Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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am Le­ben, Män­ner kei­nes­wegs, und manch­mal tei­len auch Frau­en, Kin­der, ja das Vieh ein sol­ches Schick­sal. Übe­reil­ter- und aber­gläu­bi­scher­wei­se wer­den, be­stimm­ter oder un­be­stimm­ter, der­glei­chen Op­fer den Göt­tern ver­spro­chen; und so kom­men die, wel­che man scho­nen möch­te, ja so­gar die nächs­ten, die ei­ge­nen Kin­der, in den Fall, als Sühnop­fer ei­nes sol­chen Wahn­sinns zu blu­ten.

      In dem sanf­ten, wahr­haft ur­vä­ter­li­chen Cha­rak­ter Abra­hams konn­te eine so bar­ba­ri­sche An­be­tungs­wei­se nicht ent­sprin­gen; aber die Göt­ter, wel­che manch­mal, um uns zu ver­su­chen, jene Ei­gen­schaf­ten her­vor­zu­keh­ren schei­nen, die der Mensch ih­nen an­zu­dich­ten ge­neigt ist, be­feh­len ihm das Un­ge­heu­re. Er soll sei­nen Sohn op­fern, als Pfand des Neu­en Bun­des, und, wenn es nach dem Her­ge­brach­ten geht, ihn nicht etwa nur schlach­ten und ver­bren­nen, son­dern ihn in zwei Stücke tei­len und zwi­schen sei­nen rau­chen­den Ein­ge­wei­den sich von den gü­ti­gen Göt­tern eine neue Ver­hei­ßung er­war­ten. Ohne Zau­dern und blind­lings schickt Abra­ham sich an, den Be­fehl zu voll­zie­hen: den Göt­tern ist der Wil­le hin­rei­chend. Nun sind Abra­hams Prü­fun­gen vor­über: denn wei­ter konn­ten sie nicht ge­stei­gert wer­den. Aber Sara stirbt, und dies gibt Ge­le­gen­heit, dass Abra­ham von dem Lan­de Kanaan vor­bild­lich Be­sitz nimmt. Er be­darf ei­nes Gra­bes, und dies ist das ers­te Mal, dass er sich nach ei­nem Ei­gen­tum auf die­ser Erde um­sieht. Eine zwei­fa­che Höh­le ge­gen dem Hain Mam­re mag er sich schon frü­her aus­ge­sucht ha­ben. Die­se kauft er mit dem dar­an sto­ßen­den Acker, und die Form Rech­tens, die er da­bei be­ob­ach­tet, zeigt, wie wich­tig ihm die­ser Be­sitz ist. Er war es auch, mehr als er sich viel­leicht selbst den­ken konn­te: denn er, sei­ne Söh­ne und En­kel soll­ten da­selbst ru­hen und der nächs­te An­spruch auf das gan­ze Land, so wie die im­mer­wäh­ren­de Nei­gung sei­ner Nach­kom­men­schaft, sich hier zu ver­sam­meln, da­durch am ei­gent­lichs­ten be­grün­det wer­den.

      Von nun an ge­hen die man­nig­fal­ti­gen Fa­mi­li­ens­ze­nen ab­wech­selnd vor sich. Noch im­mer hält sich Abra­ham streng ab­ge­son­dert von den Ein­woh­nern, und wenn Is­ma­el, der Sohn ei­ner Ägyp­te­rin, auch eine Toch­ter die­ses Lan­des ge­hei­ra­tet hat, so soll nun Isaak sich mit ei­ner Bluts­freun­din, ei­ner Eben­bür­ti­gen, ver­mäh­len.

      Abra­ham sen­det sei­nen Knecht nach Me­so­po­ta­mi­en zu den Ver­wand­ten, die er dort zu­rück­ge­las­sen. Der klu­ge Elea­sar kommt un­er­kannt an, und um die rech­te Braut nach Hau­se zu brin­gen, prüft er die Dienst­fer­tig­keit der Mäd­chen am Brun­nen. Er ver­langt zu trin­ken für sich, und un­ge­be­ten tränkt Re­bek­ka auch sei­ne Ka­me­le. Er be­schenkt sie, er frei­et um sie, die ihm nicht ver­sagt wird. So führt er sie in das Haus sei­nes Herrn, und sie wird Isaak an­ge­traut. Auch hier muss die Nach­kom­men­schaft lan­ge Zeit er­war­tet wer­den. Erst nach ei­ni­gen Prü­fungs­jah­ren wird Re­bek­ka ge­seg­net, und der­sel­be Zwie­spalt, der in Abra­hams Dop­pel­ehe von zwei Müt­tern ent­stand, ent­springt hier von ei­ner. Zwei Kna­ben von ent­ge­gen­ge­setz­tem Sin­ne bal­gen sich schon un­ter dem Her­zen der Mut­ter. Sie tre­ten ans Licht: der äl­te­re leb­haft und mäch­tig, der jün­ge­re zart und klug; je­ner wird des Va­ters, die­ser der Mut­ter Lieb­ling. Der Streit um den Vor­rang, der schon bei der Ge­burt be­ginnt, setzt sich im­mer fort. Esau ist ru­hig und gleich­gül­tig über die Erst­ge­burt, die ihm das Schick­sal zu­ge­teilt; Ja­kob ver­gisst nicht, dass ihn sein Bru­der zu­rück­ge­drängt. Auf­merk­sam auf jede Ge­le­gen­heit, den er­wünsch­ten Vor­teil zu ge­win­nen, han­delt er sei­nem Bru­der das Recht der Erst­ge­burt ab und be­vor­teilt ihn um des Va­ters Se­gen. Esau er­grimmt und schwört dem Bru­der den Tod, Ja­kob ent­flieht, um in dem Lan­de sei­ner Vor­fah­ren sein Glück zu ver­su­chen.

      Nun, zum ers­ten Mal in ei­ner so ed­len Fa­mi­lie, er­scheint ein Glied, das kein Be­den­ken trägt, durch Klug­heit und List die Vor­tei­le zu er­lan­gen, wel­che Na­tur und Zu­stän­de ihm ver­sag­ten. Es ist oft ge­nug be­merkt und aus­ge­spro­chen wor­den, dass die hei­li­gen Schrif­ten uns jene Erz­vä­ter und an­de­re von Gott be­güns­tig­te Män­ner kei­nes­wegs als Tu­gend­bil­der auf­stel­len wol­len. Auch sie sind Men­schen von den ver­schie­dens­ten Cha­rak­tern, mit man­cher­lei Män­geln und Ge­bre­chen; aber eine Haup­tei­gen­schaft darf sol­chen Män­nern nach dem Her­zen Got­tes nicht feh­len: es ist der un­er­schüt­ter­li­che Glau­be, dass Gott sich ih­rer und der Ih­ri­gen be­son­ders an­neh­me.

      Die all­ge­mei­ne, die na­tür­li­che Re­li­gi­on be­darf ei­gent­lich kei­nes Glau­bens: denn die Über­zeu­gung, dass ein großes, her­vor­brin­gen­des, ord­nen­des und lei­ten­des We­sen sich gleich­sam hin­ter der Na­tur ver­ber­ge, um sich uns fass­lich zu ma­chen, eine sol­che Über­zeu­gung dringt sich ei­nem je­den auf; ja wenn er auch den Fa­den der­sel­ben, der ihn durchs Le­ben führt, manch­mal fah­ren lie­ße, so wird er ihn doch gleich und über­all wie­der auf­neh­men kön­nen. Ganz an­ders ver­hält sich’s mit der be­son­dern Re­li­gi­on, die uns ver­kün­digt, dass je­nes große We­sen sich ei­nes ein­zel­nen, ei­nes Stam­mes, ei­nes Vol­kes, ei­ner Land­schaft ent­schie­den und vor­züg­lich an­neh­me. Die­se Re­li­gi­on ist auf den Glau­ben ge­grün­det, der un­er­schüt­ter­lich sein muss, wenn er nicht so­gleich von Grund aus zer­stört wer­den soll. Je­der Zwei­fel ge­gen eine sol­che Re­li­gi­on ist ihr töd­lich. Zur Über­zeu­gung kann man zu­rück­keh­ren, aber nicht zum Glau­ben. Da­her die un­end­li­chen Prü­fun­gen, das Zau­dern der Er­fül­lung so wie­der­hol­ter Ver­hei­ßun­gen, wo­durch die Glau­bens­fä­hig­keit je­ner Ahn­her­ren ins hells­te Licht ge­setzt wird.

      Auch in die­sem Glau­ben tritt Ja­kob sei­nen Zug an, und wenn er durch List und Be­trug un­se­re Nei­gung nicht er­wor­ben hat, so ge­winnt er sie durch die dau­ern­de und un­ver­brüch­li­che Lie­be zu Ra­hel, um die er selbst aus dem Steg­rei­fe wirbt, wie Elea­sar für sei­nen Va­ter um Re­bek­ka ge­wor­ben hat­te. In ihm soll­te sich die Ver­hei­ßung ei­nes un­er­mess­li­chen Vol­kes zu­erst voll­kom­men ent­fal­ten: er soll­te vie­le Söh­ne um sich se­hen, aber auch durch sie und ihre Müt­ter man­ches Her­ze­leid er­le­ben.


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