Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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ge­ra­de da­durch ge­wön­nen, woll­te er nicht zu­ge­ste­hen.

      Nach die­sen Grund­sät­zen be­schäf­tig­te er meh­re­re Jah­re hin­durch die sämt­li­chen Frank­fur­ter Künst­ler: den Ma­ler Hirt, wel­cher Ei­chen- und Bu­chen­wäl­der und an­de­re so­ge­nann­te länd­li­che Ge­gen­den sehr wohl mit Vieh zu staf­fie­ren wuss­te; des­glei­chen Traut­mann, der sich den Rem­brandt zum Mus­ter ge­nom­men und es in ein­ge­schlos­se­nen Lich­tern und Wi­der­schei­nen, nicht we­ni­ger in ef­fekt­vol­len Feu­ers­brüns­ten weit ge­bracht hat­te, so­dass er eins­tens auf­ge­for­dert wur­de, einen Pend­ant zu ei­nem Rem­brand­ti­schen Bil­de zu ma­len; fer­ner Schütz, der auf dem Wege des Sacht­le­ben die Rhein­ge­gen­den flei­ßig be­ar­bei­te­te; nicht we­ni­ger Jun­ckern, der Blu­men- und Frucht­stücke, Still­le­ben und ru­hig be­schäf­tig­te Per­so­nen nach dem Vor­gang der Nie­der­län­der sehr rein­lich aus­führ­te. Nun aber ward durch die neue Ord­nung, durch einen be­que­mern Raum und noch mehr durch die Be­kannt­schaft ei­nes ge­schick­ten Künst­lers die Lieb­ha­be­rei wie­der an­ge­frischt und be­lebt. Die­ses war See­katz, ein Schü­ler von Brin­ck­mann, darm­städ­ti­scher Hof­ma­ler, des­sen Ta­lent und Cha­rak­ter sich in der Fol­ge vor uns um­ständ­li­cher ent­wi­ckeln wird.

      Man schritt auf die­se Wei­se mit Vollen­dung der üb­ri­gen Zim­mer, nach ih­ren ver­schie­de­nen Be­stim­mun­gen, wei­ter. Rein­lich­keit und Ord­nung herrsch­ten im gan­zen; vor­züg­lich tru­gen große Spie­gel­schei­ben das Ih­ri­ge zu ei­ner voll­kom­me­nen Hel­lig­keit bei, die in dem al­ten Hau­se aus meh­rern Ur­sa­chen, zu­nächst aber auch we­gen meist runder Fens­ter­schei­ben ge­fehlt hat­te. Der Va­ter zeig­te sich hei­ter, weil ihm al­les gut ge­lun­gen war; und wäre der gute Hu­mor nicht manch­mal da­durch un­ter­bro­chen wor­den, dass nicht im­mer der Fleiß und die Ge­nau­ig­keit der Hand­wer­ker sei­nen For­de­run­gen ent­spra­chen, so hät­te man kein glück­li­che­res Le­ben den­ken kön­nen, zu­mal da man­ches Gute teils in der Fa­mi­lie selbst ent­sprang, teils ihr von au­ßen zu­floss.

      Durch ein au­ßer­or­dent­li­ches Wel­ter­eig­nis wur­de je­doch die Ge­müts­ru­he des Kna­ben zum ers­ten Mal im tiefs­ten er­schüt­tert. Am 1. No­vem­ber 1755 er­eig­ne­te sich das Erd­be­ben von Lissa­bon und ver­brei­te­te über die in Frie­den und Ruhe schon ein­ge­wohn­te Welt einen un­ge­heu­ren Schre­cken. Eine große präch­ti­ge Re­si­denz, zu­gleich Han­dels- und Ha­fen­stadt, wird un­ge­warnt von dem furcht­bars­ten Un­glück be­trof­fen. Die Erde bebt und schwankt, das Meer braust auf, die Schif­fe schla­gen zu­sam­men, die Häu­ser stür­zen ein, Kir­chen und Tür­me dar­über her, der kö­nig­li­che Palast zum Teil wird vom Mee­re ver­schlun­gen, die ge­bors­te­ne Erde scheint Flam­men zu spei­en, denn über­all mel­det sich Rauch und Brand in den Rui­nen. Sech­zig­tau­send Men­schen, einen Au­gen­blick zu­vor noch ru­hig und be­hag­lich, ge­hen mit­ein­an­der zu Grun­de, und der Glück­lichs­te dar­un­ter ist der zu nen­nen, dem kei­ne Emp­fin­dung, kei­ne Be­sin­nung über das Un­glück mehr ge­stat­tet ist. Die Flam­men wü­ten fort, und mit ih­nen wü­tet eine Schar sonst ver­bor­gner, oder durch die­ses Er­eig­nis in Frei­heit ge­setz­ter Ver­bre­cher. Die un­glück­li­chen Üb­rig­ge­blie­be­nen sind dem Rau­be, dem Mor­de, al­len Miss­hand­lun­gen bloß­ge­stellt; und so be­haup­tet von al­len Zei­ten die Na­tur ihre schran­ken­lo­se Will­kür.

      Schnel­ler als die Nach­rich­ten hat­ten schon An­deu­tun­gen von die­sem Vor­fall sich durch große Land­stre­cken ver­brei­tet: an vie­len Or­ten wa­ren schwä­che­re Er­schüt­te­run­gen zu ver­spü­ren, an man­chen Quel­len, be­son­ders den heil­sa­men, ein un­ge­wöhn­li­ches In­ne­hal­ten zu be­mer­ken ge­we­sen; um de­sto grö­ßer war die Wir­kung der Nach­rich­ten selbst, wel­che erst im All­ge­mei­nen, dann aber mit schreck­li­chen Ein­zel­hei­ten sich rasch ver­brei­te­ten. Hier­auf lie­ßen es die Got­tes­fürch­ti­gen nicht an Be­trach­tun­gen, die Phi­lo­so­phen nicht an Trost­grün­den, an Straf­pre­dig­ten die Geist­lich­keit nicht feh­len. So vie­les zu­sam­men rich­te­te die Auf­merk­sam­keit der Welt eine Zeit lang auf die­sen Punkt, und die durch frem­des Un­glück auf­ge­reg­ten Ge­mü­ter wur­den durch Sor­gen für sich selbst und die Ih­ri­gen umso mehr ge­ängs­tigt, als über die weit­ver­brei­te­te Wir­kung die­ser Ex­plo­si­on von al­len Or­ten und En­den im­mer meh­re­re und um­ständ­li­che­re Nach­rich­ten ein­lie­fen, viel­leicht hat der Dä­mon des Schre­ckens zu kei­ner Zeit so schnell und so mäch­tig sei­ne Schau­er über die Erde ver­brei­tet.

      Der Kna­be, der al­les die­ses wie­der­holt ver­neh­men muss­te, war nicht we­nig be­trof­fen. Gott, der Schöp­fer und Er­hal­ter Him­mels und der Er­den, den ihm die Er­klä­rung des ers­ten Glau­bens­ar­ti­kels so wei­se und gnä­dig vor­stell­te, hat­te sich, in­dem er die Ge­rech­ten mit den Un­ge­rech­ten glei­chem Ver­der­ben preis­gab, kei­nes­wegs vä­ter­lich be­wie­sen. Ver­ge­bens such­te das jun­ge Ge­müt sich ge­gen die­se Ein­drücke her­zu­stel­len, wel­ches über­haupt umso we­ni­ger mög­lich war, als die Wei­sen und Schrift­ge­lehr­ten selbst sich über die Art, wie man ein sol­ches Phä­no­men an­zu­se­hen habe, nicht ver­ei­ni­gen konn­ten.

      Der fol­gen­de Som­mer gab eine nä­he­re Ge­le­gen­heit, den zor­ni­gen Gott, von dem das Alte Te­sta­ment so viel über­lie­fert, un­mit­tel­bar ken­nen zu ler­nen. Un­ver­se­hens brach ein Ha­gel­wet­ter her­ein und schlug die neu­en Spie­gel­schei­ben der ge­gen Abend ge­le­ge­nen Hin­ter­sei­te des Hau­ses un­ter Don­ner und Blit­zen auf das ge­walt­sams­te zu­sam­men, be­schä­dig­te die neu­en Mö­beln, ver­derb­te ei­ni­ge schätz­ba­re Bü­cher und sonst wer­te Din­ge und war für die Kin­der umso fürch­ter­li­cher, als das ganz au­ßer sich ge­setz­te Haus­ge­sin­de sie in einen dunklen Gang mit fort­riss und dort auf den Kni­en lie­gend durch schreck­li­ches Ge­heul und Ge­schrei die er­zürn­te Gott­heit zu ver­söh­nen glaub­te; in­des­sen der Va­ter, ganz al­lein ge­fasst, die Fens­ter­flü­gel auf­riss und aus­hob, wo­durch er zwar man­che Schei­ben ret­te­te, aber auch dem auf den Ha­gel fol­gen­den Re­gen­guss einen de­sto off­nern Weg be­rei­te­te, so­dass man sich, nach end­li­cher Er­ho­lung, auf den Vor­sä­len und Trep­pen von flu­ten­dem und rin­nen­dem Was­ser um­ge­ben sah.

      Sol­che Vor­fäl­le, wie stö­rend sie auch im gan­zen wa­ren, un­ter­bra­chen doch nur we­nig den Gang und die Fol­ge des Un­ter­richts, den der Va­ter selbst uns Kin­dern zu ge­ben sich ein­mal vor­ge­nom­men. Er hat­te sei­ne Ju­gend auf dem Ko­bur­ger Gym­na­si­um zu­ge­bracht, wel­ches un­ter den deut­schen Lehr­an­stal­ten eine der ers­ten Stel­len ein­nahm. Er hat­te da­selbst einen gu­ten Grund in den Spra­chen, und was man sonst zu ei­ner ge­lehr­ten Er­zie­hung rech­ne­te, ge­legt, nach­her in Leip­zig sich der Rechts­wis­sen­schaft be­flis­sen und zu­letzt in Gie­ßen pro­mo­viert. Sei­ne mit Ernst und Fleiß ver­fass­te Dis­ser­ta­ti­on: Elec­ta de adi­tio­ne here­di­ta­tis, wird noch von den Rechts­leh­rern mit Lob an­ge­führt.

      Es ist ein from­mer Wunsch al­ler Vä­ter, das, was ih­nen selbst ab­ge­gan­gen, an den Söh­nen rea­li­siert zu se­hen, so un­ge­fähr, als wenn man zum zwei­ten Mal leb­te und die Er­fah­run­gen des ers­ten Le­bens­lau­fes nun erst recht nut­zen woll­te. Im Ge­fühl sei­ner Kennt­nis­se, in Ge­wiss­heit ei­ner treu­en Aus­dau­er und im Miss­trau­en ge­gen die da­ma­li­gen Leh­rer, nahm der Va­ter sich vor, sei­ne Kin­der selbst zu un­ter­rich­ten und nur so viel, als es nö­tig schi­en,


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