Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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Be­such je­ner Ge­gend glau­be ich be­merkt zu ha­ben, dass die Nuss­bäu­me et­was zu­sam­men­rücken und dass Ta­fel und Brun­nen sich eben­falls zu nä­hern schei­nen. Wahr­schein­lich, wenn al­les wie­der zu­sam­men­trifft, wird auch die Pfor­te von Neu­em sicht­bar sein, und ich wer­de mein Mög­li­ches tun, das Aben­teu­er wie­der an­zu­knüp­fen. Ob ich euch er­zäh­len kann, was wei­ter be­geg­net, oder ob es mir aus­drück­lich ver­bo­ten wird, weiß ich nicht zu sa­gen.

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      Die­ses Mär­chen, von des­sen Wahr­heit mei­ne Ge­spie­len sich lei­den­schaft­lich zu über­zeu­gen trach­te­ten, er­hielt großen Bei­fall. Sie be­such­ten, je­der al­lein, ohne es mir oder den an­de­ren zu ver­trau­en, den an­ge­deu­te­ten Ort, fan­den die Nuss­bäu­me, die Ta­fel und den Brun­nen, aber im­mer ent­fernt von­ein­an­der: wie sie zu­letzt be­kann­ten, weil man in je­nen Jah­ren nicht gern ein Ge­heim­nis ver­schwei­gen mag. Hier ging aber der Streit erst an. Der eine ver­si­cher­te: die Ge­gen­stän­de rück­ten nicht vom Fle­cke und blie­ben im­mer in glei­cher Ent­fer­nung un­ter ein­an­der. Der zwei­te be­haup­te­te: sie be­weg­ten sich, aber sie ent­fern­ten sich von­ein­an­der. Mit die­sem war der drit­te über den ers­ten Punkt der Be­we­gung ein­stim­mig, doch schie­nen ihm Nuss­bäu­me, Ta­fel und Brun­nen sich viel­mehr zu nä­hern. Der vier­te woll­te noch was Merk­wür­di­ge­res ge­se­hen ha­ben: die Nuss­bäu­me näm­lich in der Mit­te, die Ta­fel aber und den Brun­nen auf den ent­ge­gen­ge­setz­ten Sei­ten, als ich an­ge­ge­ben. In Ab­sicht auf die Spur des Pfört­chens va­ri­ier­ten sie auch. Und so ga­ben sie mir ein frü­hes Bei­spiel, wie die Men­schen von ei­ner ganz ein­fa­chen und leicht zu er­ör­tern­den Sa­che die wi­der­spre­chends­ten An­sich­ten ha­ben und be­haup­ten kön­nen. Als ich die Fort­set­zung mei­nes Mär­chens hart­nä­ckig ver­wei­ger­te, ward die­ser ers­te Teil öf­ters wie­der be­gehrt. Ich hü­te­te mich, an den Um­stän­den viel zu ver­än­dern, und durch die Gleich­för­mig­keit mei­ner Er­zäh­lung ver­wan­del­te ich in den Ge­mü­tern mei­ner Zu­hö­rer die Fa­bel in Wahr­heit.

      Üb­ri­gens war ich den Lü­gen und der Ver­stel­lung ab­ge­neigt und über­haupt kei­nes­wegs leicht­sin­nig; viel­mehr zeig­te sich der in­ne­re Ernst, mit dem ich schon früh mich und die Welt be­trach­te­te, auch in mei­nem Äu­ßern, und ich ward oft freund­lich, oft auch spöt­tisch über eine ge­wis­se Wür­de be­ru­fen, die ich mir her­aus­nahm. Denn ob es mir zwar an gu­ten, aus­ge­such­ten Freun­den nicht fehl­te, so wa­ren wir doch im­mer die Min­der­zahl ge­gen jene, die uns mit ro­hem Mut­wil­len an­zu­fech­ten ein Ver­gnü­gen fan­den und uns frei­lich oft sehr un­sanft aus je­nen mär­chen­haf­ten, selbst­ge­fäl­li­gen Träu­men auf­weck­ten, in die wir uns, ich er­fin­dend und mei­ne Ge­spie­len teil­neh­mend, nur all­zu gern ver­lo­ren. Nun wur­den wir aber­mals ge­wahr, dass man, an­statt sich der Weich­lich­keit und fan­tas­ti­schen Ver­gnü­gun­gen hin­zu­ge­ben, wohl eher Ur­sa­che habe, sich ab­zu­här­ten, um die un­ver­meid­li­chen Übel ent­we­der zu er­tra­gen oder ih­nen ent­ge­gen zu wir­ken.

      Un­ter die Übun­gen des Stoi­zis­mus, den ich des­halb so ernst­lich, als es ei­nem Kna­ben mög­lich ist, bei mir aus­bil­de­te, ge­hör­ten auch die Dul­dun­gen kör­per­li­cher Lei­den. Un­se­re Leh­rer be­han­del­ten uns oft sehr un­freund­lich und un­ge­schickt mit Schlä­gen und Püf­fen, ge­gen die wir uns umso mehr ver­här­te­ten, als Wi­der­setz­lich­keit oder Ge­gen­wir­kung aufs höchs­te ver­pönt war. Sehr vie­le Scher­ze der Ju­gend be­ru­hen auf ei­nem Wett­streit sol­cher Er­tra­gun­gen: zum Bei­spiel, wenn man mit zwei Fin­gern oder der gan­zen Hand sich wech­sels­wei­se bis zur Be­täu­bung der Glie­der schlägt, oder die bei ge­wis­sen Spie­len ver­schul­de­ten Schlä­ge mit mehr oder we­ni­ger Ge­setzt­heit aus­hält; wenn man sich beim Rin­gen und Bal­gen durch die Knif­fe der Hal­b­über­wun­de­nen nicht irre ma­chen lässt; wenn man einen aus Ne­cke­rei zu­ge­füg­ten Schmerz un­ter­drückt; ja selbst das Zwi­cken und Kit­zeln, wo­mit jun­ge Leu­te so ge­schäf­tig ge­gen­ein­an­der sind, als et­was Gleich­gül­ti­ges be­han­delt. Da­durch setzt man sich in einen großen Vor­teil, der uns von an­de­ren so ge­schwind nicht ab­ge­won­nen wird.

      Da ich je­doch von ei­nem sol­chen Lei­den­strotz gleich­sam Pro­fes­si­on mach­te, so wuch­sen die Zu­dring­lich­kei­ten der an­de­ren; und wie eine un­ar­ti­ge Grau­sam­keit kei­ne Gren­zen kennt, so wuss­te sie mich doch aus mei­ner Gren­ze hin­aus­zu­trei­ben. Ich er­zäh­le einen Fall statt vie­ler. Der Leh­rer war eine Stun­de nicht ge­kom­men; so­lan­ge wir Kin­der alle bei­sam­men wa­ren, un­ter­hiel­ten wir uns recht ar­tig; als aber die mir Wohl­wol­len­den, nach­dem sie lan­ge ge­nug ge­war­tet, hin­weg­gin­gen und ich mit drei Miss­wol­len­den al­lein blieb, so dach­ten die­se mich zu quä­len, zu be­schä­men und zu ver­trei­ben. Sie hat­ten mich einen Au­gen­blick im Zim­mer ver­las­sen und ka­men mit Ru­ten zu­rück, die sie sich aus ei­nem ge­schwind zer­schnit­te­nen Be­sen ver­schafft hat­ten. Ich merk­te ihre Ab­sicht, und weil ich das Ende der Stun­de nahe glaub­te, so setz­te ich aus dem Steg­rei­fe bei mir fest, mich bis zum Glo­cken­schla­ge nicht zu weh­ren. Sie fin­gen dar­auf un­barm­her­zig an, mir die Bei­ne und Wa­den auf das grau­sams­te zu peit­schen. Ich rühr­te mich nicht, fühl­te aber bald, dass ich mich ver­rech­net hat­te und dass ein sol­cher Schmerz die Mi­nu­ten sehr ver­län­gert. Mit der Dul­dung wuchs mei­ne Wut, und mit dem ers­ten Stun­den­schlag fuhr ich dem einen, der sich’s am we­nigs­ten ver­sah, mit der Hand in die Na­cken­haa­re und stürz­te ihn au­gen­blick­lich zu Bo­den, in­dem ich mit dem Knie sei­nen Rücken drück­te; den an­de­ren, einen jün­ge­ren und schwä­che­ren, der mich von hin­ten an­fiel, zog ich bei dem Kop­fe durch den Arm und er­dros­sel­te ihn fast, in­dem ich ihn an mich press­te. Nun war der letz­te noch üb­rig und nicht der schwächs­te, und mir blieb nur die lin­ke Hand zu mei­ner Ver­tei­di­gung. Al­lein ich er­griff ihn beim Klei­de, und durch eine ge­schick­te Wen­dung von mei­ner Sei­te, durch eine über­eil­te von sei­ner brach­te ich ihn nie­der und stieß ihn mit dem Ge­sicht ge­gen den Bo­den. Sie lie­ßen es nicht an Bei­ßen, Krat­zen und Tre­ten feh­len; aber ich hat­te nur mei­ne Ra­che im Sinn und in den Glie­dern. In dem Vor­teil, in dem ich mich be­fand, stieß ich sie wie­der­holt mit den Köp­fen zu­sam­men. Sie er­hu­ben zu­letzt ein ent­setz­li­ches Ze­ter­ge­schrei, und wir sa­hen uns bald von al­len Haus­ge­nos­sen um­ge­ben. Die um­her­ge­streu­ten Ru­ten und mei­ne Bei­ne, die ich von den St­rümp­fen ent­blö­ßte, zeug­ten bald für mich. Man be­hielt sich die Stra­fe vor und ließ mich aus dem Hau­se; ich er­klär­te aber, dass ich künf­tig bei der ge­rings­ten Be­lei­di­gung ei­nem oder dem an­de­ren die Au­gen aus­krat­zen, die Ohren ab­rei­ßen, wo nicht gar ihn er­dros­seln wür­de.

      Die­ser Vor­fall, ob man ihn gleich, wie es in kin­di­schen Din­gen zu ge­sche­hen pflegt, bald wie­der ver­gaß und so­gar be­lach­te, war je­doch Ur­sa­che, dass die­se ge­mein­sa­men Un­ter­richts­stun­den selt­ner wur­den und zu­letzt ganz auf­hör­ten. Ich war also wie­der wie vor­her mehr ins Haus ge­bannt, wo ich an mei­ner Schwes­ter Cor­ne­lia, die nur ein Jahr we­ni­ger zähl­te als ich, eine an An­nehm­lich­keit im­mer wach­sen­de Ge­sell­schaf­te­rin fand.

      Ich will je­doch die­sen Ge­gen­stand nicht ver­las­sen, ohne noch ei­ni­ge Ge­schich­ten zu er­zäh­len, wie man­cher­lei Un­an­ge­neh­mes mir von mei­nen Ge­spie­len be­geg­net: denn das ist ja eben das Lehr­rei­che sol­cher sitt­li­chen Mit­tei­lun­gen, dass der Mensch er­fah­re, wie es an­de­ren er­gan­gen und


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