Menschen im Krieg – Gone to Soldiers. Marge Piercy

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Menschen im Krieg – Gone to Soldiers - Marge Piercy


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Heute hatte ich keine Ausrede mehr. Wie es schließlich auch Scheherazade ergangen sein muss, mir fiel nichts mehr ein, und mein Moment der Wahrheit kam, doch mein König Henri zeigte keine Gnade.

      Ich war zu ängstlich, um viel zu spüren außer Unbehagen und etwas Schmerz, aber ich denke, ich werde mich an den Geschlechtsakt gewöhnen und ihn genießen lernen. Es wäre dumm von mir, es nicht zu tun, da ich genötigt bin, ihn zu vollziehen; ich kann mir ebenso gut einige Techniken und ein wenig Hingabe aneignen. Ich habe viele Fragen, die ich Henri stellen möchte, aber mir ist aufgefallen, dass intelligente Fragen oder auch nur der Wunsch, Beobachtungen während des Aktes zur Sprache zu bringen, ihn schrumpfen lassen, also werde ich warten, bis er sich mir gegenüber selbstsicherer fühlt.

      Ich wollte besonders seinen Penis sorgfältig untersuchen, doch er wollte zwar, dass ich ihn in die Hand nahm, schien aber nicht angenehm berührt von meinem Wunsch, ihn als unbekannten Gegenstand zu erkunden. Ich denke, es wird die Zeit kommen, um auch diese Neugier zu befriedigen.

      Ich empfand keine Verzückung, und der eigentliche Verkehr war eher schmerzhaft. Ich blute stark, als hätte meine Regel wieder eingesetzt, was genau das war, was ich Maman gesagt habe. Unsere Körper sind in dieser Zeit so sonderbar, bei der Ernährung oder vielmehr dem Mangel daran, dass uns keine ungewöhnlichen Wehwehchen oder Schmerzen oder Unregelmäßigkeiten überraschen.

      Ich freue mich, dass ich in mir keine Veränderung meiner Gefühle für Henri ausmachen kann. Ich fühle mich nicht von Liebe heimgesucht wie von einem herabgestiegenen Engel, ich träume nachts nicht von ihm (ich habe neulich von Papa und ständig vom Essen geträumt, und gestern Nacht träumte ich, ich nähme ganz allein ein riesiges, heißes Schaumbad), und ich habe nicht mehr Verlangen danach, ihn zu sehen, als sonst auch. Ich bin so gern mit ihm zusammen wie vorher. Vielleicht erweisen sich meine schlimmsten Ängste als unbegründet.

      Ich habe ihn gezwungen, ein Kondom zu benutzen, obwohl er protestierte, es reiche aus, wenn er sich zurückzöge, bevor er käme, und er sei darin geübt, diesen Zeitpunkt abzuschätzen. Ich erinnere mich an all die Geschichten in der Schule über Mädchen, die schwanger wurden, weil ihre Freunde einen Coitus interruptus praktizieren wollten, aber nicht schnell genug unterbrachen. Ich werde in diesem Punkt nicht mit mir reden lassen.

      14 juillet 1942

      Ich hatte gerade mit Maman den schlimmsten Streit meines Lebens. Henri hat mir seit letzter Woche alle möglichen Geschenke gegeben, sechs Eier, zwei Kilo Kartoffeln und eine ganze Einkaufstasche voll frischem Gemüse vom Bauernhof seines Onkels und schließlich ein Huhn. Ich dachte, Maman und Rivka würden sich riesig freuen. Das taten sie bestimmt auch, aber dann fing Maman gestern davon an, wieso uns plötzlich solche Großzügigkeit zuteil wird. Ich wehrte sie mit einem Witz ab und zog mich in meine Studien zurück.

      Dann stand sie heute Morgen vor mir, die Hände in die Hüften gestemmt, und sagte: »Yakova, lüg mich nicht an. Schläfst du mit diesem Henri?«

      »Mutter«, sagte ich, »erstens ist mein Name Jacqueline. Das ist mein gesetzlicher Name, das ist der Name, den ich benutze, und das ist der einzige Name, auf den ich höre. Mich Yakova zu nennen ist nur ein Trick, damit ich mir wie ein Kind vorkomme. Zweitens lüge ich dich nie an. Ich habe zu viel Achtung vor beiden von uns. Wenn du mich in der Vergangenheit gefragt hast, habe ich dir immer wahrheitsgemäß geantwortet. Es wäre mir lieber, du würdest mich zu diesem Thema nicht befragen, da das meine eigene, private Entscheidung ist.«

      »Schläfst du mit ihm?«, wiederholte sie.

      »Jawohl«, sagte ich.

      Sie ohrfeigte mich und nannte mich eine Hure! Sie sagte, sie wolle solches Essen nicht, und ging so weit, Kartoffeln auf den Fußboden zu werfen. Sie sagte mir, ich hätte ab sofort Hausarrest und dürfe Henri und keinen dieser zwielichtigen Freunde je wiedersehen. Ich sagte, das sei völliger Unsinn und ich hätte eine Verabredung mit ihm, die ich auch einzuhalten gedächte. Er sei mein Freund, der wegen seiner Solidarität zu mir zusammengeschlagen worden sei, und wir könnten alle Freunde brauchen, die wir nur hätten. Ich sagte ihr nicht, dass Céleste und Henri und ich heute Exemplare einer neuen Untergrundzeitung abholen wollen, als Beitrag zu den ungesetzlichen Feiern zum Tag der Bastille.

      Sie ohrfeigte mich wieder, mehrmals, und verlor, glaube ich, völlig die Beherrschung. Wir begannen beide, uns anzukreischen wie die Straßenhuren. Schließlich habe ich mich eine halbe Stunde lang ins Badezimmer eingeschlossen, bis ich meine Beherrschung wiedergefunden hatte, und die ganze Zeit über hämmerte sie an die Tür, so dass alle Nachbarn es gehört haben müssen. Dann habe ich ein paar Sachen in meinen alten Rucksack gepackt und bin in die Rue Royer Collard gekommen, wo ich ab jetzt bleibe.

      Ich bin wütend auf sie. Sie hat überhaupt keinen Versuch unternommen, meinen Standpunkt zu verstehen, und so einen völligen Mangel an Achtung vor meinem Urteilsvermögen und meinem Charakter gezeigt. Ihre Schimpfkanonade war hässlich und gefühllos. Die simple Wahrheit ist, wenn ich nicht die Sorge um Rivka und Maman am Hals gehabt hätte, hätte ich mich wahrscheinlich nie mit Henri eingelassen. Dabei fällt mir ein, ich muss verhindern, dass Henri dieses Tagebuch liest, da ich ihn in solchen Dingen nicht für so gewissenhaft halte, wie ich es von Maman immer angenommen habe. Jetzt bin ich mir offen gestanden nicht mehr so sicher.

      Ab morgen haben sich diese Ungeheuer übrigens etwas Neues ausgedacht, wie sie uns peinigen können. Es ist uns verboten, in Restaurants, Cafés, Bibliotheken und Museen zu gehen oder öffentliche Fernsprecher zu benutzen, und wir dürfen nur im letzten Wagen der Metro fahren. Viele Läden sind uns gänzlich untersagt, und wir dürfen nur zwischen vier und fünf einkaufen, wenn sowieso alles ausverkauft ist, und nur an bestimmten Tagen. Solange ich bei Henri bleibe, habe ich meinen gelben Stern abgelegt, da unser Zusammenleben natürlich verboten ist, und ich werde nicht eher nach Hause zurückkehren, als bis Maman sich für die rohen Schimpfwörter entschuldigt hat und dafür, wie sie mich geohrfeigt hat (mehrmals). Darin bleibe ich fest. Ich habe nichts Schändliches getan, und ich schäme mich nicht – außer dafür, wie sie mich behandelt!

      Eine gute Lösung ist das nicht, denn wenn ich bei Henri bleibe, muss ich den gelben Stern entfernen, aber mein Ausweis – den wir zwanzigmal am Tag vorzeigen müssen – trägt in großen roten Buchstaben den Stempel JUIVE.

      Ich habe mich etwas mehr daran gewöhnt, mit Henri zu schlafen. Er fragt mich immer, ob ich gekommen bin, und ich sage wahrheitsgemäß, dass ich das bezweifle, aber dass ich gar nicht weiß, was das für ein Gefühl ist. Ich fange jedoch an, das Vorspiel zu genießen. Küssen und Streicheln müssen nicht notwendig als sentimentaler Zeitvertreib angesehen werden, sondern haben aufgrund ihres sinnlichen Gehalts durchaus ihre Berechtigung, finde ich.

      Mit Henri zusammenzuleben ist jedoch nicht sonderlich gemütlich. Mit Maman und Rivka habe ich meine gewohnten Regeln. Es ist einfacher, zu Hause für mein Studium zu lernen, und ich habe nur mitgenommen, was ich auf dem Rücken tragen konnte. Ich vermisse meine Bücher, meinen Sessel, meine café au lait-Tasse mit den Möwen drauf, die Papas copain Georges aus Dänemark mitgebracht hat. Henri hat keinerlei hausfrauliche Talente, und das WC auf dem Flur ist widerwärtig. Das Haus besteht aus winzigen Ein- und Zweizimmerwohnungen, wovon mehrere an Prostituierte vermietet sind, deren Kunden die ganze Nacht lang die Treppe hinunterpoltern. Ich werde Maman ein oder zwei Tage geben, um sich abzuregen, und dann werde ich erscheinen, wieder ganz die Alte, und sehen, ob wir Frieden schließen können.

      Die Szene verfolgt mich mit ihrer Eruption von Unvernunft, der in uns beiden entfesselten Gewalt – wie sie mich schlägt und die Kartoffeln hinwirft – und der Heftigkeit unserer Gefühle. Ich weiß nicht, warum ich nicht so ruhig bleiben konnte, wie ich es mir vorgenommen hatte, aber je mehr sie außer sich geriet, desto mehr wiederum geriet ich außer mich vor Zorn, ein böser Kreislauf. Jedes Mal, wenn ich an diese hässliche Szene denke, bin ich entsetzt, wie wir uns benommen haben, wie wir unsere Würde verloren haben und wie wir aneinander vorbeigeredet haben. Ich bin entschlossen, wieder in Frieden mit ihr zu leben, aber zu vernünftigen Bedingungen.

      16 juillet 1942

      Ich kann fast nicht schreiben. Ich habe so lange geweint, dass meine Augen geschwollen sind und brennen und meine Nebenhöhlen völlig verstopft sind.

      Maman und


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