Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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auch ei­nes fort­wäh­ren­den und fort­schrei­ten­den Re­li­gi­ons­un­ter­richts ge­nos­sen. Doch war der kirch­li­che Pro­tes­tan­tis­mus, den man uns über­lie­fer­te, ei­gent­lich nur eine Art von trock­ner Moral: an einen geist­rei­chen Vor­trag ward nicht ge­dacht, und die Leh­re konn­te we­der der See­le noch dem Her­zen zu­sa­gen. Des­we­gen er­ga­ben sich gar man­cher­lei Ab­son­de­run­gen von der ge­setz­li­chen Kir­che. Es ent­stan­den die Se­pa­ra­tis­ten, Pie­tis­ten, Herrn­hu­ter, die Stil­len im Lan­de, und wie man sie sonst zu nen­nen und zu be­zeich­nen pfleg­te, die aber alle bloß die Ab­sicht hat­ten, sich der Gott­heit, be­son­ders durch Chris­tum, mehr zu nä­hern, als es ih­nen un­ter der Form der öf­fent­li­chen Re­li­gi­on mög­lich zu sein schi­en.

      Der Kna­be hör­te von die­sen Mei­nun­gen und Ge­sin­nun­gen un­auf­hör­lich spre­chen: denn die Geist­lich­keit so­wohl als die Lai­en teil­ten sich in das Für und Wi­der. Die mehr oder we­ni­ger Ab­ge­son­der­ten wa­ren im­mer die Min­der­zahl, aber ihre Sin­nes­wei­se zog an durch Ori­gi­na­li­tät, Herz­lich­keit, Be­har­ren und Selbst­stän­dig­keit. Man er­zähl­te von die­sen Tu­gen­den und ih­ren Än­de­run­gen al­ler­lei Ge­schich­ten. Be­son­ders ward die Ant­wort ei­nes from­men Klemp­ner­meis­ters be­kannt, den ei­ner sei­ner Zunft­ge­nos­sen durch die Fra­ge zu be­schä­men ge­dach­te: wer denn ei­gent­lich sein Beicht­va­ter sei? Mit Hei­ter­keit und Ver­trau­en auf sei­ne gute Sa­che er­wi­der­te je­ner: Ich habe einen sehr vor­neh­men; es ist nie­mand Ge­rin­ge­res als der Beicht­va­ter des Kö­nigs Da­vid.

      Die­ses und der­glei­chen mag wohl Ein­druck auf den Kna­ben ge­macht und ihn zu ähn­li­chen Ge­sin­nun­gen auf­ge­for­dert ha­ben. Ge­nug, er kam auf den Ge­dan­ken, sich dem großen Got­te der Na­tur, dem Schöp­fer und Er­hal­ter Him­mels und der Er­den, des­sen frü­he­re Zorn­äu­ße­run­gen schon lan­ge über die Schön­heit der Welt und das man­nig­fal­ti­ge Gute, das uns dar­in zu teil wird, ver­ges­sen wa­ren, un­mit­tel­bar zu nä­hern; der Weg dazu aber war sehr son­der­bar.

      Der Kna­be hat­te sich über­haupt an den ers­ten Glau­bens­ar­ti­kel ge­hal­ten. Der Gott, der mit der Na­tur in un­mit­tel­ba­rer Ver­bin­dung ste­he, sie als sein Werk an­er­ken­ne und lie­be, die­ser schi­en ihm der ei­gent­li­che Gott, der ja­wohl auch mit dem Men­schen wie mit al­lem üb­ri­gen in ein ge­nau­e­res Ver­hält­nis tre­ten kön­ne und für den­sel­ben eben so wie für die Be­we­gung der Ster­ne, für Ta­ges- und Jahrs­zei­ten, für Pflan­zen und Tie­re Sor­ge tra­gen wer­de. Ei­ni­ge Stel­len des Evan­ge­li­ums be­sag­ten die­ses aus­drück­lich. Eine Ge­stalt konn­te der Kna­be die­sem We­sen nicht ver­lei­hen; er such­te ihn also in sei­nen Wer­ken auf und woll­te ihm auf gut alt­tes­ta­ment­li­che Wei­se einen Al­tar er­rich­ten. Na­tur­pro­duk­te soll­ten die Welt im Gleich­nis vor­stel­len, über die­sen soll­te eine Flam­me bren­nen und das zu sei­nem Schöp­fer sich auf­seh­nen­de Ge­müt des Men­schen be­deu­ten. Nun wur­den aus der vor­hand­nen und zu­fäl­lig ver­mehr­ten Na­tu­ra­li­en­samm­lung die bes­ten Stu­fen und Exem­pla­re her­aus­ge­sucht; al­lein, wie sol­che zu schich­ten und auf­zu­bau­en sein möch­ten, das war nun die Schwie­rig­keit. Der Va­ter hat­te einen schö­nen rot­la­ckier­ten gold­ge­blüm­ten Mu­sik­pult, in Ge­stalt ei­ner vier­sei­ti­gen Py­ra­mi­de mit ver­schie­de­nen Ab­stu­fun­gen, den man zu Quar­tet­ten sehr be­quem fand, ob er gleich in der letz­ten Zeit nur we­nig ge­braucht wur­de. Des­sen be­mäch­tig­te sich der Kna­be und bau­te nun stu­fen­wei­se die Ab­ge­ord­ne­ten der Na­tur über ein­an­der, so­dass es recht hei­ter und zu­gleich be­deu­tend ge­nug aus­sah. Nun soll­te bei ei­nem frü­hen Son­nen­auf­gang die ers­te Got­tes­ver­eh­rung an­ge­stellt wer­den; nur war der jun­ge Pries­ter nicht mit sich ei­nig, auf wel­che Wei­se er eine Flam­me her­vor­brin­gen soll­te, die doch auch zu glei­cher Zeit einen gu­ten Ge­ruch von sich ge­ben müs­se. End­lich ge­lang ihm ein Ein­fall, bei­des zu ver­bin­den, in­dem er Räu­cher­kerz­chen be­saß, wel­che, wo nicht flam­mend, doch glim­mend den an­ge­nehms­ten Ge­ruch ver­brei­te­ten. Ja die­ses ge­lin­de Ver­bren­nen und Ver­damp­fen schi­en noch mehr das, was im Ge­mü­te vor­geht, aus­zu­drücken als eine of­fe­ne Flam­me. Die Son­ne war schon längst auf­ge­gan­gen, aber Nach­bar­häu­ser ver­deck­ten den Os­ten. End­lich er­schi­en sie über den Dä­chern; so­gleich ward ein Brenn­glas zur Hand ge­nom­men und die in ei­ner schö­nen Por­zel­lan­scha­le auf dem Gip­fel ste­hen­den Räu­cher­ker­zen an­ge­zün­det. Al­les ge­lang nach Wunsch, und die An­dacht war voll­kom­men. Der Al­tar blieb als eine be­sond­re Zier­de des Zim­mers, das man ihm im neu­en Hau­se ein­ge­räumt hat­te, ste­hen. Je­der­mann sah dar­in nur eine wohl auf­ge­putz­te Na­tu­ra­li­en­samm­lung; der Kna­be hin­ge­gen wuss­te bes­ser, was er ver­schwieg. Er sehn­te sich nach der Wie­der­ho­lung je­ner Fei­er­lich­keit. Un­glück­li­cher­wei­se war eben, als die ge­le­gens­te Son­ne her­vor­stieg, die Por­zel­lan­tas­se nicht bei der Hand: er stell­te die Räu­cher­kerz­chen un­mit­tel­bar auf die obe­re Flä­che des Mu­sik­pul­tes; sie wur­den an­ge­zün­det, und die An­dacht war so groß, dass der Pries­ter nicht merk­te, wel­chen Scha­den sein Op­fer an­rich­te­te, als bis ihm nicht mehr ab­zu­hel­fen war. Die Ker­zen hat­ten sich näm­lich in den ro­ten Lack und in die schö­nen gold­nen Blu­men auf eine schmäh­li­che Wei­se ein­ge­brannt und, gleich als wäre ein bö­ser Geist ver­schwun­den, ihre schwar­zen, un­aus­lösch­li­chen Fuß­stap­fen zu­rück­ge­las­sen. Hier­über kam der jun­ge Pries­ter in die äu­ßers­te Ver­le­gen­heit. Zwar wuss­te er den Scha­den durch die größ­ten Pracht­stu­fen zu be­de­cken, al­lein der Mut zu neu­en Op­fern war ihm ver­gan­gen; und fast möch­te man die­sen Zu­fall als eine An­deu­tung und War­nung be­trach­ten, wie ge­fähr­lich es über­haupt sei, sich Gott auf der­glei­chen We­gen nä­hern zu wol­len.

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      Al­les bis­her Vor­ge­tra­ge­ne deu­tet auf je­nen glück­li­chen und ge­mäch­li­chen Zu­stand, in wel­chem sich die Län­der wäh­rend ei­nes lan­gen Frie­dens be­fin­den. Nir­gends aber ge­nießt man eine sol­che schö­ne Zeit wohl mit grö­ße­rem Be­ha­gen als in Städ­ten, die nach ih­ren ei­ge­nen Ge­set­zen le­ben, die groß ge­nug sind, eine an­sehn­li­che Men­ge Bür­ger zu fas­sen, und wohl ge­le­gen, um sie durch Han­del und Wan­del zu be­rei­chern. Frem­de fin­den ih­ren Ge­winn, da aus- und ein­zu­zie­hen, und sind ge­nö­tigt, Vor­teil zu brin­gen, um Vor­teil zu er­lan­gen. Be­herr­schen sol­che Städ­te auch kein wei­tes Ge­biet, so kön­nen sie de­sto mehr im In­nern Wohl­hä­big­keit be­wir­ken, weil ihre Ver­hält­nis­se nach au­ßen sie nicht zu kost­spie­li­gen Un­ter­neh­mun­gen oder Teil­nah­men ver­pflich­ten.

      Auf die­se Wei­se ver­floss den Frank­fur­tern wäh­rend mei­ner Kind­heit eine Rei­he glück­li­cher Jah­re. Aber kaum hat­te ich am 28s­ten Au­gust 1756 mein sie­ben­tes Jahr zu­rück­ge­legt, als gleich dar­auf je­ner welt­be­kann­te Krieg aus­brach, wel­cher auf die nächs­ten sie­ben Jah­re mei­nes Le­bens auch großen Ein­fluss ha­ben soll­te. Fried­rich der Zwei­te, Kö­nig von Preu­ßen, war mit 60 000 Mann in Sach­sen ein­ge­fal­len, und statt ei­ner vor­gän­gi­gen Kriegs­er­klä­rung


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