Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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sie wur­den, we­gen des großen Ab­gangs, mit ste­hen­den Let­tern auf das schreck­lichs­te Lösch­pa­pier fast un­le­ser­lich ge­druckt. Wir Kin­der hat­ten also das Glück, die­se schätz­ba­ren Über­res­te der Mit­tel­zeit auf ei­nem Tisch­chen vor der Hau­stü­re ei­nes Bü­cher­tröd­lers täg­lich zu fin­den und sie uns für ein paar Kreu­zer zu­zu­eig­nen. Der »Eu­len­spie­gel«, »Die vier Hai­mons­kin­der«, »Die schö­ne Me­lu­si­ne«, »Der Kai­ser Ok­ta­vi­an«, »Die schö­ne Ma­ge­lo­ne«, »For­tu­na­tus«, mit der gan­zen Sipp­schaft bis auf den »Ewi­gen Ju­den«, al­les stand uns zu Diens­ten, so­bald uns ge­lüs­te­te, nach die­sen Wer­ken an­statt nach ir­gend ei­ner Nä­sche­rei zu grei­fen. Der größ­te Vor­teil da­bei war, dass, wenn wir ein sol­ches Heft zer­le­sen oder sonst be­schä­digt hat­ten, es bald wie­der an­ge­schafft und aufs neue ver­schlun­gen wer­den konn­te.

      Wie eine Fa­mi­li­en­spa­zier­fahrt im Som­mer durch ein plötz­li­ches Ge­wit­ter auf eine höchst ver­drieß­li­che Wei­se ge­stört und ein fro­her Zu­stand in den wi­der­wär­tigs­ten ver­wan­delt wird, so fal­len auch die Kin­der­krank­hei­ten un­er­war­tet in die schöns­te Jahrs­zeit des Früh­le­bens. Mir er­ging es auch nicht an­ders. Ich hat­te mir eben den »For­tu­na­tus« mit sei­nem Sä­ckel und Wünsch­hüt­lein ge­kauft, als mich ein Miss­be­ha­gen und ein Fie­ber über­fiel, wo­durch die Po­cken sich an­kün­dig­ten. Die Ein­imp­fung der­sel­ben ward bei uns noch im­mer für sehr pro­ble­ma­tisch an­ge­se­hen, und ob sie gleich po­pu­lä­re Schrift­stel­ler schon fass­lich und ein­dring­lich emp­foh­len, so zau­der­ten doch die deut­schen Ärz­te mit ei­ner Ope­ra­ti­on, wel­che der Na­tur vor­zu­grei­fen schi­en. Spe­ku­lie­ren­de Eng­län­der ka­men da­her aufs fes­te Land und impf­ten, ge­gen ein an­sehn­li­ches Ho­no­rar, die Kin­der sol­cher Per­so­nen, die sie wohl­ha­bend und frei von Vor­ur­teil fan­den. Die Mehr­zahl je­doch war noch im­mer dem al­ten Un­heil aus­ge­setzt; die Krank­heit wü­te­te durch die Fa­mi­li­en, tö­te­te und ent­stell­te vie­le Kin­der, und we­ni­ge El­tern wag­ten es, nach ei­nem Mit­tel zu grei­fen, des­sen wahr­schein­li­che Hil­fe doch schon durch den Er­folg man­nig­fal­tig be­stä­tigt war. Das Übel be­traf nun auch un­ser Haus und über­fiel mich mit ganz be­son­de­rer Hef­tig­keit. Der gan­ze Kör­per war mit Blat­tern über­sä­et, das Ge­sicht zu­ge­deckt, und ich lag meh­re­re Tage blind und in großen Lei­den. Man such­te die mög­lichs­te Lin­de­rung und ver­sprach mir gol­de­ne Ber­ge, wenn ich mich ru­hig ver­hal­ten und das Übel nicht durch Rei­ben und Krat­zen ver­meh­ren woll­te. Ich ge­wann es über mich; in­des­sen hielt man uns, nach herr­schen­dem Vor­ur­teil, so warm als mög­lich und schärf­te da­durch nur das Übel. End­lich, nach trau­rig ver­flos­se­ner Zeit, fiel es mir wie eine Mas­ke vom Ge­sicht, ohne dass die Blat­tern eine sicht­ba­re Spur auf der Haut zu­rück­ge­las­sen; aber die Bil­dung war merk­lich ver­än­dert. Ich selbst war zu­frie­den, nur wie­der das Ta­ges­licht zu se­hen und nach und nach die fle­cki­ge Haut zu ver­lie­ren; aber an­de­re wa­ren un­barm­her­zig ge­nug, mich öf­ters an den vo­ri­gen Zu­stand zu er­in­nern; be­son­ders eine sehr leb­haf­te Tan­te, die frü­her Ab­göt­te­rei mit mir ge­trie­ben hat­te, konn­te mich, selbst noch in spä­tem Jah­ren, sel­ten an­se­hen, ohne aus­zu­ru­fen: »Pfui Teu­fel! Vet­ter, wie gars­tig ist Er ge­wor­den!« Dann er­zähl­te sie mir um­ständ­lich, wie sie sich sonst an mir er­geht, wel­ches Auf­se­hen sie er­regt, wenn sie mich um­her­ge­tra­gen; und so er­fuhr ich früh­zei­tig, dass uns die Men­schen für das Ver­gnü­gen, das wir ih­nen ge­währt ha­ben, sehr oft emp­find­lich bü­ßen las­sen.

      We­der von Ma­sern noch Wind­blat­tern, und wie die Quäl­geis­ter der Ju­gend hei­ßen mö­gen, blieb ich ver­schont, und je­des Mal ver­si­cher­te man mir, es wäre ein Glück, dass die­ses Übel nun für im­mer vor­über sei; aber lei­der droh­te schon wie­der ein andres im Hin­ter­grund und rück­te her­an. Alle die­se Din­ge ver­mehr­ten mei­nen Hang zum Nach­den­ken, und da ich, um das Pein­li­che der Un­ge­duld von mir zu ent­fer­nen, mich schon öf­ter im Aus­dau­ern ge­übt hat­te, so schie­nen mir die Tu­gen­den, wel­che ich an den Stoi­kern hat­te rüh­men hö­ren, höchst nach­ah­mens­wert, umso mehr, als durch die christ­li­che Dul­dungs­leh­re ein Ähn­li­ches emp­foh­len wur­de.

      Bei Ge­le­gen­heit die­ses Fa­mi­li­en­lei­dens will ich auch noch ei­nes Bru­ders ge­den­ken, wel­cher, um drei Jahr jün­ger als ich, gleich­falls von je­ner An­ste­ckung er­grif­fen wur­de und nicht we­nig da­von litt. Er war von zar­ter Na­tur, still und ei­gen­sin­nig, und wir hat­ten nie­mals ein ei­gent­li­ches Ver­hält­nis zu­sam­men. Auch über­leb­te er kaum die Kin­der­jah­re. Un­ter meh­rern nach­ge­bor­nen Ge­schwis­tern, die gleich­falls nicht lan­ge am Le­ben blie­ben, er­in­ne­re ich mich nur ei­nes sehr schö­nen und an­ge­neh­men Mäd­chens, die aber auch bald ver­schwand, da wir denn nach Ver­lauf ei­ni­ger Jah­re, ich und mei­ne Schwes­ter, uns al­lein üb­rig sa­hen und nur umso in­ni­ger und lie­be­vol­ler ver­ban­den.

      Jene Krank­hei­ten und an­de­re un­an­ge­neh­me Stö­run­gen wur­den in ih­ren Fol­gen dop­pelt läs­tig: denn mein Va­ter, der sich einen ge­wis­sen Er­zie­hungs- und Un­ter­richts­ka­len­der ge­macht zu ha­ben schi­en, woll­te je­des Ver­säum­nis un­mit­tel­bar wie­der ein­brin­gen und be­leg­te die Ge­ne­sen­den mit dop­pel­ten Lek­tio­nen, wel­che zu leis­ten mir zwar nicht schwer, aber in­so­fern be­schwer­lich fiel, als es mei­ne in­ne­re Ent­wick­lung, die eine ent­schie­de­ne Rich­tung ge­nom­men hat­te, auf­hielt und ge­wis­ser­ma­ßen zu­rück­dräng­te.


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