Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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es, wie schon ge­sagt, mög­lich ge­we­sen, den Va­ter zu er­hei­tern, so hät­te die­ser ver­än­der­te Zu­stand we­nig Drücken­des ge­habt. Der Graf übte die strengs­te Unei­gen­nüt­zig­keit: selbst Ga­ben, die sei­ner Stel­le ge­bühr­ten, lehn­te er ab; das Ge­rings­te, was ei­ner Be­ste­chung hät­te ähn­lich se­hen kön­nen, wur­de mit Zorn, ja mit Stra­fe weg­ge­wie­sen; sei­nen Leu­ten war aufs strengs­te be­foh­len, dem Haus­be­sit­zer nicht die min­des­ten Un­kos­ten zu ma­chen. Da­ge­gen wur­de uns Kin­dern reich­lich vom Nach­ti­sche mit­ge­teilt. Bei die­ser Ge­le­gen­heit muss ich, um von der Un­schuld je­ner Zei­ten einen Be­griff zu ge­ben, an­füh­ren, dass die Mut­ter uns ei­nes Ta­ges höch­lich be­trüb­te, in­dem sie das Ge­fro­re­ne, das man uns von der Ta­fel sen­de­te, weg­goss, weil es ihr un­mög­lich vor­kam, dass der Ma­gen ein wahr­haf­tes Eis, wenn es auch noch so durch­zu­ckert sei, ver­tra­gen kön­ne.

      Au­ßer die­sen Le­cke­rei­en, die wir denn doch all­mäh­lich ganz gut ge­nie­ßen und ver­tra­gen lern­ten, deuch­te es uns Kin­dern auch noch gar be­hag­lich, von ge­nau­en Lehr­stun­den und stren­ger Zucht ei­ni­ger­ma­ßen ent­bun­den zu sein. Des Va­ters üble Lau­ne nahm zu, er konn­te sich nicht in das Un­ver­meid­li­che er­ge­ben. Wie sehr quäl­te er sich, die Mut­ter und den Ge­vat­ter, die Rats­her­ren, alle sei­ne Freun­de, nur um den Gra­fen los­zu­wer­den! Ver­ge­bens stell­te man ihm vor, dass die Ge­gen­wart ei­nes sol­chen Man­nes im Hau­se, un­ter den ge­ge­be­nen Um­stän­den, eine wah­re Wohl­tat sei, dass ein ewi­ger Wech­sel, es sei nun von Of­fi­zie­ren oder Ge­mei­nen, auf die Um­quar­tie­rung des Gra­fen fol­gen wür­de. Keins von die­sen Ar­gu­men­ten woll­te bei ihm grei­fen. Das Ge­gen­wär­ti­ge schi­en ihm so un­er­träg­lich, dass ihn sein Un­mut ein Schlim­me­res, das fol­gen könn­te, nicht ge­wahr wer­den ließ.

      Auf die­se Wei­se ward sei­ne Tä­tig­keit ge­lähmt, die er sonst haupt­säch­lich auf uns zu wen­den ge­wohnt war. Das, was er uns auf­gab, for­der­te er nicht mehr mit der sons­ti­gen Ge­nau­ig­keit, und wir such­ten, wie es nur mög­lich schi­en, un­se­re Neu­gier­de an mi­li­tä­ri­schen und an­de­ren öf­fent­li­chen Din­gen zu be­frie­di­gen, nicht al­lein im Hau­se, son­dern auch auf den Stra­ßen, wel­ches umso leich­ter an­ging, da die Tag und Nacht un­ver­schlos­se­ne Hau­stü­re von Schild­wa­chen be­setzt war, die sich um das Hin- und Wi­der­lau­fen un­ru­hi­ger Kin­der nichts be­küm­mer­ten.

      Die man­cher­lei An­ge­le­gen­hei­ten, die vor dem Richter­stuh­le des Kö­nigs­leut­nants ge­schlich­tet wur­den, hat­ten da­durch noch einen ganz be­son­dern Reiz, dass er einen ei­ge­nen Wert dar­auf leg­te, sei­ne Ent­schei­dun­gen zu­gleich mit ei­ner wit­zi­gen, geist­rei­chen, hei­tern Wen­dung zu be­glei­ten. Was er be­fahl, war streng ge­recht; die Art, wie er es aus­drück­te, war lau­nig und pi­kant. Er schi­en sich den Her­zog von Os­suña zum Vor­bil­de ge­nom­men zu ha­ben. Es ver­ging kaum ein Tag, dass der Dol­met­scher nicht eine oder die an­de­re sol­che An­ek­do­te uns und der Mut­ter zur Auf­hei­te­rung er­zähl­te. Es hat­te die­ser mun­te­re Mann eine klei­ne Samm­lung sol­cher Sa­lo­mo­ni­schen Ent­schei­dun­gen ge­macht; ich er­in­ne­re mich aber nur des Ein­drucks im All­ge­mei­nen, ohne im Ge­dächt­nis ein Be­son­de­res wie­der­zu­fin­den.

      Den wun­der­ba­ren Cha­rak­ter des Gra­fen lern­te man nach und nach im­mer mehr ken­nen. Die­ser Mann war sich selbst sei­ner Ei­gen­hei­ten aufs deut­lichs­te be­wusst, und weil er ge­wis­se Zei­ten ha­ben moch­te, wo ihn eine Art von Un­mut, Hy­po­chon­drie, oder wie man den bö­sen Dä­mon nen­nen soll, über­fiel, so zog er sich in sol­chen Stun­den, die sich manch­mal zu Ta­gen ver­län­ger­ten, in sein Zim­mer zu­rück, sah nie­man­den als sei­nen Kam­mer­die­ner und war selbst in drin­gen­den Fäl­len nicht zu be­we­gen, dass er Au­di­enz ge­ge­ben hät­te. So­bald aber der böse Geist von ihm ge­wi­chen war, er­schi­en er nach wie vor, mild, hei­ter und tä­tig. Aus den Re­den sei­nes Kam­mer­die­ners, Saint Jean, ei­nes klei­nen ha­gern Man­nes von mun­t­rer Gut­mü­tig­keit, konn­te man schlie­ßen, dass er in frü­hern Jah­ren, von sol­cher Stim­mung über­wäl­tigt, großes Un­glück an­ge­rich­tet und sich nun vor ähn­li­chen Ab­we­gen, bei ei­ner so wich­ti­gen, den Bli­cken al­ler Welt aus­ge­setz­ten Stel­le, zu hü­ten ernst­lich vor­neh­me.

      Gleich in den ers­ten Ta­gen der An­we­sen­heit des Gra­fen wur­den die sämt­li­chen Frank­fur­ter Ma­ler, als Hirt, Schütz, Traut­mann, No­th­na­gel, Jun­cker, zu ihm be­ru­fen. Sie zeig­ten ihre fer­ti­gen Ge­mäl­de vor, und der Graf eig­ne­te sich das Ver­käuf­li­che zu. Ihm wur­de mein hüb­sches hel­les Gie­bel­zim­mer in der Man­sar­de ein­ge­räumt und so­gleich in ein Ka­bi­nett und Ate­lier um­ge­wan­delt: denn er war wil­lens, die sämt­li­chen Künst­ler, vor al­len aber See­katz in Darm­stadt, des­sen Pin­sel ihm be­son­ders bei na­tür­li­chen und un­schul­di­gen Vor­stel­lun­gen höch­lich ge­fiel, für eine gan­ze Zeit in Ar­beit zu set­zen. Er ließ da­her von Gras­se, wo sein äl­te­rer Bru­der ein schö­nes Ge­bäu­de be­sit­zen moch­te, die sämt­li­chen Maße al­ler Zim­mer und Ka­bi­net­te her­bei­kom­men, über­leg­te so­dann mit den Künst­lern die Wand­ab­tei­lun­gen und be­stimm­te die Grö­ße der hier­nach zu ver­fer­ti­gen­den an­sehn­li­chen Öl­bil­der, wel­che nicht in Rah­men ein­ge­fasst, son­dern als Ta­pe­tentei­le auf die Wand be­fes­tigt wer­den soll­ten. Hier ging nun die Ar­beit eif­rig an. See­katz über­nahm länd­li­che Sze­nen, worin die Grei­se und Kin­der, un­mit­tel­bar nach der Na­tur ge­malt, ganz herr­lich glück­ten; die Jüng­lin­ge woll­ten ihm nicht eben so ge­ra­ten, sie wa­ren meist zu ha­ger; und die Frau­en miss­fie­len aus der ent­ge­gen­ge­setz­ten Ur­sa­che. Denn da er eine klei­ne di­cke, gute aber un­an­ge­neh­me Per­son zur Frau hat­te, die ihm au­ßer sich selbst nicht wohl ein Mo­dell zuließ, so woll­te nichts Ge­fäl­li­ges zu stan­de kom­men. Zu­dem war er ge­nö­tigt ge­we­sen, über das Maß sei­ner Fi­gu­ren hin­aus­zu­ge­hen. Sei­ne Bäu­me hat­ten Wahr­heit, aber ein klein­li­ches Blät­ter­werk. Er war ein Schü­ler von Brink­mann, des­sen Pin­sel in Staf­fe­lei­ge­mäl­den nicht zu schel­ten ist.

      Schütz, der Land­schaft­ma­ler, fand sich viel­leicht am bes­ten in die Sa­che. Die Rhein­ge­gen­den hat­te er ganz in sei­ner Ge­walt, so wie den son­ni­gen Ton, der sie in der schö­nen Jah­res­zeit be­lebt. Er war nicht ganz un­ge­wohnt, in ei­nem grö­ßern Maß­sta­be zu ar­bei­ten, und auch da ließ er es an Aus­füh­rung und Hal­tung nicht feh­len. Er lie­fer­te sehr heitre Bil­der.

      Traut­mann rem­brand­tis­ter­te ei­ni­ge Au­fer­we­ckungs­wun­der des Neu­en Te­sta­ments und zün­de­te ne­ben­her Dör­fer und Müh­len an. Auch ihm war, wie ich aus den Au­fris­sen der Zim­mer be­mer­ken konn­te, ein ei­ge­nes Ka­bi­nett zu­ge­teilt wor­den. Hirt mal­te ei­ni­ge gute Ei­chen- und Bu­chen­wäl­der. Sei­ne Her­den wa­ren lo­bens­wert. Jun­cker, an die Nach­ah­mung der aus­führ­lichs­ten Nie­der­län­der ge­wöhnt, konn­te sich am we­nigs­ten in die­sen Ta­pe­ten­stil fin­den; je­doch be­quem­te er sich, für gute Zah­lung, mit Blu­men und Früch­ten man­che Ab­tei­lung zu ver­zie­ren.

      Da ich alle die­se Män­ner von mei­ner frühs­ten Ju­gend an ge­kannt und sie oft in ih­ren Werk­stät­ten be­sucht hat­te, auch der Graf mich gern um sich lei­den moch­te, so war ich bei den Auf­ga­ben, Be­rat­schla­gun­gen und Be­stel­lun­gen, wie auch bei den Ab­lie­fe­run­gen ge­gen­wär­tig und nahm mir, zu­mal wenn Skiz­zen und Ent­wür­fe


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