Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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sie wer­den uns so teu­er, als es jene wa­ren, und was wir an­fangs miss­ge­ach­tet, er­wirbt sich nun­mehr uns­re Schät­zung und Nei­gung. So geht es mit al­len Ab­bil­dun­gen, be­son­ders auch mit Por­trä­ten. Nicht leicht ist je­mand mit dem Kon­ter­fei ei­nes Ge­gen­wär­ti­gen zu­frie­den, und wie er­wünscht ist uns je­der Schat­ten­riss ei­nes Ab­we­sen­den oder gar Ab­ge­schie­de­nen.

      Ge­nug, in die­sem Ge­fühl sei­ner bis­he­ri­gen Ver­schwen­dung woll­te mein Va­ter jene Kup­fer­sti­che so viel wie mög­lich wie­der her­ge­stellt wis­sen. Dass die­ses durch Blei­chen mög­lich sei, war be­kannt; und die­se bei großen Blät­tern im­mer be­denk­li­che Ope­ra­ti­on wur­de un­ter ziem­lich un­güns­ti­gen Lo­ka­lum­stän­den vor­ge­nom­men. Denn die großen Bret­ter, wor­auf die an­ge­rauch­ten Kup­fer be­feuch­tet und der Son­ne aus­ge­stellt wur­den, stan­den vor Man­sard­fens­tern in den Dach­rin­nen an das Dach ge­lehnt und wa­ren da­her man­chen Un­fäl­len aus­ge­setzt. Da­bei war die Haupt­sa­che, dass das Pa­pier nie­mals aus­trock­nen durf­te, son­dern im­mer feucht ge­hal­ten wer­den muss­te. Die­se Ob­lie­gen­heit hat­te ich und mei­ne Schwes­ter, wo­bei uns denn we­gen der Lan­gen­wei­le und Un­ge­duld, we­gen der Auf­merk­sam­keit, die uns kei­ne Zer­streu­ung zuließ, ein sonst so sehr er­wünsch­ter Mü­ßig­gang zur höchs­ten Qual ge­reich­te. Die Sa­che ward gleich­wohl durch­ge­setzt, und der Buch­bin­der, der je­des Blatt auf star­kes Pa­pier auf­zog, tat sein Bes­tes, die hier und da durch uns­re Fahr­läs­sig­keit zer­ris­se­nen Rän­der aus­zu­glei­chen und her­zu­stel­len. Die sämt­li­chen Blät­ter wur­den in einen Band zu­sam­men­ge­fasst und wa­ren für dies­mal ge­ret­tet.

      Da­mit es uns Kin­dern aber ja nicht an dem Al­ler­lei des Le­bens und Ler­nens feh­len möch­te, so muss­te sich ge­ra­de um die­se Zeit ein eng­li­scher Sprach­meis­ter mel­den, wel­cher sich an­hei­schig mach­te, in­ner­halb vier Wo­chen einen je­den, der nicht ganz roh in Spra­chen sei, die eng­li­sche zu leh­ren und ihn so weit zu brin­gen, dass er sich mit ei­ni­gem Fleiß wei­ter hel­fen kön­ne. Er nahm ein mä­ßi­ges Ho­no­rar; die An­zahl der Schü­ler in ei­ner Stun­de war ihm gleich­gül­tig. Mein Va­ter ent­schloss sich auf der Stel­le, den Ver­such zu ma­chen, und nahm mir und mei­ner Schwes­ter bei dem ex­pe­di­ten Meis­ter Lek­ti­on. Die Stun­den wur­den treu­lich ge­hal­ten, am Re­pe­tie­ren fehl­te es auch nicht: man ließ die vier Wo­chen über eher ei­ni­ge an­de­re Übun­gen lie­gen; der Leh­rer schied von uns und wir von ihm mit Zufrie­den­heit. Da er sich län­ger in der Stadt auf­hielt und vie­le Kun­den fand, so kam er von Zeit zu Zeit, nach­zu­se­hen und nach­zu­hel­fen, dank­bar, dass wir un­ter die ers­ten ge­hör­ten, wel­che Zu­trau­en zu ihm ge­habt, und stolz, uns den üb­ri­gen als Mus­ter an­füh­ren zu kön­nen.

      In Ge­folg von die­sem heg­te mein Va­ter eine neue Sorg­falt, dass auch das Eng­li­sche hübsch in der Rei­he der üb­ri­gen Sprach­be­schäf­ti­gun­gen blie­be. Nun be­ken­ne ich, dass es mir im­mer läs­ti­ger wur­de, bald aus die­ser, bald aus je­ner Gram­ma­tik oder Bei­spiel­samm­lung, bald aus die­sem oder je­nem Au­tor den An­lass zu mei­nen Ar­bei­ten zu neh­men und so mei­nen An­teil an den Ge­gen­stän­den zu­gleich mit den Stun­den zu ver­zet­teln. Ich kam da­her auf den Ge­dan­ken, al­les mit ein­mal ab­zu­tun, und er­fand einen Ro­man von sechs bis sie­ben Ge­schwis­tern, die, von­ein­an­der ent­fernt und in der Welt zer­streut, sich wech­sel­sei­tig Nach­richt von ih­ren Zu­stän­den und Emp­fin­dun­gen mit­tei­len. Der äl­tes­te Bru­der gibt in gu­tem Deutsch Be­richt von al­ler­lei Ge­gen­stän­den und Er­eig­nis­sen sei­ner Rei­se. Die Schwes­ter, in ei­nem frau­en­zim­mer­li­chen Stil, mit lau­ter Punk­ten und in kur­z­en Sät­zen, un­ge­fähr wie nach­her »Sieg­wart« ge­schrie­ben wur­de, er­wi­dert bald ihm, bald den an­de­ren Ge­schwis­tern, was sie teils von häus­li­chen Ver­hält­nis­sen, teils von Her­zens­an­ge­le­gen­hei­ten zu er­zäh­len hat. Ein Bru­der stu­diert Theo­lo­gie und schreibt ein sehr förm­li­ches La­tein, dem er manch­mal ein grie­chi­sches Post­skript hin­zu­fügt. Ei­nem fol­gen­den, in Ham­burg als Hand­lungs­die­ner an­ge­stellt, ward na­tür­lich die eng­li­sche Kor­re­spon­denz zu teil, so wie ei­nem jün­gern, der sich in Mar­seil­le auf­hielt, die fran­zö­si­sche. Zum Ita­liä­ni­schen fand sich ein Mu­si­kus auf sei­nem ers­ten Aus­flug in die Welt, und der jüngs­te, eine Art von na­se­wei­sem Nest­qua­ckel­chen, hat­te, da ihm die üb­ri­gen Spra­chen ab­ge­schnit­ten wa­ren, sich aufs Ju­den­deutsch ge­legt und brach­te durch sei­ne schreck­li­chen Chif­fern die üb­ri­gen in Verzweif­lung und die El­tern über den gu­ten Ein­fall zum La­chen.

      Für die­se wun­der­li­che Form such­te ich mir ei­ni­gen Ge­halt, in­dem ich die Geo­gra­fie der Ge­gen­den, wo mei­ne Ge­schöp­fe sich auf­hiel­ten, stu­dier­te und zu je­nen tro­ckenen Lo­ka­li­tä­ten al­ler­lei Men­sch­lich­kei­ten hin­zu er­fand, die mit dem Cha­rak­ter der Per­so­nen und ih­rer Be­schäf­ti­gung ei­ni­ge Ver­wandt­schaft hat­ten. Auf die­se Wei­se wur­den mei­ne Ex­er­zi­ti­en­bü­cher viel vo­lu­mi­nöser; der Va­ter war zu­frie­de­ner, und ich ward eher ge­wahr, was mir an ei­ge­nem Vor­rat und an Fer­tig­kei­ten ab­ging.

      Wie nun der­glei­chen Din­ge, wenn sie ein­mal im Gang sind, kein Ende und kei­ne Gren­zen ha­ben, so ging es auch hier: denn in­dem ich mir das ba­ro­cke Ju­den­deutsch zu­zu­eig­nen und es eben so gut zu schrei­ben such­te, als ich es le­sen konn­te, fand ich bald, dass mir die Kennt­nis des He­bräi­schen fehl­te, wo­von sich das mo­der­ne ver­dor­be­ne und ver­zerr­te al­lein ab­lei­ten und mit ei­ni­ger Si­cher­heit be­han­deln ließ. Ich er­öff­ne­te da­her mei­nem Va­ter die Not­wen­dig­keit, He­brä­isch zu ler­nen, und be­trieb sehr leb­haft sei­ne Ein­wil­li­gung: denn ich hat­te noch einen hö­hern Zweck. Über­all hör­te ich sa­gen, dass zum Ver­ständ­nis des Al­ten Te­sta­ments so wie des Neu­en die Grund­spra­chen nö­tig wä­ren. Das letz­te las ich ganz be­quem, weil die so­ge­nann­ten Evan­ge­li­en und Epis­teln, da­mit es ja auch Sonn­tags nicht an Übung feh­le, nach der Kir­che re­zi­tiert, über­setzt und ei­ni­ger­ma­ßen er­klärt wer­den muss­ten. Eben so dach­te ich es nun auch mit dem Al­ten Te­sta­men­te zu hal­ten, das mir we­gen sei­ner Ei­gen­tüm­lich­keit ganz be­son­ders von je­her zu­ge­sagt hat­te.

      Mein Va­ter, der nicht gern et­was halb tat, be­schloss, den Rek­tor un­se­res Gym­na­si­ums, Dok­tor Al­brecht, um Pri­vat­stun­den zu er­su­chen, die er mir wö­chent­lich so lan­ge ge­ben soll­te, bis ich von ei­ner so ein­fa­chen Spra­che das Nö­tigs­te ge­fasst hät­te; denn er hoff­te, sie wer­de, wo nicht so schnell, doch we­nigs­tens in dop­pel­ter Zeit als die eng­li­sche sich ab­tun las­sen.

      Der Rek­tor Al­brecht war eine der ori­gi­nals­ten Fi­gu­ren von der Welt, klein, nicht dick, aber breit, un­förm­lich, ohne ver­wach­sen zu sein, kurz ein Ae­sop mit Chor­rock und Perücke, sein über sieb­zig­jäh­ri­ges Ge­sicht war durch­aus zu ei­nem sar­kas­ti­schen Lä­cheln ver­zo­gen, wo­bei sei­ne Au­gen im­mer groß blie­ben und, ob­gleich rot, doch im­mer leuch­tend und geist­reich wa­ren. Er wohn­te in dem al­ten Klos­ter zu den Bar­fü­ßern, dem Sitz des Gym­na­si­ums. Ich hat­te schon als Kind, mei­ne El­tern be­glei­tend, ihn manch­mal be­sucht und die lan­gen dunklen Gän­ge, die in Vi­si­ten­zim­mer ver­wan­del­ten Ka­pel­len, das un­ter­broch­ne trep­pen- und win­kel­haf­te Lo­kal mit schau­ri­gem Be­ha­gen durch­stri­chen. Ohne mir un­be­quem zu sein, ex­ami­nier­te er mich, so oft er mich sah, und lob­te und er­mun­ter­te mich. Ei­nes Ta­ges,


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