Lichtschacht. Anne Goldmann
Читать онлайн книгу.zuckte zurück. »Nein, schon okay«, wehrte sie ab. »Tut nicht weh. Kein Problem. Ich bin bloß erschrocken. – Muss wohl eingeschlafen sein«, ergänzte sie nach einer Pause.
»Tut mir leid.« Er angelte nach der Scheibe und hockte sich neben sie ins Gras. Er war groß und schlaksig. Trotz der Hitze trug er eine Mütze und ein Langarm-Shirt. Er zögerte. »Magst du mitspielen? Wir … entschuldige, ich bin … «
»Max – Vorsicht! Abstand! Die ist gefährlich!«
Beide fuhren herum. Lena hielt die Luft an. Das war doch der Kerl von letztens! Der sie auf der Straße überfallen hatte. Gregor oder so.
Mit einem breiten Grinsen kam er auf sie zu. »Ich hätte dich fast nicht wiedererkannt. Was hast du mit deinen Haaren gemacht?«
»Ihr kennt einander?« Max sah vom einen zur anderen und runzelte die Stirn.
»Wonach sieht es aus?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Kratzbürste!« Der Kerl lächelte vergnügt, beugte sich vor, streckte ihr die Hand hin und sagte betont deutlich: »Hallo, Georg. Schön, dich wiederzusehen. – Ist doch nicht so schwer, oder?«
»Hast du es irgendwie auf mich abgesehen oder was?« Blitzschnell war sie auf den Beinen.
»Wenn du so fragst … « Sein Lächeln wurde breiter.
Unfassbar. Was bildet der sich ein! »Dein Freund ist ein Psycho«, informierte sie Max. »Der überfällt Frauen auf der Straße und findet das lustig.« Sie wirbelte herum. »Kannst du dich nicht wie ein normaler Mensch benehmen, hä? Was passiert als Nächstes? Fährst du mich über den Haufen? Stellst du Fallen auf?«
»Womit wärst du denn zu ködern?« Der Typ machte sich über sie lustig!
Der andere, Max, schien etwas sagen zu wollen, überlegte es sich anders, griff sich die Scheibe und trabte los. Der ist in Ordnung, dachte sie. Ruhig, aufmerksam, unaufdringlich. Kein überflüssiges Wort, kein Posen. Was der an so einem fand?
Georg musterte sie. Er stand neben ihr, die Hände in den Hosentaschen. »Immer noch sauer? Ich … « Er lächelte. Schien sich über sie zu amüsieren. Arrogant, dachte Lena. Einer von den ganz Coolen, der sich sicher ist, immer zu gewinnen. Früher wäre sie unter seinem Blick errötet. Wut fühlte sich deutlich besser an.
Sein Handy läutete. Er seufzte genervt und drückte das Gespräch weg.
»Fang.« Max. Sie wirbelte herum und packte reflexartig zu. Schleuderte die Scheibe zurück. Max sprintete los und schaffte es knapp. Visierte Georg an. Der warf zu ihr. Schon waren sie mitten im Spiel. Eine Drehung aus dem Handgelenk. Loslassen. Das Frisbee segelte über das Gras und beschrieb einen Bogen, bis einer von ihnen es schnappte und zurückschoss. Ihr Spiel wurde härter, schneller. Sie rannte, hechtete nach links, nach rechts, streckte sich und sprang wieder auf die Beine. Sie keuchte und strahlte. Jagte die Jungs über die Wiese und wurde selber gejagt. Schwitzte, lachte. Es roch betäubend nach frischem Gras.
Max suchte ihren Blick, bevor er warf. Der andere forderte sie. Er täuschte einen gezielten Wurf an, pfefferte dann die Scheibe ungefähr in ihre Richtung. Er weckte ihren Ehrgeiz. Sie radierte über das Gras, knallte der Länge nach hin und hielt triumphierend das Frisbee hoch. Sie revanchierte sich mit harten Würfen und sah lachend zu, wie er verbissen kämpfte.
Irgendwann ließ Max sich bäuchlings ins Gras fallen. Sie setzte sich neben ihn. Ihr Gesicht glühte.
»Muss was trinken. Magst du auch?« Er griff in seinen Rucksack und hielt ihr eine große grüne Glasflasche hin. Erst jetzt merkte sie, wie durstig sie war. Sie trank, setzte ab und suchte in ihrem Rucksack nach den Taschentüchern.
Er sah sie unentwegt an. Seine Augen leuchteten. »Nicht nötig, gib her.« Er lachte. »Du bist ja nicht giftig.« Er setzte die Flasche an und trank mit geschlossenen Augen. Das Wasser lief sein Kinn, den Hals entlang und färbte sein rotes T-Shirt dunkel.
Sie tauschten ihre Handynummern aus. Verabschiedeten sich, als die Baumschatten länger wurden und der Lärm vom Kinderspielplatz verstummte. Auf dem Weg zur Straßenbahn summte sie vor sich hin. Winkte den beiden, als sie auf ihren Motorrädern an ihr vorüberbrausten. Mücken tanzten in der Abendsonne. Seit langem fühlte sie sich zum ersten Mal wieder leicht und glücklich. Spaziergänger, die ihr entgegenkamen, lächelten sie an.
Lena erwachte vergnügt und eine halbe Stunde früher als gewöhnlich. Sie frühstückte in dem kleinen Café in der Nähe und blätterte rasch die Zeitungen durch. Nichts, dachte sie erleichtert. Es war wie ein Mantra: Wenn etwas passiert wäre, hätte man sie schon gefunden. Da war nichts!
Trotzdem: Sie musste endlich in dieses verdammte Haus! Nachsehen. Dann konnte sie damit aufhören. Abschließen. Sie würde es morgen wieder versuchen. Irgendwann, zum Teufel, muss es ja klappen. Sie legte die Zeitungen beiseite und schaute auf ihr Handy: Keine Nachricht.
Sie lächelte. Er schläft sicher noch. Heute, irgendwann im Laufe des Tages, oder morgen würden sie telefonieren, einander wiedersehen. Wie er sie angesehen hatte: ruhig und konzentriert , als müsste er sich ihr Gesicht für immer einprägen … Er war anders als die meisten, die sie kannte. Ernster, dachte sie, erwachsener. Jemand, auf den man sich verlassen kann.
Sie zahlte und drängte sich in letzter Minute in die gerammelt volle Straßenbahn. Die Leute stiegen einander auf die Zehen, Schulkinder lärmten, ein Baby plärrte durchdringend. Jemand rammte ihr einen Rucksack ins Kreuz. Der Mann vor ihr schrie in sein Handy. Er stank aus dem Mund.
Sie floh bei nächster Gelegenheit und ging das letzte Stück zu Fuß. Ein strahlend schöner Morgen. Radfahrer, Kindergartenknirpse, entspannte junge Väter, die keine Eile hatten. Die Läden, die Cafés öffneten gerade erst. Das hier war eine andere Welt.
Die Tür zum Geschäft stand bereits offen. Ihr Chef lehnte am Verkaufspult und blätterte in einem dicken Katalog.
»Guten Morgen.«
»Hallo, Lena. Schönes Wochenende gehabt?«
»Ja.« Man sah es ihr an! Ihr wurde heiß unter seinem prüfenden Blick. Sie verstaute ihre Jacke, fuhr sich durch die Haare und sah sich um. Neben dem Eingang standen einige Kartons. »Neue Lieferung?«
Er nickte gleichgültig.
Okay, das ist also mein Job. Sie bückte sich nach einem der Pakete und trug es in den Nebenraum. Wo war das Stanleymesser? Sie schaute sich suchend um.
Wolfgang stand plötzlich hinter ihr. »Lass, Lena, ich mach das schon. Schau, ich muss dir etwas zeigen.« Er schob das Paket zur Seite und legte eine Architekturzeitschrift vor sie hin. Er deutete mit dem Finger auf eine ausladende Sitzlandschaft, die sündhaft teuer aussah. »Wie gefällt dir die?«
Sie war irritiert. Wieso …?
»Du hast einen guten Geschmack«, nahm er ihre Frage vorweg.
»Elegant«, befand sie. »Die braucht aber einen großen, fast leeren Raum, etwas wie ein Atelier oder … «
»Du hast recht. Ist was für Großverdiener.«
»Oder Erben.«
»Genau.« Er lachte und klappte den Katalog zu. »Sag, wie lebst du eigentlich?«
»In der Wohnung einer Bekannten. Im Dachgeschoss. Ein Traum. Ich kann dort aber nicht bleiben. Spätestens im Herbst braucht sie sie selber wieder.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Bis dahin muss ich etwas gefunden haben. Klein und billig, mehr ist nicht drin. Ich muss wohl wieder nach unten ins Parterre.« Sie wollte gar nicht daran denken. Graue Wände und Straßenlärm vor den Fenstern. Laute Nachbarn. Wenig Licht.
»Kennst du niemanden, der … «
»Nein«, sagte sie kläglich.
»Ich kann mich umhören«, bot er an. »Vielleicht gibt’s ja eine andere Möglichkeit.«
»Ja, vielleicht«,