Lichtschacht. Anne Goldmann
Читать онлайн книгу.Sie hörte Schritte hinter sich und trat zur Seite.
»Hab ich dich!« Der Aufprall warf sie fast um. Sie schrie auf, ihre Knie gaben nach. Ein Überfall!
Sie klammerte sich an ihre Tasche, stolperte und versuchte sich loszureißen. Rammte ihre Ellbogen nach hinten. Trat nach dem Angreifer. Ein Aufschrei. Sie kam frei. Hörte ihn keuchen. Wirbelte herum und ging auf Abstand. Ihr Herz schlug wie wild.
Der Mann presste seine Hand gegen den Magen und atmete schwer. Er war unbewaffnet. »Entschuldigen Sie«, stammelte er und wich zurück. »Eine Verwechslung. Ich habe Sie verwechselt. Ich wollte Sie nicht – erschrecken.«
»Was willst du? Bist du verrückt?«, schrie sie ihn an. Er war kaum älter als sie. Durchschnitt, mittelgroß.
Der auf dem Dach, dachte sie plötzlich in Panik, wie sah der aus?
Es konnte hinkommen. Er hatte sie gefunden! Ich muss auf mich aufmerksam machen. Schreien! Sie blickte gehetzt um sich und brachte keinen Ton heraus. Er wird es nicht wagen! Sie bekam kaum noch Luft. Da waren Menschen. Man wird mir helfen! Bestimmt. Eine rundliche Frau auf der anderen Straßenseite blieb stehen, sah zu ihnen herüber und ging dann weiter. Ein Mann mit Kinderwagen und einem widerstrebenden Kleinkind an der Hand überholte sie. Rundherum Leute. Alles wie immer.
Nun war sie sich nicht mehr sicher: Der Radfahrer von gestern? Nein, der hier war breiter gebaut. Er trat von einem Bein aufs andere, schien unschlüssig, kam dann näher.
»Was soll das?«, pfauchte sie, immer noch aufgewühlt. »Willst du mich umbringen?«
»Nein. Wär schade um dich.« Ein impertinentes Grinsen. Sie holte aus. Der Schlag saß. Aber der Typ war hart im Nehmen: »Okay, das war jetzt der Ausgleich.« Und nach einer Pause: »Machst du Kampfsport oder so was?« Er rieb sich die Wange.
»Kann ich Ihnen helfen?« Plötzlich stand die Frau von vorhin da. Sie musterte Lenas Gegenüber besorgt und fummelte hektisch an ihrem Handy herum. Dabei behielt sie sie ängstlich im Blick.
»Sehr nett von Ihnen«, bedankte sich der Mann. »Aber – das war bloß eine Trainingseinheit. Wir üben Stunts«, er zwinkerte Lena zu, »für den Film.« Der war nicht bei Trost!
»Ach so.« Die Frau grinste unsicher, lächelte ihn dann an und steckte ihr Handy weg. Gleich würde sie ihn nach einem Autogramm fragen.
»Ich weiß – schaut verdammt echt aus. Jedenfalls cool, dass Sie eingreifen. Das trauen sich die wenigsten.«
Jetzt strahlte sie.
Lena drehte sich um und ging.
Sofort war er wieder neben ihr. »Du kannst nicht einfach so weggehen.«
»Und ob ich kann. Hau ab.« Sie wurde schneller.
Er blieb an ihrer Seite. »Ich hab dich vor einer Anzeige bewahrt. Körperverletzung. Die Frau war wild entschlossen … « Er wies auf seine Wange. Der Abdruck ihrer Hand war noch gut zu sehen.
»Und der Überfall?« Lena blieb abrupt stehen. »Wie willst du das erklären, hm?«
»Herr Inspektor, sie hat mir gefallen … « Ein breites Grinsen.
»Idiot!«
»Ich heiße Georg.« Er hielt ihr die Hand hin.
Sie verschränkte die Arme vor der Brust.
»Was willst du: Soll ich auf die Knie fallen und um Vergebung bitten? Ich mach’s.« Er legte die Hand aufs Herz.
Nur das nicht! Der war dazu imstande. »Lena«, sagte sie widerstrebend.
»Lena, du bist nachtragend.«
»Nicht nur Stuntman. Sondern auch noch Psychologe. Respekt.«
»Ich arbeite in einer Bank. Ist nicht besonders aufregend. Ich wohne da vorne. Ich kann dir gern Führerschein, Meldezettel und Gehaltsnachweis vorlegen.«
»Führerschein genügt fürs Erste.«
Ohne mit der Wimper zu zucken, griff er nach seiner Brieftasche und hielt ihr das Dokument hin. Georg Neudeck, zwei Jahre älter als sie, hatte den Schein wie sie mit achtzehn gemacht.
»Hast du ein Motorrad?«
»Willst du einmal mitfahren?«
»Sicher nicht!«, pfauchte sie. Sie drehte sich um und trabte los.
Die nächsten Tage verliefen eintönig. Lenas Gedanken kreisten um das Haus, die drei auf dem Dach. Sie putzte die Fenster, kaufte Kleiderbügel und brachte Ordnung in Steffis begehbaren Schrank. Immer wieder fand sie Wäsche, an der noch das Preisschild hing, ungetragene Pullover und Modeschmuck, Sonnenbrillen und zahllose Lippenstifte, die sie nach Farben ordnete. Sie las aufmerksam die Zeitungen. Fand keinen Hinweis und kam dennoch nicht zur Ruhe. Sie stand gegen sieben auf, fütterte auf dem Weg zur Arbeit den phlegmatischen Kater der Schorns, wässerte gewissenhaft die großen Grünpflanzen im Haus und auf der Terrasse, immer in Sorge, eine zu übersehen, und fuhr am Abend in die andere, etwas weiter entfernte Wohnung. Hier waren drei Katzen zu versorgen. Sobald sie die Tür aufschloss, drängten sie sich an sie, strichen um ihre Beine und sprangen jammernd an ihr hoch. Nur mit Mühe gelang es ihr, die frisch gefüllten Schüsseln unfallfrei zum Futterplatz zu bringen. Während die Tiere mit vorgereckten Hälsen hastig schlangen, ging Lena durch die Räume der abgelebten Altbauwohnung und entfernte mit angehaltenem Atem ihre Hinterlassenschaften.
Auf dem Rückweg spähte sie zum Haus hinüber und versuchte es noch einmal. Die Eingangstüre war verschlossen. Sie wartete eine Weile. Keiner verließ das Gebäude, niemand kam.
Gegen halb neun war sie wieder zu Hause. Reinigte das verstopfte Waschbecken im Bad. Stand in der Küche und studierte die Kochanleitung eines Nudelgerichts auf der Rückseite der Packung. Sie aß lustlos vor dem Fernseher und spülte das Geschirr. Der Abend zog sich. Sie schaute lange aus dem Fenster. Zerteilte und aß einen Apfel. Klappte ihr Notebook auf und wenig später wieder zu. Legte sich aufs Sofa und starrte an die Decke. Hörte Musik. Sprang auf und ging ins Badezimmer. Überlegte, noch einmal aufzubrechen. Tanzen zu gehen. Oder ins Kino. Sie trödelte. Verlor sich dann im Internet und kroch lange nach Mitternacht völlig verspannt ins Bett.
Am zweiten Tag färbte sie sich die Haare. Tiefschwarz. Sie sah blass und fremd aus. Lustlos blätterte sie in einem der Modemagazine aus dem ordentlichen Stapel neben dem Sofa. Einem zweiten. Legte sie genervt beiseite. Ging ins Bad, wählte aus Steffis Lippenstiftsammlung mehrere aus und schnupperte daran. Sie trat ganz nahe zum Spiegel und malte sich den Mund rot. Es sah aus wie eine Wunde. Energisch wischte sie die Farbe wieder ab. Sie legte einen blassroten Stift auf die Ablage und die anderen zurück in die Lade. Dann schnitt sie sich Stirnfransen und besserte nach, bis sie schließlich zufrieden war.
Der Sonntag begann grau und verregnet. Sie erwachte früh und konnte nicht mehr einschlafen. Sie kochte Kaffee. Starrte hinaus in das Grau, schnitt sich ein Stück Brot ab und legte es wieder hin. Betrachtete sich lange im Spiegel, strich sich die noch ungewohnten Fransen aus der Stirn, verzog das Gesicht, nahm seitlich die Haare hoch und ließ sie wieder los. Gut, befand sie und stieg in die Dusche. Eine halbe Stunde später zog sie die Wohnungstür hinter sich zu. Sie musste raus! Spazieren gehen. Ins Kino, was auch immer. Dieses Herumlungern in der Wohnung macht mich noch verrückt.
Auf dem Fußabstreifer lag Werbematerial. Sie bückte sich danach. Unglaublich, wie oft jemand Prospekte, Zeitungen, irgendwelches Zeug in die Tür steckte oder davor ablegte. Eine Einladung für Einbrecher. Man sah sofort, schon nach wenigen Tagen: Hier war niemand zu Hause. Sie stutzte. Sie konnte nachsehen, ob das in einer der Dachgeschosswohnungen gegenüber der Fall war. Irgendwo klingeln. In den fünften Stock fahren. Feststellen, dass sie sich geirrt hatte. Niemand gefallen war. Niemand ermordet.
Sie ging zum Lift und drückte den Knopf.
Die Tür zur Nachbarwohnung öffnete sich einen Spalt. »Waren Sie zufrieden?« Eine Frauenstimme mit leichtem Akzent.
»Ja, Sie machen das perfekt. Moment