Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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in den äu­ßers­ten Fäl­len; und nach­dem man die sü­ßen Ga­ben bei­sei­te ge­schafft, such­te man ihn zu be­re­den, her­ab in das ge­wöhn­li­che Spei­se­zim­mer zu kom­men. End­lich ließ er sich be­we­gen, un­gern, und wir ahn­de­ten nicht, wel­ches Un­heil wir ihm und uns be­rei­te­ten. Die Trep­pe lief frei durchs gan­ze Haus an al­len Vor­sä­len vor­bei. Der Va­ter muss­te, in­dem er her­ab­stieg, un­mit­tel­bar an des Gra­fen Zim­mer vor­über­gehn. Sein Vor­saal stand so vol­ler Leu­te, dass der Graf sich ent­schloss, um Meh­rers auf ein­mal ab­zu­tun, her­aus­zu­tre­ten; und dies ge­sch­ah lei­der in dem Au­gen­blick, als der Va­ter her­ab­kam. Der Graf ging ihm hei­ter ent­ge­gen, be­grüß­te ihn und sag­te: »Ihr wer­det uns und Euch Glück wün­schen, dass die­se ge­fähr­li­che Sa­che so glück­lich ab­ge­lau­fen ist.« – »Kei­nes­wegs!« ver­setz­te mein Va­ter mit In­grimm: »ich woll­te, sie hät­ten Euch zum Teu­fel ge­jagt, und wenn ich hät­te mit­fah­ren sol­len.« – Der Graf hielt einen Au­gen­blick inne, dann aber fuhr er mit Wut auf: »Die­ses sollt Ihr bü­ßen!« rief er, »Ihr sollt nicht um­sonst der ge­rech­ten Sa­che und mir eine sol­che Be­lei­di­gung zu­ge­fügt ha­ben!«

      Der Va­ter war in­des ge­las­sen her­un­ter­ge­stie­gen, setz­te sich zu uns, schi­en heit­rer als bis­her und fing an zu es­sen. Wir freu­ten uns dar­über und wuss­ten nicht, auf wel­che be­denk­li­che Wei­se er sich den Stein vom Her­zen ge­wälzt hat­te. Kurz dar­auf wur­de die Mut­ter her­aus­ge­ru­fen, und wir hat­ten große Lust, dem Va­ter aus­zu­plau­dern, was uns der Graf für Sü­ßig­kei­ten ver­ehrt habe. Die Mut­ter kam nicht zu­rück. End­lich trat der Dol­met­scher her­ein. Auf sei­nen Wink schick­te man uns zu Bet­te: es war schon spät, und wir ge­horch­ten gern. Nach ei­ner ru­hig durch­schla­fe­nen Nacht er­fuh­ren wir die ge­walt­sa­me Be­we­gung, die ges­tern Abend das Haus er­schüt­tert hat­te. Der Kö­nigs­leut­nant hat­te so­gleich be­foh­len, den Va­ter auf die Wa­che zu füh­ren. Die Su­bal­ter­nen wuss­ten wohl, dass ihm nie­mals zu wi­der­spre­chen war; doch hat­ten sie sich manch­mal Dank ver­dient, wenn sie mit der Aus­füh­rung zau­der­ten. Die­se Ge­sin­nung wuss­te der Ge­vat­ter Dol­metsch, den die Geis­tes­ge­gen­wart nie­mals ver­ließ, aufs leb­haf­tes­te bei ih­nen rege zu ma­chen. Der Tu­mult war oh­ne­hin so groß, dass eine Zö­ge­rung sich von selbst ver­steck­te und ent­schul­dig­te. Er hat­te mei­ne Mut­ter her­aus­ge­ru­fen und ihr den Ad­ju­tan­ten gleich­sam in die Hän­de ge­ge­ben, dass sie durch Bit­ten und Vor­stel­lun­gen nur ei­ni­gen Auf­schub er­lan­gen möch­te. Er selbst eil­te schnell hin­auf zum Gra­fen, der sich bei der großen Be­herr­schung sei­ner selbst so­gleich ins in­n­re Zim­mer zu­rück­ge­zo­gen hat­te und das drin­gends­te Ge­schäft lie­ber einen Au­gen­blick sto­cken ließ, als dass er den ein­mal in ihm er­reg­ten bö­sen Mut an ei­nem Un­schul­di­gen ge­kühlt und eine sei­ner Wür­de nach­tei­li­ge Ent­schei­dung ge­ge­ben hät­te.

      Die An­re­de des Dol­met­schers an den Gra­fen, die Füh­rung des gan­zen Ge­sprächs hat uns der di­cke Ge­vat­ter, der sich auf den glück­li­chen Er­folg nicht we­nig zu gute tat, oft ge­nug wie­der­holt, so­dass ich sie aus dem Ge­dächt­nis wohl noch auf­zeich­nen kann.

      Der Dol­metsch hat­te ge­wagt, das Ka­bi­nett zu er­öff­nen und hin­ein­zu­tre­ten, eine Hand­lung, die höchst ver­pönt war. »Was wollt Ihr?« rief ihm der Graf zor­nig ent­ge­gen. »Hin­aus mit Euch! Hier hat nie­mand das Recht her­ein­zu­tre­ten als Saint Jean.«

      »So hal­tet mich einen Au­gen­blick für Saint Jean«, ver­setz­te der Dol­metsch.

      »Dazu ge­hört eine gute Ein­bil­dungs­kraft. Sei­ner zwei ma­chen noch nicht einen, wie Ihr seid. Ent­fernt Euch!«

      »Herr Graf, Ihr habt eine große Gabe vom Him­mel emp­fan­gen, und an die ap­pel­lie­re ich.«

      »Ihr denkt mir zu schmei­cheln! Glaubt nicht, dass es Euch ge­lin­gen wer­de.«

      »Ihr habt die große Gabe, Herr Graf, auch in Au­gen­bli­cken der Lei­den­schaft, in Au­gen­bli­cken des Zorns die Ge­sin­nun­gen an­de­rer an­zu­hö­ren.«

      »Wohl, wohl! Von Ge­sin­nun­gen ist eben die Rede, die ich zu lan­ge an­ge­hört habe. Ich weiß nur zu gut, dass man uns hier nicht liebt, dass uns die­se Bür­ger scheel an­sehn.«

      »Nicht alle!«

      »Sehr vie­le! Was! die­se Städ­ter, Reichs­städ­ter wol­len sie sein? Ihren Kai­ser ha­ben sie wäh­len und krö­nen se­hen, und wenn die­ser, un­ge­recht an­ge­grif­fen, sei­ne Län­der zu ver­lie­ren und ei­nem Usur­pa­tor zu un­ter­lie­gen Ge­fahr läuft, wenn er glück­li­cher­wei­se ge­treue Al­li­ier­te fin­det, die ihr Geld, ihr Blut zu sei­nem Vor­teil ver­wen­den, so wol­len sie die ge­rin­ge Last nicht tra­gen, die zu ih­rem Teil sie trifft, dass der Reichs­feind ge­de­mü­tigt wer­de.«

      »Frei­lich kennt Ihr die­se Ge­sin­nun­gen schon lan­ge und habt sie als ein wei­ser Mann ge­dul­det; auch ist es nur die ge­rin­ge­re Zahl. We­ni­ge, ver­blen­det durch die glän­zen­den Ei­gen­schaf­ten des Fein­des, den Ihr ja selbst als einen au­ßer­or­dent­li­chen Mann schätzt, we­ni­ge nur, Ihr wisst es!«

      »Ja­wohl! zu lan­ge habe ich es ge­wusst und ge­dul­det, sonst hät­te die­ser sich nicht un­ter­stan­den, mir in den be­deu­tends­ten Au­gen­bli­cken sol­che Be­lei­di­gun­gen ins Ge­sicht zu sa­gen. Es mö­gen sein, so viel ih­rer wol­len, sie sol­len in die­sem ih­ren küh­nen Re­prä­sen­tan­ten ge­straft wer­den und sich mer­ken, was sie zu er­war­ten ha­ben.«

      »Nur Auf­schub, Herr Graf!«

      »In ge­wis­sen Din­gen kann man nicht zu ge­schwind ver­fah­ren.«

      »Nur einen kur­z­en Auf­schub!«

      »Nach­bar! Ihr denkt mich zu ei­nem falschen Schritt zu ver­lei­ten: es soll Euch nicht ge­lin­gen.«

      »We­der ver­lei­ten will ich Euch zu ei­nem falschen Schritt, noch von ei­nem falschen zu­rück­hal­ten. Euer Ent­schluss ist ge­recht: er ge­ziemt dem Fran­zo­sen, dem Kö­nigs­leut­nant; aber be­denkt, dass Ihr auch Graf Tho­ra­ne seid.«

      »Der hat hier nicht mit­zu­spre­chen.«

      »Man soll­te den bra­ven Mann doch auch hö­ren.«

      »Nun, was wür­de er denn sa­gen?«

      »Herr Kö­nigs­leut­nant! wür­de er sa­gen, Ihr habt so lan­ge mit so viel dunklen, un­wil­li­gen, un­ge­schick­ten Men­schen Ge­duld ge­habt, wenn sie es Euch nur nicht gar zu arg mach­ten. Die­ser hat’s frei­lich sehr arg ge­macht; aber ge­winnt es über Euch, Herr Kö­nigs­leut­nant! und je­der­mann wird Euch des­we­gen lo­ben und prei­sen.«

      »Ihr wisst, dass ich Eure Pos­sen manch­mal lei­den kann; aber miss­braucht nicht mein Wohl­wol­len. Die­se Men­schen, sind sie denn ganz ver­blen­det? Hät­ten wir die Schlacht ver­lo­ren, in die­sem Au­gen­blick, was wür­de ihr Schick­sal sein? Wir schla­gen uns bis vor die Tore, wir sper­ren die Stadt, wir hal­ten, wir ver­tei­di­gen uns, um un­se­re Re­ti­ra­de über die Brücke zu de­cken. Glaubt Ihr, dass der Feind die Hän­de in den Schoß ge­legt hät­te? Er wirft Gra­na­ten und was er bei der Hand hat, und sie zün­den, wo sie kön­nen. Die­ser Haus­be­sit­zer da, was will er? In die­sen Zim­mern hier platz­te jetzt wohl eine Feu­er­ku­gel, und eine an­de­re folg­te hin­ter­drein; in die­sen Zim­mern, de­ren ver­ma­le­dei­te Pe­king­ta­pe­ten ich ge­schont, mich ge­niert habe, mei­ne Land­kar­ten nicht auf­zu­na­geln! Den gan­zen Tag


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