Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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mei­nen An­la­gen sich ganz an­ders wür­de be­nom­men und nicht so lie­der­lich da­mit wür­de ge­wirt­schaf­tet ha­ben.

      Durch schnel­les Er­grei­fen, Ver­ar­bei­ten und Fest­hal­ten ent­wuchs ich sehr bald dem Un­ter­richt, den mir mein Va­ter und die üb­ri­gen Lehr­meis­ter ge­ben konn­ten, ohne dass ich doch in ir­gen­det­was be­grün­det ge­we­sen wäre. Die Gram­ma­tik miss­fiel mir, weil ich sie nur als ein will­kür­li­ches Ge­setz an­sah; die Re­geln schie­nen mir lä­cher­lich, weil sie durch so vie­le Aus­nah­men auf­ge­ho­ben wur­den, die ich alle wie­der be­son­ders ler­nen soll­te. Und wäre nicht der ge­reim­te an­ge­hen­de La­tei­ner ge­we­sen, so hät­te es schlimm mit mir aus­ge­se­hen; doch die­sen trom­mel­te und sang ich mir gern vor. So hat­ten wir auch eine Geo­gra­fie in sol­chen Ge­dächt­nis­ver­sen, wo uns die ab­ge­schmack­tes­ten Rei­me das zu Be­hal­ten­de am bes­ten ein­präg­ten, z. B.:

       Ober-Ys­sel; viel Mo­rast

       Macht das gute Land ver­hasst.

      Die Sprach­for­men und -wen­dun­gen fass­te ich leicht; so auch ent­wi­ckel­te ich mir schnell, was in dem Be­griff ei­ner Sa­che lag. In rhe­to­ri­schen Din­gen, Chri­en und der­glei­chen tat es mir nie­mand zu­vor, ob ich schon we­gen Sprach­feh­ler oft hint­an­ste­hen muss­te. Sol­che Auf­sät­ze wa­ren es je­doch, die mei­nem Va­ter be­son­de­re Freu­de mach­ten, und we­gen de­ren er mich mit man­chem, für einen Kna­ben be­deu­ten­den Geld­ge­schenk be­lohn­te.

      Mein Va­ter lehr­te die Schwes­ter in dem­sel­ben Zim­mer Ita­liä­nisch, wo ich den Cel­la­ri­us aus­wen­dig zu ler­nen hat­te. In­dem ich nun mit mei­nem Pen­sum bald fer­tig war und doch still sit­zen soll­te, horch­te ich über das Buch weg und fass­te das Ita­liä­ni­sche, das mir als eine lus­ti­ge Ab­wei­chung des La­tei­ni­schen auf­fiel, sehr be­hän­de.

      An­de­re Früh­zei­tig­kei­ten in Ab­sicht auf Ge­dächt­nis und Kom­bi­na­ti­on hat­te ich mit je­nen Kin­dern ge­mein, die da­durch einen frü­hen Ruf er­langt ha­ben. Des­halb konn­te mein Va­ter kaum er­war­ten, bis ich auf Aka­de­mie ge­hen wür­de. Sehr bald er­klär­te er, dass ich in Leip­zig, für wel­ches er eine große Vor­lie­be be­hal­ten, gleich­falls Jura stu­die­ren, als­dann noch eine an­de­re Uni­ver­si­tät be­su­chen und pro­mo­vie­ren soll­te. Was die­se zwei­te be­traf, war es ihm gleich­gül­tig, wel­che ich wäh­len wür­de; nur ge­gen Göt­tin­gen hat­te er, ich weiß nicht warum, ei­ni­ge Ab­nei­gung, zu mei­nem Leid­we­sen: denn ich hat­te ge­ra­de auf die­se viel Zu­trau­en und große Hoff­nun­gen ge­setzt.

      Fer­ner er­zähl­te er mir, dass ich nach Wetz­lar und Re­gens­burg, nicht we­ni­ger nach Wien und von da nach Ita­li­en ge­hen soll­te; ob er gleich wie­der­holt be­haup­te­te, man müs­se Pa­ris vor­aus se­hen, weil man aus Ita­li­en kom­mend sich an nichts mehr er­get­ze.

      Die­ses Mär­chen mei­nes künf­ti­gen Ju­gend­gan­ges ließ ich mir gern wie­der­ho­len, be­son­ders da es in eine Er­zäh­lung von Ita­li­en und zu­letzt in eine Be­schrei­bung von Nea­pel aus­lief. Sein sons­ti­ger Ernst und sei­ne Tro­cken­heit schie­nen sich je­der­zeit auf­zu­lö­sen und zu be­le­ben, und so er­zeug­te sich in uns Kin­dern der lei­den­schaft­li­che Wunsch, auch die­ser Pa­ra­die­se teil­haft zu wer­den.

      Pri­vat­stun­den, wel­che sich nach und nach ver­mehr­ten, teil­te ich mit Nach­bars­kin­dern. Die­ser ge­mein­sa­me Un­ter­richt för­der­te mich nicht; die Leh­rer gin­gen ih­ren Schlen­dri­an, und die Un­ar­ten, ja manch­mal die Bös­ar­tig­kei­ten mei­ner Ge­sel­len brach­ten Un­ruh, Ver­druss und Stö­rung in die kärg­li­chen Lehr­stun­den. Chre­sto­ma­thi­en, wo­durch die Be­leh­rung hei­ter und man­nig­fal­tig wird, wa­ren noch nicht bis zu uns ge­kom­men. Der für jun­ge Leu­te so star­re Cor­ne­li­us Nepos, das all­zu leich­te und durch Pre­dig­ten und Re­li­gi­ons­un­ter­richt so­gar tri­vi­al ge­w­ord­ne Neue Te­sta­ment, Cel­la­ri­us und Pa­sor konn­ten uns kein In­ter­es­se ge­ben; da­ge­gen hat­te sich eine ge­wis­se Reim- und Ver­se­wut, durch Le­sung der da­ma­li­gen deut­schen Dich­ter, un­ser be­mäch­tigt. Mich hat­te sie schon frü­her er­grif­fen, als ich es lus­tig fand, von der rhe­to­ri­schen Be­hand­lung der Auf­ga­ben zu der poe­ti­schen über­zu­ge­hen.

      Wir Kna­ben hat­ten eine sonn­täg­li­che Zu­sam­men­kunft, wo je­der von ihm selbst ver­fer­tig­te Ver­se pro­du­zie­ren soll­te. Und hier be­geg­ne­te mir et­was Wun­der­ba­res, was mich sehr lan­ge in Un­ruh setz­te. Mei­ne Ge­dich­te, wie sie auch sein moch­ten, muss­te ich im­mer für die bes­sern hal­ten. Al­lein ich be­merk­te bald, dass mei­ne Mit­wer­ber, wel­che sehr lah­me Din­ge vor­brach­ten, in dem glei­chen Fal­le wa­ren und sich nicht we­ni­ger dünk­ten; ja was mir noch be­denk­li­cher schi­en, ein gu­ter, ob­gleich zu sol­chen Ar­bei­ten völ­lig un­fä­hi­ger Kna­be, dem ich üb­ri­gens ge­wo­gen war, der aber sei­ne Rei­me sich vom Hof­meis­ter ma­chen ließ, hielt die­se nicht al­lein für die al­ler­bes­ten, son­dern war völ­lig über­zeugt, er habe sie selbst ge­macht; wie er mir, in dem ver­trau­te­ren Ver­hält­nis, worin ich mir ihm stand, je­der­zeit auf­rich­tig be­haup­te­te. Da ich nun sol­chen Irr­tum und Wahn­sinn of­fen­bar vor mir sah, fiel es mir ei­nes Ta­ges aufs Herz, ob ich mich viel­leicht selbst in dem Fal­le be­fän­de, ob nicht jene Ge­dich­te wirk­lich bes­ser sei­en als die mei­ni­gen, und ob ich nicht mit Recht je­nen Kna­ben eben so toll als sie mir vor­kom­men möch­te? Die­ses be­un­ru­hig­te mich sehr und lan­ge Zeit: denn es war mir durch­aus un­mög­lich, ein äu­ße­res Kenn­zei­chen der Wahr­heit zu fin­den; ja ich stock­te so­gar in mei­nen Her­vor­brin­gun­gen, bis mich end­lich Leicht­sinn und Selbst­ge­fühl und zu­letzt eine Pro­be­ar­beit be­ru­hig­ten, die uns Leh­rer und El­tern, wel­che auf un­se­re Scher­ze auf­merk­sam ge­wor­den, aus dem Steg­reif auf­ga­ben, wo­bei ich gut be­stand und all­ge­mei­nes Lob da­von­trug.

      Man hat­te zu der Zeit noch kei­ne Biblio­the­ken für Kin­der ver­an­stal­tet. Die Al­ten hat­ten selbst noch kind­li­che Ge­sin­nun­gen und fan­den es be­quem, ihre ei­ge­ne Bil­dung der Nach­kom­men­schaft mit­zu­tei­len. Au­ßer dem »Or­bis pic­tus« des Amos Co­me­ni­us kam uns kein Buch die­ser Art in die Hän­de; aber die große Fo­lio­bi­bel, mit Kup­fern von Me­ri­an, ward häu­fig von uns durch­blät­tert; Gott­frieds »Chro­nik«, mit Kup­fern des­sel­ben Meis­ters, be­lehr­te uns von den merk­wür­digs­ten Fäl­len der Welt­ge­schich­te; die »A­cer­ra phi­lo­lo­gi­ca« tat noch al­ler­lei Fa­beln, My­tho­lo­gi­en und Selt­sam­kei­ten hin­zu; und da ich gar bald die Ovi­di­schen »Ver­wand­lun­gen« ge­wahr wur­de und be­son­ders die ers­ten Bü­cher flei­ßig stu­dier­te, so war mein jun­ges Ge­hirn schnell ge­nug mit ei­ner Mas­se von Bil­dern und Be­ge­ben­hei­ten, von be­deu­ten­den und wun­der­ba­ren Ge­stal­ten und Er­eig­nis­sen an­ge­füllt, und ich konn­te nie­mals lan­ge Wei­le ha­ben, in­dem ich mich im­mer­fort be­schäf­tig­te, die­sen Er­werb zu ver­ar­bei­ten, zu wie­der­ho­len, wie­der her­vor­zu­brin­gen.

      Ei­nen fröm­mern, sitt­li­chern Ef­fekt, als jene mit­un­ter ro­hen und ge­fähr­li­chen Al­ter­tüm­lich­kei­ten, mach­te Fe­ne­lons »Te­le­mach«, den ich erst nur in der Neu­kirchi­schen Über­set­zung ken­nen lern­te und der, auch so un­voll­kom­men über­lie­fert, eine gar süße und wohl­tä­ti­ge Wir­kung auf mein Ge­müt äu­ßer­te. Dass »Ro­bin­son Cru­soe« sich zei­tig an­ge­schlos­sen, liegt wohl in der Na­tur der Sa­che;


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