Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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und mach­te mich da­her un­serm klei­nen Krei­se im­mer not­wen­di­ger. Dass sol­che Spie­le auf Par­tei­un­gen, Ge­fech­te und Schlä­ge hin­wie­sen und ge­wöhn­lich auch mit Hän­deln und Ver­druss ein schreck­li­ches Ende nah­men, lässt sich den­ken. In sol­chen Fäl­len hiel­ten ge­wöhn­lich ge­wis­se be­stimm­te Ge­spie­len an mir, an­de­re auf der Ge­gen­sei­te, ob es gleich öf­ter man­chen Partei­wech­sel gab. Ein ein­zi­ger Kna­be, den ich Pyla­des nen­nen will, ver­ließ nur ein ein­zig­mal, von den an­de­ren auf­ge­hetzt, mei­ne Par­tei, konn­te es aber kaum eine Mi­nu­te aus­hal­ten, mir feind­se­lig ge­gen­über­zu­ste­hen; wir ver­söhn­ten uns un­ter vie­len Trä­nen und ha­ben eine gan­ze Wei­le treu­lich zu­sam­men­ge­hal­ten.

      Die­sen so wie an­de­re Wohl­wol­len­de konn­te ich sehr glück­lich ma­chen, wenn ich ih­nen Mär­chen er­zähl­te, und be­son­ders lieb­ten sie, wenn ich in eig­ner Per­son sprach, und hat­ten eine große Freu­de, dass mir, als ih­rem Ge­spie­len, so wun­der­li­che Din­ge könn­ten be­geg­net sein, und da­bei gar kein Ar­ges, wie ich Zeit und Raum zu sol­chen Aben­teu­ern fin­den kön­nen, da sie doch ziem­lich wuss­ten, wie ich be­schäf­tigt war und wo ich aus- und ein­ging. Nicht we­ni­ger wa­ren zu sol­chen Be­ge­ben­hei­ten Lo­ka­li­tä­ten, wo nicht aus ei­ner an­de­ren Welt, doch ge­wiss aus ei­ner an­de­ren Ge­gend nö­tig, und al­les war doch erst heut’ oder ges­tern ge­sche­hen. Sie muss­ten sich da­her mehr selbst be­trü­gen, als ich sie zum Bes­ten ha­ben konn­te. Und wenn ich nicht nach und nach, mei­nem Na­tu­rell ge­mäß, die­se Luft­ge­stal­ten und Wind­beu­te­lei­en zu kunst­mä­ßi­gen Dar­stel­lun­gen hät­te ver­ar­bei­ten ler­nen, so wä­ren sol­che auf­schnei­de­ri­sche An­fän­ge ge­wiss nicht ohne schlim­me Fol­gen für mich ge­blie­ben.

      Be­trach­tet man die­sen Trieb recht ge­nau, so möch­te man in ihm die­je­ni­ge An­ma­ßung er­ken­nen, wo­mit der Dich­ter selbst das Un­wahr­schein­lichs­te ge­bie­te­risch aus­spricht und von ei­nem je­den for­dert, er sol­le das­je­ni­ge für wirk­lich er­ken­nen, was ihm, dem Er­fin­der, auf ir­gend eine Wei­se als wahr er­schei­nen konn­te.

      Was je­doch hier nur im All­ge­mei­nen und be­trach­tungs­wei­se vor­ge­tra­gen wor­den, wird viel­leicht durch ein Bei­spiel, durch ein Mus­ter­stück an­ge­neh­mer und an­schau­li­cher wer­den. Ich füge da­her ein sol­ches Mär­chen bei, wel­ches mir, da ich es mei­nen Ge­spie­len oft wie­der­ho­len muss­te, noch ganz wohl vor der Ein­bil­dungs­kraft und im Ge­dächt­nis schwebt.

      Der neue Pa­ris: Kna­ben­mär­chen

      Un­ter dem Got­tes­dienst wie­der­hol­te ich mir jene Bil­der oft ge­nug; auch am groß­el­ter­li­chen Ti­sche, wo ich zu Mit­tag speis­te. Nach­mit­tags woll­te ich ei­ni­ge Freun­de be­su­chen, so­wohl um mich in mei­ner neu­en Klei­dung, den Hut un­ter dem Arm und den De­gen an der Sei­te, se­hen zu las­sen, als auch weil ich ih­nen Be­su­che schul­dig war. Ich fand nie­man­den zu Hau­se, und da ich hör­te, dass sie in die Gär­ten ge­gan­gen, so ge­dach­te ich ih­nen zu fol­gen und den Abend ver­gnügt zu­zu­brin­gen. Mein Weg führ­te mich den Zwin­ger hin, und ich kam in die Ge­gend, wel­che mit Recht den Na­men schlim­me Mau­er führt: denn es ist dort nie­mals ganz ge­heu­er. Ich ging nur lang­sam und dach­te an mei­ne drei Göt­tin­nen, be­son­ders aber an die klei­ne Nym­phe, und hielt mei­ne Fin­ger manch­mal in die Höhe, in Hoff­nung, sie wür­de so ar­tig sein, wie­der dar­auf zu ba­lan­cie­ren. In die­sen Ge­dan­ken vor­wärts ge­hend, er­blick­te ich, lin­ker Hand, in der Mau­er ein Pfört­chen, das ich mich nicht er­in­ner­te je ge­se­hen zu ha­ben. Es schi­en nied­rig, aber der Spitz­bo­gen drü­ber hät­te den größ­ten Mann hin­durch­ge­las­sen. Bo­gen und Ge­wän­de wa­ren aufs zier­lichs­te vom Stein­metz und Bild­hau­er aus­ge­mei­ßelt, die Türe selbst aber zog erst recht mei­ne Auf­merk­sam­keit an sich. Brau­nes ur­al­tes Holz, nur we­nig ver­ziert, war mit brei­ten, so­wohl er­ha­ben als ver­liest ge­ar­bei­te­ten Bän­dern von Erz be­schla­gen, de­ren Laub­werk, worin die na­tür­lichs­ten Vö­gel sa­ßen, ich nicht ge­nug be­wun­dern konn­te. Doch was mir das merk­wür­digs­te schi­en, kein Schlüs­sel­loch war zu se­hen, kei­ne Klin­ke, kein Klop­fer,


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