Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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Der Le­ga­ti­ons­rat teil­te sei­ne Kennt­nis­se gern mit, war ein Freund der Ma­the­ma­tik, und weil die­se in sei­nem ge­gen­wär­ti­gen Le­bens­gan­ge gar nicht vor­kam, so mach­te er sich ein Ver­gnü­gen dar­aus, mir in die­sen Kennt­nis­sen wei­ter zu hel­fen. Da­durch ward ich in den Stand ge­setzt, mei­ne ar­chi­tek­to­ni­schen Ris­se ge­nau­er als bis­her aus­zu­ar­bei­ten und den Un­ter­richt ei­nes Zei­chen­meis­ters, der uns jetzt auch täg­lich eine Stun­de be­schäf­tig­te, bes­ser zu nut­zen.

      Die­ser gute alte Mann war frei­lich nur ein Halb­künst­ler. Wir muss­ten Stri­che ma­chen und sie zu­sam­men­set­zen, wor­aus denn Au­gen und Na­sen, Lip­pen und Ohren, ja zu­letzt gan­ze Ge­sich­ter und Köp­fe ent­ste­hen soll­ten; al­lein es war da­bei we­der an na­tür­li­che noch künst­li­che Form ge­dacht. Wir wur­den eine Zeit lang mit die­sem Qui pro Quo der mensch­li­chen Ge­stalt ge­quält, und man glaub­te uns zu­letzt sehr weit ge­bracht zu ha­ben, als wir die so­ge­nann­ten Af­fek­ten von Le Brun zur Nach­zeich­nung er­hiel­ten. Aber auch die­se Zerr­bil­der för­der­ten uns nicht. Nun schwank­ten wir zu den Land­schaf­ten, zum Baum­schlag und zu al­len den Din­gen, die im ge­wöhn­li­chen Un­ter­richt ohne Fol­ge und ohne Metho­de ge­übt wer­den. Zu­letzt fie­len wir auf die ge­naue Nach­ah­mung und auf die Sau­ber­keit der Stri­che, ohne uns wei­ter um den Wert des Ori­gi­nals oder des­sen Ge­schmack zu be­küm­mern.

      In die­sem Be­stre­ben ging uns der Va­ter auf eine mus­ter­haf­te Wei­se vor. Er hat­te nie ge­zeich­net, woll­te nun aber, da sei­ne Kin­der die­se Kunst trie­ben, nicht zu­rück­blei­ben, son­dern ih­nen, selbst in sei­nem Al­ter, ein Bei­spiel ge­ben, wie sie in ih­rer Ju­gend ver­fah­ren soll­ten. Er ko­pier­te also ei­ni­ge Köp­fe des Pi­az­zet­ta, nach des­sen be­kann­ten Blät­tern in klein Ok­tav, mit eng­li­schem Blei­stift auf das feins­te hol­län­di­sche Pa­pier. Er be­ob­ach­te­te da­bei nicht al­lein die größ­te Rein­lich­keit im Um­riss, son­dern ahm­te auch die Schraf­fie­rung des Kup­fer­stichs aufs ge­naus­te nach, mit ei­ner leich­ten Hand, nur all­zu lei­se, da er denn, weil er die Här­te ver­mei­den woll­te, kei­ne Hal­tung in sei­ne Blät­ter brach­te. Doch wa­ren sie durch­aus zart und gleich­för­mig. Sein an­hal­ten­der un­er­müd­li­cher Fleiß ging so weit, dass er die gan­ze an­sehn­li­che Samm­lung nach al­len ih­ren Num­mern durch­zeich­ne­te, in­des­sen wir Kin­der von ei­nem Kopf zum an­de­ren spran­gen und uns nur die aus­wähl­ten, die uns ge­fie­len.

      Um die­se Zeit ward auch der schon längst in Be­ra­tung ge­zo­gne Vor­satz, uns in der Mu­sik un­ter­rich­ten zu las­sen, aus­ge­führt; und zwar ver­dient der letz­te An­stoß dazu wohl ei­ni­ge Er­wäh­nung. Dass wir das Kla­vier ler­nen soll­ten, war aus­ge­macht; al­lein über die Wahl des Meis­ters war man im­mer strei­tig ge­we­sen. End­lich kom­me ich ein­mal zu­fäl­li­ger­wei­se in das Zim­mer ei­nes mei­ner Ge­sel­len, der eben Kla­vier­stun­de nimmt, und fin­de den Leh­rer als einen ganz al­ler­liebs­ten Mann. Für je­den Fin­ger der rech­ten und lin­ken Hand hat er einen Spitz­na­men, wo­mit er ihn aufs lus­tigs­te be­zeich­net, wenn er ge­braucht wer­den soll. Die schwar­zen und wei­ßen Tas­ten wer­den gleich­falls bild­lich be­nannt, ja die Tone selbst er­schei­nen un­ter fi­gür­li­chen Na­men. Eine sol­che bun­te Ge­sell­schaft ar­bei­tet nun ganz ver­gnüg­lich durch­ein­an­der. Appli­ka­tor und Takt schei­nen ganz leicht und an­schau­lich zu wer­den, und in­dem der Schü­ler zu dem bes­ten Hu­mor auf­ge­regt wird, geht auch al­les zum schöns­ten von stat­ten.

      Kaum war ich nach Hau­se ge­kom­men, als ich den El­tern an­lag, nun­mehr Ernst zu ma­chen und uns die­sen un­ver­gleich­li­chen Mann zum Kla­vier­meis­ter zu ge­ben. Man nahm noch ei­ni­gen An­stand, man er­kun­dig­te sich; man hör­te zwar nichts Übles von dem Leh­rer, aber auch nichts son­der­lich Gu­tes. Ich hat­te in­des­sen mei­ner Schwes­ter alle die lus­ti­gen Be­nen­nun­gen er­zählt, wir konn­ten den Un­ter­richt kaum er­war­ten und setz­ten es durch, dass der Mann an­ge­nom­men wur­de.

      Das No­ten­le­sen ging zu­erst an, und als da­bei kein Spaß vor­kom­men woll­te, trös­te­ten wir uns mit der Hoff­nung, dass, wenn es erst ans Kla­vier ge­hen wür­de, wenn es an die Fin­ger käme, das scherz­haf­te We­sen sei­nen An­fang neh­men wür­de. Al­lein we­der Ta­sta­tur noch Fin­ger­set­zung schi­en zu ei­ni­gem Gleich­nis Ge­le­gen­heit zu ge­ben. So tro­cken wie die No­ten mit ih­ren Stri­chen auf und zwi­schen den fünf Li­ni­en blie­ben auch die schwar­zen und wei­ßen Cla­ves, und we­der von ei­nem Däu­mer­ling noch Deu­ter­ling noch Gold­fin­ger war mehr eine Sil­be zu hö­ren; und das Ge­sicht ver­zog der Mann so we­nig beim trock­nen Un­ter­richt, als er es vor­her beim trock­nen Spaß ver­zo­gen hat­te. Mei­ne Schwes­ter mach­te mir die bit­ters­ten Vor­wür­fe, dass ich sie ge­täuscht habe, und glaub­te wirk­lich, es sei nur Er­fin­dung von mir ge­we­sen. Ich war aber selbst be­täubt und lern­te we­nig, ob der Mann gleich or­dent­lich ge­nug zu Wer­ke ging: denn ich war­te­te im­mer noch, die frü­hern Spä­ße soll­ten zum Vor­schein kom­men, und ver­trös­te­te mei­ne Schwes­ter von ei­nem Tage zum an­de­ren. Aber sie blie­ben aus, und ich hät­te mir die­ses Rät­sel nie­mals er­klä­ren kön­nen, wenn es mir nicht gleich­falls ein Zu­fall auf­ge­löst hät­te.

      Ei­ner mei­ner Ge­spie­len trat her­ein, mit­ten in der Stun­de, und auf ein­mal er­öff­ne­ten sich die sämt­li­chen Röh­ren des hu­mo­ris­ti­schen Spring­brun­nens; die Däu­mer­lin­ge und Deu­ter­lin­ge, die Kra­bler und Za­bler, wie er die Fin­ger zu be­zeich­nen pfleg­te, die Fak­chen und Gak­chen, wie er z. B. die No­ten f und g, die Fiek­chen und Giek­chen, wie er fis und gis be­nann­te, wa­ren auf ein­mal wie­der vor­han­den und mach­ten die wun­der­sams­ten Män­ner­chen. Mein jun­ger Freund kam nicht aus dem La­chen und freu­te sich, dass man auf eine so lus­ti­ge Wei­se so viel ler­nen kön­ne. Er schwur, dass er sei­nen El­tern kei­ne Ruhe las­sen wür­de, bis sie ihm einen sol­chen vor­treff­li­chen Mann zum Leh­rer ge­ge­ben.

      Und so war mir, nach den Grund­sät­zen ei­ner neu­ern Er­zie­hungs­leh­re, der Weg zu zwei Küns­ten früh ge­nug er­öff­net, bloß auf gut Glück, ohne Über­zeu­gung, dass ein an­ge­bor­nes Ta­lent mich dar­in wei­ter för­dern kön­ne. Zeich­nen müs­se je­der­mann ler­nen, be­haup­te­te mein Va­ter und ver­ehr­te des­halb be­son­ders Kai­ser Ma­xi­mi­li­an, wel­cher die­ses aus­drück­lich sol­le be­foh­len ha­ben. Auch hielt er mich ernst­li­cher dazu an, als zur Mu­sik, wel­che er da­ge­gen mei­ner Schwes­ter vor­züg­lich emp­fahl, ja die­sel­be au­ßer ih­ren Lehr­stun­den eine ziem­li­che Zeit des Ta­ges am Kla­vie­re fest­hielt.

      Je mehr ich aber auf die­se Wei­se zu trei­ben ver­an­lasst wur­de, de­sto mehr woll­te ich trei­ben, und selbst die Frei­stun­den wur­den zu al­ler­lei wun­der­li­chen Be­schäf­ti­gun­gen ver­wen­det. Schon seit mei­nen frühs­ten Zei­ten fühl­te ich einen Un­ter­su­chungs­trieb ge­gen na­tür­li­che Din­ge. Man legt es manch­mal als eine An­la­ge zur Grau­sam­keit aus, dass Kin­der sol­che Ge­gen­stän­de, mit de­nen sie eine Zeit lang ge­spielt, die sie bald so, bald so ge­hand­habt, end­lich zer­stücken, zer­rei­ßen und zer­fet­zen. Doch pflegt sich auch die Neu­gier­de, das Ver­lan­gen, zu er­fah­ren, wie sol­che Din­ge zu­sam­men­hän­gen, wie sie in­wen­dig aus­se­hen, auf die­se Wei­se an den Tag zu le­gen. Ich er­in­ne­re mich, dass ich als Kind Blu­men zer­pflückt, um zu se­hen, wie die Blät­ter in den Kelch, oder auch Vö­gel be­rupft, um zu be­ob­ach­ten, wie die Fe­dern in die Flü­gel ein­ge­fügt wa­ren. Ist doch Kin­dern die­ses nicht


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