau mit sprödem Charme, die ihren Karli abgöttisch liebte.

      Du hattest in der ÖMV gelernt, Erdöltechniker. Ein schöner, ein großartiger Beruf. Bevor Du Mitte der Sechzigerjahre ins Land der brave and free abtschapiert bist, hast Du noch viel Zeit auf den Förderstätten des Weinviertels zugebracht. Was Du mir in langen Nächten in dem Sechzehn-Betten-Saal erzähltest, als wir beide nicht schlafen konnten, Du wegen der Schmerzen nach der gescheiterten Bandscheibenoperation, ich wegen der Schmerzen nach meiner ersten Operation an einem Rückenmarkstumor, habe ich nicht vergessen. Der Achtunddreißigjährige und der Achtzehnjährige redeten sich die Welt nicht schön, wir redeten sie uns erträglich. Gute Erzählungen habe ich damals schon geschätzt, und Deine waren ebenso gut wie die Kurzgeschichten von Hemingway und Faulkner, die ich damals las.

      Du erinnerst Dich an den Weinhauer aus Gösing am Wagram, mit »Ich komme aus Gösing und heiße Kögl, das merkt man sich leicht« hatte er sich vorgestellt. Ein vierschrötiger Mensch, voll Lebenslust und Tatendrang. In ein paar Tagen bin ich wieder im Weingarten, hatte er trotzig hinzugesetzt. Nach der ersten Kopfoperation fehlte ihm der halbe Schädelknochen. Nach der zweiten konnte er nur mehr lallen und lag im Bett. Die dritte hat er nicht überlebt. Am Tag vor der letzten Operation stand seine Familie mit der apfelgesichtigen Frau und den vier vom Donner gerührten Kindern um das Bett des Vaters, dessen weit aufgerissene Augen ein einziger stummer Schrei des Entsetzens waren. Das alles geschah in einem halben Jahr, ich lag ja Monate auf der Neurologie, und bei Dir war es auch nicht viel kürzer. Damals hat man die Kranken der Welt entzogen, mehrmonatige


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