Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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die gute Sa­che ge­lit­ten hat; und selbst die an­ders Ge­sinn­ten, die jetzt sei­ne Geg­ner sind, wer­den in ihm nur den Mit­bür­ger se­hen, wer­den ihn be­dau­ern und, in­dem sie Euch Recht ge­ben, den­noch fin­den, dass Ihr zu hart ver­fah­ren seid.«

      »Ich habe Euch schon zu lan­ge an­ge­hört; macht, dass Ihr fort­kommt!«

      »So hört nur noch die­ses! Be­denkt, dass es das Un­er­hör­tes­te ist, was die­sem Man­ne, was die­ser Fa­mi­lie be­geg­nen könn­te. Ihr hat­tet nicht Ur­sa­che, von dem gu­ten Wil­len des Haus­herrn er­baut zu sein; aber die Haus­frau ist al­len Eu­ren Wün­schen zu­vor­ge­kom­men, und die Kin­der ha­ben Euch als ih­ren Oheim be­trach­tet. Mit die­sem ein­zi­gen Schlag wer­det Ihr den Frie­den und das Glück die­ser Woh­nung auf ewig zer­stö­ren. Ja ich kann wohl sa­gen, eine Bom­be, die ins Haus ge­fal­len wäre, wür­de nicht grö­ße­re Ver­wüs­tun­gen dar­in an­ge­rich­tet ha­ben. Ich habe Euch so oft über Eure Fas­sung be­wun­dert, Herr Graf; gebt mir dies­mal Ge­le­gen­heit, Euch an­zu­be­ten. Ein Krie­ger ist ehr­wür­dig, der sich selbst in Fein­des Haus als einen Gast­freund be­trach­tet; hier ist kein Feind, nur ein Ver­irr­ter. Ge­winnt es über Euch, und es wird Euch zu ewi­gem Ruh­me ge­rei­chen!«

      »Das müss­te wun­der­lich zu­ge­hen«, ver­setz­te der Graf mit ei­nem Lä­cheln.

      »Nur ganz na­tür­lich«, er­wi­der­te der Dol­met­scher. »Ich habe die Frau, die Kin­der nicht zu Eu­ren Fü­ßen ge­schickt: denn ich weiß, dass Euch sol­che Sze­nen ver­drieß­lich sind; aber ich will Euch die Frau, die Kin­der schil­dern, wie sie Euch dan­ken, ich will sie Euch schil­dern, wie sie sich zeit­le­bens von dem Tage der Schlacht bei Ber­gen und von Eu­rer Groß­mut an die­sem Tage un­ter­hal­ten, wie sie es Kin­dern und Kin­des­kin­dern er­zäh­len und auch Frem­den ihr In­ter­es­se für Euch ein­zu­flö­ßen wis­sen: eine Hand­lung die­ser Art kann nicht un­ter­ge­hen!«

      »Ihr trefft mei­ne schwa­che Sei­te nicht, Dol­met­scher. An den Nachruhm pfleg ich nicht zu den­ken, der ist für an­de­re, nicht für mich; aber im Au­gen­blick Recht zu tun, mei­ne Pf­licht nicht zu ver­säu­men, mei­ner Ehre nichts zu ver­ge­ben, das ist mei­ne Sor­ge. Wir ha­ben schon zu viel Wor­te ge­macht; jetzt geht hin – und lasst Euch von den Un­dank­ba­ren dan­ken, die ich ver­scho­ne!«

      Der Dol­metsch, durch die­sen un­er­war­tet glück­li­chen Aus­gang über­rascht und be­wegt, konn­te sich der Trä­nen nicht ent­hal­ten und woll­te dem Gra­fen die Hän­de küs­sen; der Graf wies ihn ab und sag­te streng und ernst: »Ihr wisst, dass ich der­glei­chen nicht lei­den kann!« Und mit die­sen Wor­ten trat er auf den Vor­saal, um die an­drin­gen­den Ge­schäf­te zu be­sor­gen und das Be­geh­ren so vie­ler war­ten­den Men­schen zu ver­neh­men. So ward die Sa­che bei­ge­legt, und wir fei­er­ten den an­de­ren Mor­gen bei den Über­bleib­seln der gest­ri­gen Zucker­ge­schen­ke das Vor­über­ge­hen ei­nes Übels, des­sen An­dro­hen wir glück­lich ver­schla­fen hat­ten.

      Ob der Dol­metsch wirk­lich so wei­se ge­spro­chen, oder ob er sich die Sze­ne nur so aus­ge­malt, wie man es wohl nach ei­ner gu­ten und glück­li­chen Hand­lung zu tun pflegt, will ich nicht ent­schei­den; we­nigs­tens hat er bei Wie­der­er­zäh­lung der­sel­ben nie­mals va­ri­iert. Ge­nug, die­ser Tag dünk­te ihm, so wie der sor­gen­volls­te, so auch der glor­reichs­te sei­nes Le­bens.

      Wie sehr üb­ri­gens der Graf al­les falsche Ze­re­mo­ni­ell ab­ge­lehnt, kei­nen Ti­tel, der ihm nicht ge­bühr­te, je­mals an­ge­nom­men, und wie er in sei­nen hei­tern Stun­den im­mer geist­reich ge­we­sen, da­von soll eine klei­ne Be­ge­ben­heit ein Zeug­nis ab­le­gen.

      Ein vor­neh­mer Mann, der aber auch un­ter die ab­stru­sen ein­sa­men Frank­fur­ter ge­hör­te, glaub­te sich über sei­ne Ein­quar­tie­rung be­kla­gen zu müs­sen. Er kam per­sön­lich, und der Dol­metsch bot ihm sei­ne Diens­te an; je­ner aber mein­te der­sel­ben nicht zu be­dür­fen. Er trat vor den Gra­fen mit ei­ner an­stän­di­gen Ver­beu­gung und sag­te: »Ex­zel­lenz!« Der Graf gab ihm die Ver­beu­gung zu­rück, so wie die Ex­zel­lenz. Be­trof­fen von die­ser Ehren­be­zei­gung, nicht an­ders glau­bend, als der Ti­tel sei zu ge­ring, bück­te er sich tiefer und sag­te: »Mons­eigneur!« – »Mein Herr«, sag­te der Graf ganz ernst­haft, »wir wol­len nicht wei­ter ge­hen, denn sonst könn­ten wir es leicht bis zur Ma­je­stät brin­gen.« – Der an­de­re war äu­ßerst ver­le­gen und wuss­te kein Wort zu sa­gen. Der Dol­metsch, in ei­ni­ger Ent­fer­nung ste­hend und von der gan­zen Sa­che un­ter­rich­tet, war bos­haft ge­nug, sich nicht zu rüh­ren; der Graf aber, mit großer Hei­ter­keit, fuhr fort: »Zum Bei­spiel, mein Herr, wie hei­ßen Sie?« – »Span­gen­berg«, ver­setz­te je­ner. – »Und ich«, sag­te der Graf, »hei­ße Tho­ra­ne. Span­gen­berg, was wollt Ihr von Tho­ra­ne? Und nun set­zen wir uns, die Sa­che soll gleich ab­ge­tan sein.«

      Und so wur­de die Sa­che auch gleich zu großer Zufrie­den­heit des­je­ni­gen ab­ge­tan, den ich hier Span­gen­berg ge­nannt habe, und die Ge­schich­te noch an sel­bi­gem Abend von dem scha­den­fro­hen Dol­metsch in un­serm Fa­mi­li­en­krei­se nicht nur er­zählt, son­dern mit al­len Um­stän­den und Ge­bär­den auf­ge­führt.

      Nach sol­chen Ver­wir­run­gen, Un­ru­hen und Be­dräng­nis­sen fand sich gar bald die vo­ri­ge Si­cher­heit und der Leicht­sinn wie­der, mit wel­chem be­son­ders die Ju­gend von Tag zu Tage lebt, wenn es nur ei­ni­ger­ma­ßen an­ge­hen will. Mei­ne Lei­den­schaft zu dem fran­zö­si­schen Thea­ter wuchs mit je­der Vor­stel­lung; ich ver­säum­te kei­nen Abend, ob ich gleich je­des Mal, wenn ich nach dem Schau­spiel mich zur spei­sen­den Fa­mi­lie an den Tisch setz­te und mich gar oft nur mit ei­ni­gen Res­ten be­gnüg­te, die ste­ten Vor­wür­fe des Va­ters zu dul­den hat­te: das Thea­ter sei zu gar nichts nüt­ze und kön­ne zu gar nichts füh­ren. Ich rief in sol­chem Fal­le ge­wöhn­lich alle und jede Ar­gu­men­te her­vor, wel­che den Ver­tei­di­gern des Schau­spiels zur Hand sind, wenn sie in eine glei­che Not wie die mei­ni­ge ge­ra­ten. Das Las­ter im Glück, die Tu­gend im Un­glück wur­den zu­letzt durch die poe­ti­sche Ge­rech­tig­keit wie­der ins Gleich­ge­wicht ge­bracht. Die schö­nen Bei­spie­le von be­straf­ten Ver­ge­hun­gen, »Miss Sara Samp­son« und der »Kauf­mann von Lon­don«, wur­den sehr leb­haft von mir her­vor­ge­ho­ben; aber ich zog da­ge­gen öf­ters den kür­zern, wenn die »Schelm­strei­che Sca­pins« und der­glei­chen auf dem Zet­tel stan­den und ich mir das Be­ha­gen muss­te vor­wer­fen las­sen, das man über die Be­trü­ge­rei­en rän­ke­vol­ler Knech­te und über den gu­ten Er­folg der Tor­hei­ten aus­ge­las­se­ner Jüng­lin­ge im Pub­li­kum emp­fin­de. Bei­de Par­tei­en über­zeug­ten ein­an­der nicht; doch wur­de mein Va­ter sehr bald mit der Büh­ne aus­ge­söhnt, als er sah, dass ich mit un­glaub­li­cher Schnel­lig­keit in der fran­zö­si­schen Spra­che zu­nahm.

      Die Men­schen sind nun ein­mal so, dass je­der, was er tun sieht, lie­ber selbst vornäh­me, er habe nun Ge­schick dazu oder nicht. Ich hat­te nun bald den gan­zen Kur­sus der fran­zö­si­schen Büh­ne durch­ge­macht: meh­re­re Stücke ka­men schon zum zwei­ten und drit­ten Mal, von der wür­digs­ten Tra­gö­die bis zum leicht­fer­tigs­ten Nach­spiel war mir al­les vor Au­gen und Geist vor­bei­ge­gan­gen. Und wie ich als Kind den Te­renz nach­zuah­men wag­te, so ver­fehl­te ich nun­mehr nicht als Kna­be, bei ei­nem viel leb­haf­ter drin­gen­den An­lass, auch die fran­zö­si­schen For­men nach mei­nem Ver­mö­gen und Un­ver­mö­gen zu wie­der­ho­len. Es wur­den da­mals ei­ni­ge halb my­tho­lo­gi­sche, halb al­le­go­ri­sche


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