Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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ich noch schwö­ren woll­te, ich hät­te ihn mit Au­gen ge­se­hen.

      Eine von mir selbst sehr rein­lich ge­fer­tig­te Ab­schrift leg­te ich mei­nem Freun­de De­ro­nes vor, wel­cher sie mit ganz be­son­de­rem An­stand und ei­ner wahr­haf­ten Gön­ner­mie­ne auf­nahm, das Ma­nu­skript flüch­tig durch­sah, mir ei­ni­ge Sprach­feh­ler nach­wies, ei­ni­ge Re­den zu lang fand und zu­letzt ver­sprach, das Werk bei ge­hö­ri­ger Muße nä­her zu be­trach­ten und zu be­ur­tei­len. Auf mei­ne be­schei­de­ne Fra­ge, ob das Stück wohl auf­ge­führt wer­den kön­ne, ver­si­cher­te er mir, dass es gar­nicht un­mög­lich sei. Sehr vie­les kom­me beim Thea­ter auf Gunst an, und er be­schüt­ze mich von gan­zem Her­zen; nur müs­se man die Sa­che ge­heim hal­ten: denn er habe selbst ein­mal mir ei­nem von ihm ver­fer­tig­ten Stück die Di­rek­ti­on über­rascht, und es wäre ge­wiss auf­ge­führt wor­den, wenn man nicht zu früh ent­deckt hät­te, dass er der Ver­fas­ser sei. Ich ver­sprach ihm al­les mög­li­che Still­schwei­gen und sah schon im Geist den Ti­tel mei­ner Pie­ce an den Ecken der Stra­ßen und Plät­ze mit großen Buch­sta­ben an­ge­schla­gen.

      So leicht­sin­nig üb­ri­gens der Freund war, so schi­en ihm doch die Ge­le­gen­heit, den Meis­ter zu spie­len, all­zu er­wünscht. Er las das Stück mit Auf­merk­sam­keit durch, und in­dem er sich mit mir hin­setz­te, um ei­ni­ge Klei­nig­kei­ten zu än­dern, kehr­te er im Lau­fe der Un­ter­hal­tung das gan­ze Stück um und um, so­dass auch kein Stein auf dem an­de­ren blieb. Er strich aus, setz­te zu, nahm eine Per­son weg, sub­sti­tu­ier­te eine an­de­re, ge­nug, er ver­fuhr mit der tolls­ten Will­kür von der Welt, dass mir die Haa­re zu Ber­ge stan­den. Mein Vor­ur­teil, dass er es doch ver­ste­hen müs­se, ließ ihn ge­wäh­ren: denn er hat­te mir schon öf­ter von den drei Ein­hei­ten des Ari­sto­te­les, von der Re­gel­mä­ßig­keit der fran­zö­si­schen Büh­ne, von der Wahr­schein­lich­keit, von der Har­mo­nie der Ver­se und al­lem, was dar­an hängt, so viel vor­er­zählt, dass ich ihn nicht nur für un­ter­rich­tet, son­dern auch für be­grün­det hal­ten muss­te. Er schalt auf die Eng­län­der und ver­ach­te­te die Deut­schen; ge­nug, er trug mir die gan­ze dra­ma­tur­gi­sche Li­ta­nei vor, die ich in mei­nem Le­ben so oft muss­te wie­der­ho­len hö­ren.

      Ich nahm, wie der Kna­be in der Fa­bel, mei­ne zer­fetz­te Ge­burt mir nach Hau­se und such­te sie wie­der her­zu­stel­len, aber ver­ge­bens. Weil ich sie je­doch nicht ganz auf­ge­ben woll­te, so ließ ich aus mei­nem ers­ten Ma­nu­skript, nach we­ni­gen Ver­än­de­run­gen, eine sau­be­re Ab­schrift durch un­sern Schrei­ben­den an­fer­ti­gen, die ich denn mei­nem Va­ter über­reich­te und da­durch so viel er­lang­te, dass er mich nach vollen­de­tem Schau­spiel mei­ne Abend­kost eine Zeit lang ru­hig ver­zeh­ren ließ.

      Die­ser miss­lun­ge­ne Ver­such hat­te mich nach­denk­lich ge­macht, und ich woll­te nun­mehr die­se Theo­ri­en, die­se Ge­set­ze, auf die sich je­der­mann be­rief und die mir be­son­ders durch die Un­art mei­nes an­maß­li­chen Meis­ters ver­däch­tig ge­wor­den wa­ren, un­mit­tel­bar an den Quel­len ken­nen ler­nen, wel­ches mir zwar nicht schwer, doch müh­sam wur­de. Ich las zu­nächst Cor­neil­les »Ab­hand­lung über die drei Ein­hei­ten« und er­sah wohl dar­aus, wie man es ha­ben woll­te; warum man es aber so ver­lang­te, ward mir kei­nes­wegs deut­lich, und was das Schlimms­te war, ich ge­riet so­gleich in noch grö­ße­re Ver­wir­rung, in­dem ich mich mit den Hän­deln über den »Cid« be­kannt mach­te und die Vor­re­den las, in wel­chen Cor­neil­le und Ra­ci­ne sich ge­gen Kri­ti­ker und Pub­li­kum zu ver­tei­di­gen ge­nö­tigt sind. Hier sah ich we­nigs­tens auf das deut­lichs­te, dass kein Mensch wuss­te, was er woll­te; dass ein Stück wie »Cid«, das die herr­lichs­te Wir­kung her­vor­ge­bracht, auf Be­fehl ei­nes all­mäch­ti­gen Kar­di­nals ab­so­lut soll­te für schlecht er­klärt wer­den; dass Ra­ci­ne, der Ab­gott der zu mei­ner Zeit le­ben­den Fran­zo­sen, der nun auch mein Ab­gott ge­wor­den war (denn ich hat­te ihn nä­her ken­nen ler­nen, als Schöff von Olen­schla­ger durch uns Kin­der den »Bri­tan­ni­cus« auf­füh­ren ließ, worin mir die Rol­le des Nero zu teil ward), dass Ra­ci­ne, sage ich, auch zu sei­ner Zeit we­der mit Lieb­ha­bern noch Kun­strich­tern fer­tig wer­den kön­nen. Durch al­les die­ses ward ich ver­worr­ner als je­mals, und nach­dem ich mich lan­ge mit die­sem Hin- und Her­re­den, mit die­ser theo­re­ti­schen Sal­ba­de­rei des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ge­quält hat­te, schüt­te­te ich das Kind mit dem Bade aus und warf den gan­zen Plun­der de­sto ent­schie­de­ner von mir, je mehr ich zu be­mer­ken glaub­te, dass die Au­to­ren selbst, wel­che vor­treff­li­che Sa­chen her­vor­brach­ten, wenn sie dar­über zu re­den an­fin­gen, wenn sie den Grund ih­res Han­delns an­ga­ben, wenn sie sich ver­tei­di­gen, ent­schul­di­gen, be­schö­ni­gen woll­ten, doch auch nicht im­mer den rech­ten Fleck zu tref­fen wuss­ten. Ich eil­te da­her wie­der zu dem le­ben­dig Vor­han­de­nen, be­such­te das Schau­spiel weit eif­ri­ger, las ge­wis­sen­haf­ter und un­un­ter­broch­ner, so­dass ich in die­ser Zeit Ra­ci­ne und Mo­liè­re ganz und von Cor­neil­le einen großen Teil durch­zu­ar­bei­ten die An­halt­sam­keit hat­te.

      Der Kö­nigs­leut­nant wohn­te noch im­mer in un­serm Hau­se. Er hat­te sein Be­tra­gen in nichts ge­än­dert, be­son­ders ge­gen uns; al­lein es war merk­lich, und der Ge­vat­ter Dol­metsch wuss­te es uns noch deut­li­cher zu ma­chen, dass er sein Amt nicht mehr mit der Hei­ter­keit, nicht mehr mit dem Ei­fer ver­wal­te­te wie an­fangs, ob­gleich im­mer mit der­sel­ben Recht­schaf­fen­heit und Treue. Sein We­sen und Be­tra­gen, das eher einen Spa­nier als einen Fran­zo­sen an­kün­dig­te, sei­ne Lau­nen, die doch mit­un­ter Ein­fluss auf ein Ge­schäft hat­ten, sei­ne Un­bieg­sam­keit ge­gen die Um­stän­de, sei­ne Reiz­bar­keit ge­gen al­les, was sei­ne Per­son oder Cha­rak­ter be­rühr­te, die­ses zu­sam­men moch­te ihn doch zu­wei­len mit sei­nen Vor­ge­setz­ten in Kon­flikt brin­gen. Hie­zu kam noch, dass er in ei­nem Duell, wel­ches sich im Schau­spiel ent­s­pon­nen hat­te, ver­wun­det wur­de und man dem Kö­nigs­leut­nant übel nahm, dass er selbst eine ver­pön­te Hand­lung als obers­ter Po­li­zei­meis­ter be­gan­gen. Al­les die­ses moch­te, wie ge­sagt, dazu bei­tra­gen, dass er in sich ge­zo­gner leb­te und hier und da viel­leicht we­ni­ger ener­gisch ver­fuhr.

      In­des­sen war nun schon eine an­sehn­li­che Par­tie der be­stell­ten Ge­mäl­de ab­ge­lie­fert. Graf Tho­ra­ne brach­te sei­ne Frei­stun­den mit der Be­trach­tung der­sel­ben zu, in­dem er sie in ge­dach­tem Gie­bel­zim­mer Bah­ne für Bah­ne, brei­ter und schmä­ler, ne­ben ein­an­der und, weil es an Platz man­gel­te, so­gar über ein­an­der na­geln, wie­der ab­neh­men und auf­rol­len ließ. Im­mer wur­den die Ar­bei­ten aufs neue un­ter­sucht, man er­freu­te sich wie­der­holt an den Stel­len, die man für die ge­lun­gens­ten hielt; aber es fehl­te auch nicht an Wün­schen, die­ses oder je­nes an­ders ge­leis­tet zu se­hen.

      Hieraus ent­sprang eine neue und ganz wun­der­sa­me Ope­ra­ti­on. Da näm­lich der eine Ma­ler Fi­gu­ren, der an­de­re die Mit­tel­grün­de und Fer­nen, der drit­te die Bäu­me, der vier­te die Blu­men am bes­ten ar­bei­te­te, so kam der Graf auf den Ge­dan­ken, ob man nicht die­se Ta­len­te in den Bil­dern ver­ei­ni­gen und auf die­sem Wege voll­kom­me­ne Wer­ke her­vor­brin­gen kön­ne. Der An­fang ward so­gleich da­mit ge­macht, dass man z. B. in eine fer­ti­ge Land­schaft noch schö­ne Her­den hin­ein­ma­len ließ. Weil nun aber nicht im­mer der ge­hö­ri­ge Platz dazu da war, es auch dem Tier­ma­ler auf ein paar Scha­fe mehr oder we­ni­ger nicht an­kam, so war end­lich die wei­tes­te Land­schaft zu enge.


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