Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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mitt­le­re Per­son zwi­schen Al­ki­nous und Laer­tes hät­te vor­stel­len kön­nen.

      Alle die­se Gar­ten­ar­bei­ten be­trieb er eben so re­gel­mä­ßig und ge­nau als sei­ne Amts­ge­schäf­te: denn eh’ er her­un­ter­kam, hat­te er im­mer die Re­gis­tran­de sei­ner Pro­po­nen­den für den an­de­ren Tag in Ord­nung ge­bracht und die Ak­ten ge­le­sen. Eben so fuhr er mor­gens aufs Rat­haus, speis­te nach sei­ner Rück­kehr, nick­te hier­auf in sei­nem Groß­stuhl, und so ging al­les einen Tag wie den an­de­ren. Er sprach we­nig, zeig­te kei­ne Spur von Hef­tig­keit; ich er­in­ne­re mich nicht, ihn zor­nig ge­se­hen zu ha­ben. Al­les, was ihn um­gab, war al­ter­tüm­lich. In sei­ner ge­tä­fel­ten Stu­be habe ich nie­mals ir­gend eine Neue­rung wahr­ge­nom­men. Sei­ne Biblio­thek ent­hielt au­ßer ju­ris­ti­schen Wer­ken nur die ers­ten Rei­se­be­schrei­bun­gen, See­fahr­ten und Län­der-Ent­de­ckun­gen. Über­haupt er­in­ne­re ich mich kei­nes Zu­stan­des, der so wie die­ser das Ge­fühl ei­nes un­ver­brüch­li­chen Frie­dens und ei­ner ewi­gen Dau­er ge­ge­ben hät­te.

      Was je­doch die Ehr­furcht, die wir für die­sen wür­di­gen Greis emp­fan­den, bis zum Höchs­ten stei­ger­te, war die Über­zeu­gung, dass der­sel­be die Gabe der Weis­sa­gung be­sit­ze, be­son­ders in Din­gen, die ihn selbst und sein Schick­sal be­tra­fen. Zwar ließ er sich ge­gen nie­mand als ge­gen die Groß­mut­ter ent­schie­den und um­ständ­lich her­aus; aber wir alle wuss­ten doch, dass er durch be­deu­ten­de Träu­me von dem, was sich er­eig­nen soll­te, un­ter­rich­tet wer­de. So ver­si­cher­te er z. B. sei­ner Gat­tin, zur­zeit als er noch un­ter die jün­gern Rats­her­ren ge­hör­te, dass er bei der nächs­ten Va­kanz auf der Schöf­fen­bank zu der er­le­dig­ten Stel­le ge­lan­gen wür­de. Und als wirk­lich bald dar­auf ei­ner der Schöf­fen vom Schla­ge ge­rührt starb, ver­ord­ne­te er am Tage der Wahl und Ku­ge­lung, dass zu Hau­se im Stil­len al­les zum Empfang der Gäs­te und Gra­tu­lan­ten sol­le ein­ge­rich­tet wer­den, und die ent­schei­den­de gold­ne Ku­gel ward wirk­lich für ihn ge­zo­gen. Den ein­fa­chen Traum, der ihn hie­von be­lehrt, ver­trau­te er sei­ner Gat­tin fol­gen­der­ma­ßen: Er habe sich in vol­ler ge­wöhn­li­cher Rats­ver­samm­lung ge­se­hen, wo al­les nach her­ge­brach­ter Wei­se vor­ge­gan­gen; auf ein­mal habe sich der nun ver­stor­be­ne Schöff von sei­nem Sit­ze er­ho­ben, sei her­ab­ge­stie­gen und habe ihm auf eine ver­bind­li­che Wei­se das Kom­pli­ment ge­macht: er möge den ver­las­se­nen Platz ein­neh­men, und sei dar­auf zur Türe hin­aus­ge­gan­gen.

      Et­was Ähn­li­ches be­geg­ne­te, als der Schult­heiß mit Tode ab­ging. Man zau­dert in sol­chem Fal­le nicht lan­ge mit Be­set­zung die­ser Stel­le, weil man im­mer zu fürch­ten hat, der Kai­ser wer­de sein al­tes Recht, einen Schult­hei­ßen zu be­stel­len, ir­gend ein­mal wie­der her­vor­ru­fen. Dies­mal ward um Mit­ter­nacht eine au­ßer­or­dent­li­che Sit­zung auf den an­de­ren Mor­gen durch den Ge­richts­bo­ten an­ge­sagt. Weil die­sem nun das Licht in der La­ter­ne ver­lö­schen woll­te, so er­bat er sich ein Stümpf­chen, um sei­nen Weg wei­ter fort­set­zen zu kön­nen. »Gebt ihm ein gan­zes«, sag­te der Groß­va­ter zu den Frau­en: »er hat ja doch die Mühe um mei­net­wil­len.« Die­ser Äu­ße­rung ent­sprach auch der Er­folg: er wur­de wirk­lich Schult­heiß; wo­bei der Um­stand noch be­son­ders merk­wür­dig war, dass, ob­gleich sein Re­prä­sen­tant bei der Ku­ge­lung an der drit­ten und letz­ten Stel­le zu zie­hen hat­te, die zwei sil­ber­nen Ku­geln zu­erst her­aus­ka­men und also die gold­ne für ihn auf dem Grun­de des Beu­tels lie­gen blieb.

      Völ­lig pro­sa­isch, ein­fach und ohne Spur von Fan­tas­ti­schem oder Wun­der­sa­mem wa­ren auch die üb­ri­gen der uns be­kannt ge­w­ord­nen Träu­me. Fer­ner er­in­ne­re ich mich, dass ich als Kna­be un­ter sei­nen Bü­chern und Schreib­ka­len­dern ge­stört und dar­in un­ter an­de­ren auf Gärt­ne­rei be­züg­li­chen An­mer­kun­gen aus­ge­zeich­net ge­fun­den: »Heu­te Nacht kam N. N. zu mir und sag­te … . .« Name und Of­fen­ba­rung wa­ren in Chif­fern ge­schrie­ben. Oder es stand auf glei­che Wei­se: »Heu­te Nacht sah ich … .« Das üb­ri­ge war wie­der in Chif­fern, bis auf die Ver­bin­dungs- und an­de­re Wor­te, aus de­nen sich nichts ab­neh­men ließ.

      Be­mer­kens­wert bleibt es hie­bei, dass Per­so­nen, wel­che sonst kei­ne Spur von Ah­nungs­ver­mö­gen zeig­ten, in sei­ner Sphä­re für den Au­gen­blick die Fä­hig­keit er­lang­ten, dass sie von ge­wis­sen gleich­zei­ti­gen, ob­wohl in der Ent­fer­nung vor­ge­hen­den Krank­heits- und To­de­ser­eig­nis­sen durch sinn­li­che Wahr­zei­chen eine Vor­emp­fin­dung hat­ten. Aber auf kei­nes sei­ner Kin­der und En­kel hat eine sol­che Gabe fort­ge­erbt; viel­mehr wa­ren sie meis­ten­teils rüs­ti­ge Per­so­nen, le­bens­froh und nur aufs Wirk­li­che ge­stellt.

      Bei die­ser Ge­le­gen­heit ge­denk’ ich der­sel­ben mit Dank­bar­keit für vie­les Gute, das ich von ih­nen in mei­ner Ju­gend emp­fan­gen. So wa­ren wir z. B. auf gar man­nig­fal­ti­ge Wei­se be­schäf­tigt und un­ter­hal­ten, wenn wir die an einen Ma­te­ri­al­händ­ler Mel­ber ver­hei­ra­te­te zwei­te Toch­ter be­such­ten, de­ren Woh­nung und La­den mit­ten im leb­haf­tes­ten, ge­dräng­tes­ten Tei­le der Stadt an dem Mark­te lag. Hier sa­hen wir nun dem Ge­wühl und Ge­drän­ge, in wel­ches wir uns scheu­ten zu ver­lie­ren, sehr ver­gnüg­lich aus den Fens­tern zu; und wenn uns im La­den un­ter so vie­ler­lei Wa­ren an­fäng­lich nur das Süß­holz und die dar­aus be­rei­te­ten brau­nen ge­stem­pel­ten Zelt­lein vor­züg­lich in­ter­es­sier­ten, so wur­den wir doch all­mäh­lich mit der großen Men­ge von Ge­gen­stän­den be­kannt, wel­che bei ei­ner sol­chen Hand­lung aus- und ein­flie­ßen. Die­se Tan­te war un­ter den Ge­schwis­tern die leb­haf­tes­te. Wenn mei­ne Mut­ter, in jün­gern Jah­ren, sich in rein­li­cher Klei­dung bei ei­ner zier­li­chen weib­li­chen Ar­beit oder im Le­sen ei­nes Bu­ches ge­fiel, so fuhr jene in der Nach­bar­schaft um­her, um sich dort ver­säum­ter Kin­der an­zu­neh­men, sie zu war­ten, zu käm­men und her­um­zu­tra­gen, wie sie es denn auch mit mir eine gute Wei­le so ge­trie­ben. Zur­zeit öf­fent­li­cher Fei­er­lich­kei­ten, wie bei Krö­nun­gen, war sie nicht zu Hau­se zu hal­ten. Als klei­nes Kind schon hat­te sie nach dem bei sol­chen Ge­le­gen­hei­ten aus­ge­wor­fe­nen Gel­de ge­hascht, und man er­zähl­te sich: wie sie ein­mal eine gute Par­tie bei­sam­men ge­habt und sol­ches ver­gnüg­lich in der fla­chen Hand be­schaut, habe ihr ei­ner da­ge­gen ge­schla­gen, wo­durch denn die wohl­er­wor­be­ne Beu­te auf ein­mal ver­lo­ren ge­gan­gen. Nicht we­ni­ger wuss­te sie sich viel da­mit, dass sie dem vor­bei­fah­ren­den Kai­ser Karl dem Sie­ben­ten, wäh­rend ei­nes Au­gen­blicks, da al­les Volk schwieg, auf ei­nem Prall­stei­ne ste­hend, ein hef­ti­ges Vi­vat in die Kut­sche ge­ru­fen und ihn ver­an­lasst habe, den Hut vor ihr ab­zu­zie­hen und für die­se ke­cke Auf­merk­sam­keit gar gnä­dig zu dan­ken.

      Auch in ih­rem Hau­se war um sie her al­les be­wegt, le­bens­lus­tig und mun­ter, und wir Kin­der sind ihr man­che fro­he Stun­de schul­dig ge­wor­den.


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