Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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sei­ner Zeit ver­wen­de­te er auf sei­ne ita­liä­nisch ver­fass­te Rei­se­be­schrei­bung, de­ren Ab­schrift und Re­dak­ti­on er ei­gen­hän­dig, heft­wei­se, lang­sam und ge­nau aus­fer­tig­te. Ein al­ter hei­te­rer ita­liä­ni­scher Sprach­meis­ter, Gio­vi­naz­zi ge­nannt, war ihm dar­an be­hilf­lich. Auch sang der Alte nicht übel, und mei­ne Mut­ter muss­te sich be­que­men, ihn und sich selbst mit dem Kla­vie­re täg­lich zu ak­kom­pa­gnie­ren; da ich denn das So­li­ta­rio bos­co om­bro­so bald ken­nen lern­te und aus­wen­dig wuss­te, ehe ich es ver­stand.

      Mein Va­ter war über­haupt lehr­haf­ter Na­tur, und bei sei­ner Ent­fer­nung von Ge­schäf­ten woll­te er gern das­je­ni­ge, was er wuss­te und ver­moch­te, auf an­de­re über­tra­gen. So hat­te er mei­ne Mut­ter in den ers­ten Jah­ren ih­rer Ver­hei­ra­tung zum flei­ßi­gen Schrei­ben an­ge­hal­ten, wie zum Kla­vier­spie­len und Sin­gen; wo­bei sie sich ge­nö­tigt sah, auch in der ita­liä­ni­schen Spra­che ei­ni­ge Kennt­nis und not­dürf­ti­ge Fer­tig­keit zu er­wer­ben.

      Ge­wöhn­lich hiel­ten wir uns in al­len un­sern Frei­stun­den zur Groß­mut­ter, in de­ren ge­räu­mi­gem Wohn­zim­mer wir hin­läng­lich Platz zu un­sern Spie­len fan­den. Sie wuss­te uns mit al­ler­lei Klei­nig­kei­ten zu be­schäf­ti­gen und mit al­ler­lei gu­ten Bis­sen zu er­qui­cken. An ei­nem Weih­nachts­aben­de je­doch setz­te sie al­len ih­ren Wohl­ta­ten die Kro­ne auf, in­dem sie uns ein Pup­pen­spiel vor­stel­len ließ und so in dem al­ten Hau­se eine neue Welt er­schuf. Die­ses un­er­war­te­te Schau­spiel zog die jun­gen Ge­mü­ter mit Ge­walt an sich; be­son­ders auf den Kna­ben mach­te es einen sehr star­ken Ein­druck, der in eine große, lang­dau­ern­de Wir­kung nach­klang.

      Die klei­ne Büh­ne mit ih­rem stum­men Per­so­nal, die man uns an­fangs nur vor­ge­zeigt hat­te, nach­her aber zu eig­ner Übung und dra­ma­ti­scher Be­le­bung übergab, muss­te uns Kin­dern umso viel wer­ter sein, als es das letz­te Ver­mächt­nis un­se­rer gu­ten Groß­mut­ter war, die bald dar­auf durch zu­neh­men­de Krank­heit un­sern Au­gen erst ent­zo­gen und dann für im­mer durch den Tod ent­ris­sen wur­de. Ihr Ab­schei­den war für die Fa­mi­lie von de­sto grö­ße­rer Be­deu­tung, als es eine völ­li­ge Ver­än­de­rung in dem Zu­stan­de der­sel­ben nach sich zog.

      So­lan­ge die Groß­mut­ter leb­te, hat­te mein Va­ter sich ge­hü­tet, nur das Min­des­te im Hau­se zu ver­än­dern oder zu er­neu­ern; aber man wuss­te wohl, dass er sich zu ei­nem Haupt­bau vor­be­rei­te­te, der nun­mehr auch so­gleich vor­ge­nom­men wur­de. In Frank­furt, wie in meh­rern al­ten Städ­ten, hat­te man bei Auf­füh­rung höl­zer­ner Ge­bäu­de, um Platz zu ge­win­nen, sich er­laubt, nicht al­lein mit dem ers­ten, son­dern auch mit den fol­gen­den Sto­cken über­zu­bau­en; wo­durch denn frei­lich be­son­ders enge Stra­ßen et­was Düs­te­res und Ängst­li­ches be­ka­men. End­lich ging ein Ge­setz durch, dass, wer ein neu­es Haus von Grund auf baue, nur mit dem ers­ten Stock über das Fun­da­ment her­aus­rücken dür­fe, die üb­ri­gen aber senk­recht auf­füh­ren müs­se. Mein Va­ter, um den vor­sprin­gen­den Raum im zwei­ten Stock auch nicht auf­zu­ge­ben, we­nig be­küm­mert um äu­ße­res ar­chi­tek­to­ni­sches An­se­hen und nur um in­ne­re gute und be­que­me Ein­rich­tung be­sorgt, be­dien­te sich, wie schon meh­re­re vor ihm ge­tan, der Aus­flucht, die obe­ren Tei­le des Hau­ses zu un­ter­stüt­zen und von un­ten her­auf einen nach dem an­de­ren weg­zu­neh­men und das Neue gleich­sam ein­zu­schal­ten, so­dass, wenn zu­letzt ge­wis­ser­ma­ßen nichts von dem Al­ten üb­rig blieb, der ganz neue Bau noch im­mer für eine Re­pa­ra­tur gel­ten konn­te. Da nun also das Ein­rei­ßen und Auf­rich­ten all­mäh­lich ge­sch­ah, so hat­te mein Va­ter sich vor­ge­nom­men, nicht aus dem Hau­se zu wei­chen, um de­sto bes­ser die Auf­sicht zu füh­ren und die An­lei­tung ge­ben zu kön­nen: denn aufs Tech­ni­sche des Bau­es ver­stand er sich ganz gut; da­bei woll­te er aber auch sei­ne Fa­mi­lie nicht von sich las­sen. Die­se neue Epo­che war den Kin­dern sehr über­ra­schend und son­der­bar. Die Zim­mer, in de­nen man sie oft enge ge­nug ge­hal­ten und mit we­nig er­freu­li­chem Ler­nen und Ar­bei­ten ge­ängs­tigt, die Gän­ge, auf de­nen sie ge­spielt, die Wän­de, für de­ren Rein­lich­keit und Er­hal­tung man sonst so sehr ge­sorgt, al­les das vor der Ha­cke des Mau­rers, vor dem Bei­le des Zim­mer­manns fal­len zu se­hen, und zwar von un­ten her­auf, und in­des­sen oben auf un­ter­stütz­ten Bal­ken gleich­sam in der Luft zu schwe­ben und da­bei im­mer noch zu ei­ner ge­wis­sen Lek­ti­on, zu ei­ner be­stimm­ten Ar­beit an­ge­hal­ten zu wer­den – die­ses al­les brach­te eine Ver­wir­rung in den jun­gen Köp­fen her­vor, die sich so leicht nicht wie­der ins Glei­che set­zen ließ. Doch wur­de die Un­be­quem­lich­keit von der Ju­gend we­ni­ger emp­fun­den, weil ihr et­was mehr Spiel­raum als bis­her und man­che Ge­le­gen­heit, sich auf Bal­ken zu schau­keln und auf Bret­tern zu schwin­gen, ge­las­sen ward.

      Hart­nä­ckig setz­te der Va­ter die ers­te Zeit sei­nen Plan durch; doch als zu­letzt auch das Dach teil­wei­se ab­ge­tra­gen wur­de und, un­ge­ach­tet al­les über­ge­spann­ten Wachs­tu­ches von ab­ge­nom­me­nen Ta­pe­ten, der Re­gen bis zu un­sern Bet­ten ge­lang­te, so ent­schloss er sich, ob­gleich un­gern, die Kin­der wohl­wol­len­den Freun­den, wel­che sich schon frü­her dazu er­bo­ten hat­ten, auf eine Zeit lang zu über­las­sen und sie in eine öf­fent­li­che Schu­le zu schi­cken.

      Die­ser Über­gang hat­te man­ches Un­an­ge­neh­me: denn in­dem man die bis­her zu Hau­se ab­ge­son­dert, rein­lich, edel, ob­gleich streng ge­hal­te­nen Kin­der un­ter eine rohe Mas­se von jun­gen Ge­schöp­fen hin­un­ters­tieß, so hat­ten sie vom Ge­mei­nen, Schlech­ten, ja Nie­der­träch­ti­gen ganz un­er­war­tet al­les zu lei­den, weil sie al­ler Waf­fen und al­ler Fä­hig­keit er­man­gel­ten, sich da­ge­gen zu schüt­zen.

      Um die­se Zeit war es ei­gent­lich, dass ich mei­ne Va­ter­stadt zu­erst ge­wahr wur­de: wie ich denn nach und nach im­mer frei­er und un­ge­hin­der­ter, teils al­lein, teils mit mun­tern Ge­spie­len, dar­in auf und ab wan­del­te. Um den Ein­druck, den die­se erns­ten und wür­di­gen Um­ge­bun­gen auf mich mach­ten, ei­ni­ger­ma­ßen mit­zu­tei­len, muss ich hier mit der Schil­de­rung mei­nes Ge­burts­or­tes vor­grei­fen, wie er sich in sei­nen ver­schie­de­nen Tei­len all­mäh­lich vor mir ent­wi­ckel­te. Am liebs­ten spa­zier­te ich auf der großen Main­brücke. Ihre Län­ge, ihre Fes­tig­keit, ihr gu­tes An­se­hen mach­te sie zu ei­nem be­mer­kens­wer­ten Bau­werk; auch ist es aus frü­he­rer Zeit bei­na­he das ein­zi­ge Denk­mal je­ner Vor­sor­ge, wel­che die welt­li­che Ob­rig­keit ih­ren Bür­gern schul­dig ist. Der schö­ne Fluss auf- und ab­wärts zog mei­ne Bli­cke nach sich; und wenn auf dem Brücken­kreuz der gol­de­ne Hahn im Son­nen­schein glänz­te, so war es mir im­mer eine er­freu­li­che Emp­fin­dung. Ge­wöhn­lich ward als­dann durch Sach­sen­hau­sen spa­ziert und die Über­fahrt für einen Kreu­zer gar be­hag­lich ge­nos­sen. Da be­fand man sich nun wie­der dies­seits, da schlich man zum Wein­mark­te, be­wun­der­te den Mecha­nis­mus der Kra­ne, wenn Wa­ren aus­ge­la­den wur­den; be­son­ders aber un­ter­hielt uns die An­kunft der Markt­schif­fe, wo man so man­cher­lei und mit­un­ter so selt­sa­me Fi­gu­ren aus­stei­gen sah. Ging es nun in die Stadt her­ein, so ward je­der­zeit der Saal­hof, der we­nigs­tens an der Stel­le stand, wo die Burg Kai­ser Karls des Gro­ßen und sei­ner Nach­fol­ger ge­we­sen sein soll­te, ehr­furchts­voll ge­grüßt. Man ver­lor sich in die alte Ge­werb­stadt und be­son­ders Markt­ta­ges gern in dem Ge­wühl, das sich um die


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