Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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sich der­sel­ben kunst- und an­spruchs­los, auf die ge­schick­tes­te Wei­se zu den nächs­ten Zwe­cken. Das Kind, an und für sich be­trach­tet, mit sei­nes­glei­chen und in Be­zie­hun­gen, die sei­nen Kräf­ten an­ge­mes­sen sind, scheint so ver­stän­dig, so ver­nünf­tig, dass nichts drü­ber geht, und zu­gleich so be­quem, hei­ter und ge­wandt, dass man kei­ne weitre Bil­dung für das­sel­be wün­schen möch­te. Wüch­sen die Kin­der in der Art fort, wie sie sich an­deu­ten, so hät­ten wir lau­ter Ge­nies. Aber das Wachs­tum ist nicht bloß Ent­wick­lung; die ver­schied­nen or­ga­ni­schen Sys­te­me, die den einen Men­schen aus­ma­chen, ent­sprin­gen aus ein­an­der, fol­gen ein­an­der, ver­wan­deln sich in ein­an­der, ver­drän­gen ein­an­der, ja zeh­ren ein­an­der auf, so­dass von man­chen Fä­hig­kei­ten, von man­chen Kraft­äu­ße­run­gen nach ei­ner ge­wis­sen Zeit kaum eine Spur mehr zu fin­den ist. Wenn auch die mensch­li­chen An­la­gen im gan­zen eine ent­schie­de­ne Rich­tung ha­ben, so wird es doch dem größ­ten und er­fah­rens­ten Ken­ner schwer sein, sie mit Zu­ver­läs­sig­keit vor­aus zu ver­kün­den; doch kann man hin­ter­drein wohl be­mer­ken, was auf ein künf­ti­ges hin­ge­deu­tet hat.

      Kei­nes­wegs ge­den­ke ich da­her in die­sen ers­ten Bü­chern mei­ne Ju­gend­ge­schich­ten völ­lig ab­zu­schlie­ßen, son­dern ich wer­de viel­mehr noch spä­ter­hin man­chen Fa­den auf­neh­men und fort­lei­ten, der sich un­be­merkt durch die ers­ten Jah­re schon hin­durch­zog. Hier muss ich aber be­mer­ken, wel­chen stär­ke­ren Ein­fluss nach und nach die Kriegs­be­ge­ben­hei­ten auf un­se­re Ge­sin­nun­gen und uns­re Le­bens­wei­se aus­üb­ten.

      Der ru­hi­ge Bür­ger steht zu den großen Wel­ter­eig­nis­sen in ei­nem wun­der­ba­ren Ver­hält­nis. Schon aus der Fer­ne re­gen sie ihn auf und be­un­ru­hi­gen ihn, und er kann sich, selbst wenn sie ihn nicht be­rüh­ren, ei­nes Ur­teils, ei­ner Teil­nah­me nicht ent­hal­ten. Schnell er­greift er eine Par­tei, nach­dem ihn sein Cha­rak­ter oder äu­ße­re An­läs­se be­stim­men. Rücken so große Schick­sa­le, so be­deu­ten­de Ver­än­de­run­gen nä­her, dann bleibt ihm bei man­chen äu­ßern Un­be­quem­lich­kei­ten noch im­mer je­nes in­n­re Miss­be­ha­gen, ver­dop­pelt und schärft das Übel meis­ten­teils und zer­stört das noch mög­li­che Gute. Dann hat er von Freun­den und Fein­den wirk­lich zu lei­den, oft mehr von je­nen als von die­sen, und er weiß we­der, wie er sei­ne Nei­gung noch wie er sei­nen Vor­teil wah­ren und er­hal­ten soll.

      Das Jahr 1757, das wir noch in völ­lig bür­ger­li­cher Ruhe ver­brach­ten, wur­de dem un­ge­ach­tet in großer Ge­müts­be­we­gung ver­lebt. Rei­cher an Be­ge­ben­hei­ten als die­ses war viel­leicht kein an­de­res. Die Sie­ge, die Groß­ta­ten, die Un­glücks­fäl­le, die Wie­der­her­stel­lun­gen folg­ten auf ein­an­der, ver­schlan­gen sich und schie­nen sich auf­zu­he­ben; im­mer aber schweb­te die Ge­stalt Fried­richs, sein Name, sein Ruhm in kur­z­em wie­der oben. Der En­thu­si­as­mus sei­ner Ver­eh­rer ward im­mer grö­ßer und be­leb­ter, der Hass sei­ner Fein­de bit­te­rer, und die Ver­schie­den­heit der An­sich­ten, wel­che selbst Fa­mi­li­en zer­spal­te­te, trug nicht we­nig dazu bei, die oh­ne­hin schon auf man­cher­lei Wei­se von­ein­an­der ge­trenn­ten Bür­ger noch mehr zu iso­lie­ren. Denn in ei­ner Stadt wie Frank­furt, wo drei Re­li­gio­nen die Ein­woh­ner in drei un­glei­che Mas­sen tei­len, wo nur we­ni­ge Män­ner, selbst von der herr­schen­den, zum Re­gi­ment ge­lan­gen kön­nen, muss es gar man­chen Wohl­ha­ben­den und Un­ter­rich­te­ten ge­ben, der sich auf sich zu­rück­zieht und durch Stu­di­en und Lieb­ha­be­rei­en sich eine eig­ne und ab­ge­schlos­se­ne Exis­tenz bil­det. Von sol­chen wird ge­gen­wär­tig und auch künf­tig die Rede sein müs­sen, wenn man sich die Ei­gen­hei­ten ei­nes Frank­fur­ter Bür­gers aus je­ner Zeit ver­ge­gen­wär­ti­gen soll.

      Mein Va­ter hat­te, so­bald er von Rei­sen zu­rück­ge­kom­men, nach sei­ner ei­ge­nen Sin­nes­art den Ge­dan­ken ge­fasst, dass er, um sich zum Diens­te der Stadt fä­hig zu ma­chen, eins der sub­al­ter­nen Äm­ter über­neh­me und sol­ches ohne Emo­lu­men­te füh­ren wol­le, wenn man es ihm ohne Bal­lo­ta­ge über­ge­be. Er glaub­te nach sei­ner Sin­nes­art, nach dem Be­grif­fe, den er von sich selbst hat­te, im Ge­fühl sei­nes gu­ten Wil­lens, eine sol­che Aus­zeich­nung zu ver­die­nen, die frei­lich we­der ge­setz­lich noch her­kömm­lich war. Da­her, als ihm sein Ge­such ab­ge­schla­gen wur­de, ge­riet er in Är­ger und Miss­mut, ver­schwur, je­mals ir­gend­ei­ne Stel­le an­zu­neh­men, und um es un­mög­lich zu ma­chen, ver­schaff­te er sich den Cha­rak­ter ei­nes kai­ser­li­chen Ra­tes, den der Schult­heiß und die äl­tes­ten Schöf­fen als be­son­dern Ehren­ti­tel tra­gen. Da­durch hat­te er sich zum Glei­chen der Obers­ten ge­macht und konn­te nicht mehr von un­ten an­fan­gen. Der­sel­be Be­weg­grund führ­te ihn auch dazu, um die äl­tes­te Toch­ter des Schult­hei­ßen zu wer­ben, wo­durch er auch auf die­ser Sei­te vom Rate aus­ge­schlos­sen ward. Er ge­hör­te nun zu den Zu­rück­ge­zo­ge­nen, wel­che nie­mals un­ter sich eine So­zie­tät ma­chen. Sie ste­hen so iso­liert ge­gen­ein­an­der wie ge­gen das Gan­ze, und umso mehr, als sich in die­ser Ab­ge­schie­den­heit das Ei­gen­tüm­li­che der Cha­rak­tere im­mer schrof­fer aus­bil­det. Mein Va­ter moch­te sich auf Rei­sen und in der frei­en Welt, die er ge­se­hen, von ei­ner ele­gan­tern und li­be­ra­lern Le­bens­wei­se eine Be­griff ge­macht ha­ben, als sie viel­leicht un­ter sei­nen Mit­bür­gern üb­lich war. Zwar fand er dar­in Vor­gän­ger und Ge­sel­len.

      Der Name von Uf­fen­bach ist be­kannt. Ein Schöff von Uf­fen­bach leb­te da­mals in gu­tem An­se­hen. Er war in Ita­li­en ge­we­sen, hat­te sich be­son­ders auf Mu­sil ge­legt, sang einen an­ge­neh­men Te­nor, und da er eine schö­ne Samm­lung von Mu­si­ka­li­en mit­ge­bracht hat­te, wur­den Kon­zer­te und Ora­to­ri­en bei ihm auf­ge­führt. Weil er nun da­bei selbst sang und die Mu­si­ker be­güns­tig­te, so fand man es nicht ganz sei­ner Wür­de ge­mäß, und die ein­ge­la­de­nen Gäs­te so­wohl als die üb­ri­gen Lands­leu­te er­laub­ten sich dar­über man­che lus­ti­ge An­mer­kung.

      Fer­ner er­in­ne­re ich mich ei­nes Barons von Hä­kel, ei­nes rei­chen Edel­manns, der, ver­hei­ra­tet aber kin­der­los, ein schö­nes Haus in der An­to­ni­us­gas­se be­wohn­te, mit al­lem Zu­be­hör ei­nes an­stän­di­gen Le­bens aus­ge­stat­tet. Auch be­saß er gute Ge­mäl­de, Kup­fer­sti­che, An­ti­ken und man­ches an­de­re, wie es bei Samm­lern und Lieb­ha­bern zu­sam­men­fließt. Von Zeit zu Zeit lud er die Ho­no­ra­tio­ren zum Mit­ta­ges­sen und war auf eine eig­ne acht­sa­me Wei­se wohl­tä­tig, in­dem er in sei­nem Hau­se die Ar­men klei­de­te, ihre al­ten Lum­pen aber zu­rück­be­hielt und ih­nen nur un­ter der Be­din­gung ein wö­chent­li­ches Al­mo­sen reich­te, dass sie in je­nen ge­schenk­ten Klei­dern sich ihm je­des Mal sau­ber und or­dent­lich vor­stell­ten. Ich er­in­ne­re mich sei­ner nur dun­kel als ei­nes freund­li­chen, wohl­ge­bil­de­ten Man­nes; de­sto deut­li­cher aber sei­ner Auk­ti­on, der ich vom An­fang bis zu Ende bei­wohn­te und teils auf Be­fehl mei­nes Va­ters, teils aus ei­ge­nem An­trieb man­ches er­stand, was sich noch un­ter mei­nen Samm­lun­gen be­fin­det.

      Frü­her, und von mir kaum noch mit Au­gen ge­se­hen, mach­te Jo­hann Mi­cha­el von Loen in der li­te­ra­ri­schen Welt so wie in Frank­furt ziem­li­ches Auf­se­hen. Nicht von Frank­furt ge­bür­tig, hat­te er sich da­selbst nie­der­ge­las­sen und war mit der Schwes­ter mei­ner Groß­mut­ter Tex­tor, ei­ner ge­bor­nen Lind­hei­mer, ver­hei­ra­tet. Be­kannt mit der Hof-


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