Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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Die Ge­richts­ver­hand­lun­gen hal­ten inne, Pfei­fer und Beglei­tung blei­ben vor den Schran­ken, der Ab­ge­sand­te tritt hin­ein und stellt sich dem Schult­hei­ßen ge­gen­über. Die sym­bo­li­schen Ga­ben, wel­che auf das ge­naus­te nach dem al­ten Her­kom­men ge­for­dert wur­den, be­stan­den ge­wöhn­lich in sol­chen Wa­ren, wo­mit die dar­brin­gen­de Stadt vor­züg­lich zu han­deln pfleg­te. Der Pfef­fer galt gleich­sam für alle Wa­ren, und so brach­te auch hier der Ab­ge­sand­te einen schön gedrech­sel­ten höl­zer­nen Po­kal mit Pfef­fer an­ge­füllt. Über dem­sel­ben la­gen ein paar Hand­schu­he, wun­der­sam ge­schlitzt, mit Sei­de be­steppt und be­quas­tet, als Zei­chen ei­ner ge­stat­te­ten und an­ge­nom­me­nen Ver­güns­ti­gung, des­sen sich auch wohl der Kai­ser selbst in ge­wis­sen Fäl­len be­dien­te. Da­ne­ben sah man ein wei­ßes Stäb­chen, wel­ches vor­mals bei ge­setz­li­chen und ge­richt­li­chen Hand­lun­gen nicht leicht feh­len durf­te. Es wa­ren noch ei­ni­ge klei­ne Sil­ber­mün­zen hin­zu­ge­fügt, und die Stadt Worms brach­te einen al­ten Filz­hut, den sie im­mer wie­der ein­lös­te, so­dass der­sel­be vie­le Jah­re ein Zeu­ge die­ser Ze­re­mo­ni­en ge­we­sen.

      Nach­dem der Ge­sand­te sei­ne An­re­de ge­hal­ten, das Ge­schenk ab­ge­ge­ben, von dem Schult­hei­ßen die Ver­si­che­rung fort­dau­ern­der Be­güns­ti­gung emp­fan­gen, so ent­fern­te er sich aus dem ge­schlos­se­nen Krei­se, die Pfei­fer blie­sen, der Zug ging ab, wie er ge­kom­men war, das Ge­richt ver­folg­te sei­ne Ge­schäf­te, bis der zwei­te und end­lich der drit­te Ge­sand­te ein­ge­führt wur­den: denn sie ka­men erst ei­ni­ge Zeit nach ein­an­der, teils da­mit das Ver­gnü­gen des Pub­li­kums län­ger dau­re, teils auch weil es im­mer die­sel­ben al­ter­tüm­li­chen Vir­tuo­sen wa­ren, wel­che Nürn­berg für sich und sei­ne Mit­städ­te zu un­ter­hal­ten und je­des Jahr an Ort und Stel­le zu brin­gen über­nom­men hat­te.

      Wir Kin­der wa­ren bei die­sem Fes­te be­son­ders in­ter­es­siert, weil es uns nicht we­nig schmei­chel­te, un­sern Groß­va­ter an ei­ner so eh­ren­vol­len Stel­le zu se­hen, und weil wir ge­wöhn­lich noch sel­bi­gen Tag ihn ganz be­schei­den zu be­su­chen pfleg­ten, um, wenn die Groß­mut­ter den Pfef­fer in ihre Ge­würz­la­den ge­schüt­tet hät­te, einen Be­cher und Stäb­chen, ein paar Hand­schuh oder einen al­ten Rä­der-Al­bus zu er­ha­schen. Man konn­te sich die­se sym­bo­li­schen, das Al­ter­tum gleich­sam her­vor­zau­bern­den Ze­re­mo­ni­en nicht er­klä­ren las­sen, ohne in ver­gan­ge­ne Jahr­hun­der­te wie­der zu­rück­ge­führt zu wer­den, ohne sich nach Sit­ten, Ge­bräu­chen und Ge­sin­nun­gen un­se­rer Alt­vor­dern zu er­kun­di­gen, die sich durch wie­der auf­er­stan­de­ne Pfei­fer und Ab­ge­ord­ne­te, ja durch hand­greif­li­che und für uns be­sitz­ba­re Ga­ben auf eine so wun­der­li­che Wei­se ver­ge­gen­wär­tig­ten.

      Sol­chen alt­ehr­wür­di­gen Fei­er­lich­kei­ten folg­te in gu­ter Jahrs­zeit man­ches für uns Kin­der lus­t­rei­che­re Fest au­ßer­halb der Stadt un­ter frei­em Him­mel. An dem rech­ten Ufer des Mains un­ter­wärts, etwa eine hal­be Stun­de vom Tor, quillt ein Schwe­fel­brun­nen, sau­ber ein­ge­fasst und mit ur­al­ten Lin­den um­ge­ben. Nicht weit da­von steht der Hof zu den gu­ten Leu­ten, eh­mals ein um die­ser Quel­le wil­len er­bau­tes Ho­spi­tal. Auf den Ge­mein­wei­den um­her ver­sam­mel­te man zu ei­nem ge­wis­sen Tage des Jah­res die Rind­vieh­her­den aus der Nach­bar­schaft, und die Hir­ten samt ih­ren Mäd­chen fei­er­ten ein länd­li­ches Fest, mit Tanz und Ge­sang, mit man­cher­lei Lust und An­ge­zo­gen­heit. Auf der an­de­ren Sei­te der Stadt lag ein ähn­li­cher, nur grö­ße­rer Ge­mein­de­platz, gleich­falls durch einen Brun­nen und durch noch schö­ne­re Lin­den ge­ziert. Dor­thin trieb man zu Pfings­ten die Schaf­her­den, und zu glei­cher Zeit ließ man die ar­men, ver­bleich­ten Wai­sen­kin­der aus ih­ren Mau­ern ins Freie: denn man soll­te erst spä­ter auf den Ge­dan­ken ge­ra­ten, dass man sol­che ver­las­se­ne Krea­tu­ren, die sich einst durch die Welt durch­zu­hel­fen ge­nö­tigt sind, früh mit der Welt in Ver­bin­dung brin­gen, an­statt sie auf eine trau­ri­ge Wei­se zu he­gen, sie lie­ber gleich zum Die­nen und Dul­den ge­wöh­nen müs­se und alle Ur­sach habe, sie von Kin­des­bei­nen an so­wohl phy­sisch als mo­ra­lisch zu kräf­ti­gen. Die Am­men und Mäg­de, wel­che sich selbst im­mer gern einen Spa­zier­gang be­rei­ten, ver­fehl­ten nicht, von den frühs­ten Zei­ten, uns an der­glei­chen Orte zu tra­gen und zu füh­ren, so­dass die­se länd­li­chen Fes­te wohl mit zu den ers­ten Ein­drücken ge­hö­ren, de­ren ich mich er­in­nern kann.

      Das Haus war in­des­sen fer­tig ge­wor­den, und zwar in ziem­lich kur­z­er Zeit, weil al­les wohl über­legt, vor­be­rei­tet und für die nö­ti­ge Geld­sum­me ge­sorgt war. Wir fan­den uns nun alle wie­der ver­sam­melt und fühl­ten uns be­hag­lich: denn ein wohl­aus­ge­dach­ter Plan, wenn er aus­ge­führt da­steht, lässt al­les ver­ges­sen, was die Mit­tel, um zu die­sem Zweck zu ge­lan­gen, Un­be­que­mes mö­gen ge­habt ha­ben. Das Haus war für eine Pri­vat­woh­nung ge­räu­mig ge­nug, durch­aus hell und hei­ter, die Trep­pe frei, die Vor­sä­le luf­tig, und jene Aus­sicht über die Gär­ten aus meh­re­ren Fens­tern be­quem zu ge­nie­ßen. Der in­ne­re Aus­bau, und was zur Vollen­dung und Zier­de ge­hört, ward nach und nach voll­bracht und diente zu­gleich zur Be­schäf­ti­gung und zur Un­ter­hal­tung.

      Das ers­te, was man in Ord­nung brach­te, war die Bü­cher­samm­lung des Va­ters, von wel­cher die bes­ten, in Franz- oder Halb­franz­band ge­bun­de­nen Bü­cher die Wän­de sei­nes Ar­beits- und Stu­dier­zim­mers schmücken soll­ten. Er be­saß die schö­nen hol­län­di­schen Aus­ga­ben der la­tei­ni­schen Schrift­stel­ler, wel­che er der äu­ßern Über­ein­stim­mung we­gen sämt­lich in Quart an­zu­schaf­fen such­te; so­dann vie­les, was sich auf die rö­mi­schen An­ti­qui­tä­ten und die ele­gan­te­re Ju­rispru­denz be­zieht. Die vor­züg­lichs­ten ita­liä­ni­schen Dich­ter fehl­ten nicht, und für den Tas­so be­zeig­te er eine große Vor­lie­be. Die bes­ten neus­ten Rei­se­be­schrei­bun­gen wa­ren auch vor­han­den, und er selbst mach­te sich ein Ver­gnü­gen dar­aus, den Keyß­ler und Ne­meiz zu be­rich­ti­gen und zu er­gän­zen. Nicht we­ni­ger hat­te er sich mit den nö­tigs­ten Hilfs­mit­teln um­ge­ben, mit Wör­ter­bü­chern aus ver­schie­de­nen Spra­chen, mit Re­al­le­xi­ken, dass man sich also nach Be­lie­ben Rats er­ho­len konn­te, so wie mit man­chem an­de­ren, was zum Nut­zen und Ver­gnü­gen ge­reicht.

      Die an­de­re Hälf­te die­ser Bü­cher­samm­lung, in sau­bern Per­ga­ment­bän­den mit sehr schön ge­schrie­be­nen Ti­teln, ward in ei­nem be­son­dern Man­sard­zim­mer auf­ge­stellt. Das Nach­schaf­fen der neu­en Bü­cher, so wie das Bin­den und Ein­rei­hen der­sel­ben, be­trieb er mit großer Ge­las­sen­heit und Ord­nung. Da­bei hat­ten die ge­lehr­ten An­zei­gen, wel­che die­sem oder je­nem Werk be­son­de­re Vor­zü­ge bei­leg­ten, auf ihn großen Ein­fluss. Sei­ne Samm­lung ju­ris­ti­scher Dis­ser­ta­tio­nen ver­mehr­te sich jähr­lich um ei­ni­ge Bän­de.

      Zu­nächst aber wur­den die Ge­mäl­de, die sonst in dem al­ten Hau­se zer­streut her­um­ge­han­gen, nun­mehr zu­sam­men an den Wän­den ei­nes freund­li­chen Zim­mers ne­ben der Stu­dier­stu­be, alle in schwar­zen, mit gol­de­nen Stäb­chen ver­zier­ten Rah­men, sym­me­trisch an­ge­bracht. Mein Va­ter hat­te den Grund­satz, den er öf­ters und so­gar lei­den­schaft­lich aus­sprach, dass man die le­ben­den Meis­ter be­schäf­ti­gen und we­ni­ger auf die ab­ge­schie­de­nen wen­den sol­le, bei de­ren Schät­zung


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