Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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noch ge­bes­sert, nur wen­de­ten sich ei­ni­ge zu dem Lands­mann, wor­un­ter ich auch ge­hör­te. Al­lein ich hat­te schon zu viel von dem ers­ten Meis­ter an­ge­nom­men, da­her eine ziem­li­che Zeit dar­über hin­ging, bis der neue mir es wie­der ab­ge­wöh­nen konn­te, der über­haupt mit uns Re­ne­ga­ten we­ni­ger als mit sei­nen Ur­schü­lern zu­frie­den war.

      Mit dem Rei­ten ging es mir noch schlim­mer. Zu­fäl­li­ger­wei­se schick­te man mich im Herbst auf die Bahn, so­dass ich in der küh­len und feuch­ten Jah­res­zeit mei­nen An­fang mach­te. Die pe­dan­ti­sche Be­hand­lung die­ser schö­nen Kunst war mir höch­lich zu­wi­der. Zum ers­ten und letz­ten war im­mer vom Schlie­ßen die Rede, und es konn­te ei­nem doch nie­mand sa­gen, worin denn ei­gent­lich der Schluss be­ste­he, wor­auf doch al­les an­kom­men sol­le: denn man fuhr ohne Steig­bü­gel auf dem Pfer­de hin und her. Üb­ri­gens schi­en der Un­ter­richt nur auf Prel­le­rei und Be­schä­mung der Schol­a­ren an­ge­legt. Ver­gaß man die Kinn­ket­te ein- oder aus­zu­hän­gen, ließ man die Ger­te fal­len oder wohl gar den Hut, je­des Ver­säum­nis, je­des Un­glück muss­te mit Geld ge­büßt wer­den, und man ward noch oben­ein aus­ge­lacht. Dies gab mir den al­ler­schlimms­ten Hu­mor, be­son­ders da ich den Übungs­ort selbst ganz un­er­träg­lich fand. Der gars­ti­ge, große, ent­we­der feuch­te oder stau­bi­ge Raum, die Käl­te, der Mo­der­ge­ruch, al­les zu­sam­men war mir im höchs­ten Gra­de zu­wi­der; und da der Stall­meis­ter den an­de­ren, weil sie ihn viel­leicht durch Früh­stücke und sons­ti­ge Ga­ben, viel­leicht auch durch ihre Ge­schick­lich­keit be­sta­chen, im­mer die bes­ten Pfer­de, mir aber die schlech­tes­ten zu rei­ten gab, mich auch wohl war­ten ließ und mich, wie es schi­en, hint­an­setz­te, so brach­te ich die al­ler­ver­drieß­lichs­ten Stun­den über ei­nem Ge­schäft hin, das ei­gent­lich das lus­tigs­te von der Welt sein soll­te. Ja der Ein­druck von je­ner Zeit, von je­nen Zu­stän­den ist mir so leb­haft ge­blie­ben, dass, ob ich gleich nach­her lei­den­schaft­lich und ver­we­gen zu rei­ten ge­wohnt war, auch tage- und wo­chen­lang kaum vom Pfer­de kam, dass ich be­deck­te Reit­bah­nen sorg­fäl­tig ver­mied und höchs­tens nur we­nig Au­gen­bli­cke dar­in ver­weil­te. Es kommt üb­ri­gens der Fall oft ge­nug vor, dass, wenn die An­fän­ge ei­ner ab­ge­schlos­se­nen Kunst uns über­lie­fert wer­den sol­len, die­ses auf eine pein­li­che und ab­schre­cken­de Art ge­schieht. Die Über­zeu­gung, wie läs­tig und schäd­lich die­ses sei, hat in spä­tern Zei­ten die Er­zie­hungs­ma­xi­me auf­ge­stellt, dass al­les der Ju­gend auf eine leich­te, lus­ti­ge und be­que­me Art bei­ge­bracht wer­den müs­se; wor­aus denn aber auch wie­der an­de­re Übel und Nach­tei­le ent­sprun­gen sind.

      Mit der An­nä­he­rung des Früh­lings ward es bei uns auch wie­der ru­hi­ger, und wenn ich mir frü­her das An­schau­en der Stadt, ih­rer geist­li­chen und welt­li­chen, öf­fent­li­chen und Pri­vat-Ge­bäu­de zu ver­schaf­fen such­te und be­son­ders an dem da­mals noch vor­herr­schen­den Al­ter­tüm­li­chen das größ­te Ver­gnü­gen fand, so war ich nach­her be­müht, durch die Ler­s­ner­sche Chro­nik und durch an­de­re un­ter mei­nes Va­ters Fran­ko­fur­ten­si­en be­find­li­che Bü­cher und Hef­te die Per­so­nen ver­gang­ner Zei­ten mir zu ver­ge­gen­wär­ti­gen; wel­ches mir denn auch durch große Auf­merk­sam­keit auf das Be­son­de­re der Zei­ten und Sit­ten und be­deu­ten­der In­di­vi­dua­li­tä­ten ganz gut zu ge­lin­gen schi­en.

      Un­ter den al­ter­tüm­li­chen Res­ten war mir, von Kind­heit an, der auf dem Brück­en­turm auf­ge­steck­te Schä­del ei­nes Staats­ver­bre­chers merk­wür­dig ge­we­sen, der von drei­en oder vie­ren, wie die lee­ren ei­ser­nen Spit­zen aus­wie­sen, seit 1616 sich durch alle Un­bil­den der Zeit und Wit­te­rung er­hal­ten hat­te. So oft man von Sa­chen­hau­sen nach Frank­furt zu­rück­kehr­te, hat­te man den Turm vor sich, und der Schä­del fiel ins Auge. Ich ließ mir als Kna­be schon gern die Ge­schich­te die­ser Auf­rüh­rer, des Fett­milch und sei­ner Ge­nos­sen, er­zäh­len, wie sie mit dem Stadt­re­gi­ment un­zu­frie­den ge­we­sen, sich ge­gen das­sel­be em­pört, Meu­te­rei an­ge­spon­nen, die Ju­den­stadt ge­plün­dert und gräss­li­che Hän­del er­regt, zu­letzt aber ge­fan­gen und von kai­ser­li­chen Ab­ge­ord­ne­ten zum Tode ver­ur­teilt wor­den. Spä­ter­hin lag mir dar­an, die nä­hern Um­stän­de zu er­fah­ren und, was es denn für Leu­te ge­we­sen, zu ver­neh­men. Als ich nun aus ei­nem al­ten, gleich­zei­ti­gen, mit Holz­schnit­ten ver­se­he­nen Bu­che er­fuhr, dass zwar die­se Men­schen zum Tode ver­ur­teilt, aber zu­gleich auch vie­le Rats­herrn ab­ge­setzt wor­den, weil man­cher­lei Un­ord­nung und sehr viel Un­ver­ant­wort­li­ches im Schwan­ge ge­we­sen; da ich nun die nä­hern Um­stän­de ver­nahm, wie al­les her­ge­gan­gen: so be­dau­er­te ich die un­glück­li­chen Men­schen, wel­che man wohl als Op­fer, die ei­ner künf­ti­gen bes­sern Ver­fas­sung ge­bracht wor­den, an­se­hen dür­fe; denn von je­ner Zeit schrieb sich die Ein­rich­tung her, nach wel­cher so­wohl das al­tad­li­ge Haus Lim­purg, das aus ei­nem Klub ent­sprun­ge­ne Haus Frau­en­stein, fer­ner Ju­ris­ten, Kauf­leu­te und Hand­wer­ker an ei­nem Re­gi­men­te teil­neh­men soll­ten, das, durch eine auf ve­ne­zia­ni­sche Wei­se ver­wi­ckel­te Bal­lo­ta­ge er­gänzt, von bür­ger­li­chen Kol­le­gi­en ein­ge­schränkt, das Rech­te zu tun be­ru­fen war, ohne zu dem Un­rech­ten son­der­li­che Frei­heit zu be­hal­ten.

      Zu den ahn­dungs­vol­len Din­gen, die den Kna­ben und auch wohl den Jüng­ling be­dräng­ten, ge­hör­te be­son­ders der Zu­stand der Ju­den­stadt, ei­gent­lich die Ju­den­gas­se ge­nannt, weil sie kaum aus et­was mehr als ei­ner ein­zi­gen Stra­ße be­steht, wel­che in frü­hen Zei­ten zwi­schen Stadt­mau­er und Gra­ben wie in einen Zwin­ger moch­te ein­ge­klemmt wor­den sein. Die Enge, der Schmutz, das Ge­wim­mel, der Ak­zent ei­ner un­er­freu­li­chen Spra­che, al­les zu­sam­men mach­te den un­an­ge­nehms­ten Ein­druck, wenn man auch nur am Tore vor­bei­ge­hend hin­einsah. Es dau­er­te lan­ge, bis ich al­lein mich hin­ein­wag­te, und ich kehr­te nicht leicht wie­der da­hin zu­rück, wenn ich ein­mal den Zu­dring­lich­kei­ten so vie­ler, et­was zu scha­chern un­er­mü­det for­dern­der oder an­bie­ten­der Men­schen ent­gan­gen war. Da­bei schweb­ten die al­ten Mär­chen von Grau­sam­keit der Ju­den ge­gen die Chris­ten­kin­der, die wir in Gott­frieds »Chro­nik« gräss­lich ab­ge­bil­det ge­se­hen, düs­ter vor dem jun­gen Ge­müt. Und ob man gleich in der neu­ern Zeit bes­ser von ih­nen dach­te, so zeug­te doch das große Spott- und Schand­ge­mäl­de, wel­ches un­ter dem Brück­en­turm an ei­ner Bo­gen­wand, zu ih­rem Un­glimpf, noch ziem­lich zu se­hen war, au­ßer­or­dent­lich ge­gen sie: denn es war nicht etwa durch einen Pri­vat­mut­wil­len, son­dern aus öf­fent­li­cher An­stalt ver­fer­tigt wor­den.

      In­des­sen blie­ben sie doch das aus­er­wähl­te Volk Got­tes und gin­gen, wie es nun moch­te ge­kom­men sein, zum An­den­ken der äl­tes­ten Zei­ten um­her. Au­ßer­dem wa­ren sie ja auch Men­schen, tä­tig, ge­fäl­lig, und selbst dem Ei­gen­sinn, wo­mit sie an ih­ren Ge­bräu­chen hin­gen, konn­te man sei­ne Ach­tung nicht ver­sa­gen. Über­dies wa­ren die Mäd­chen hübsch und moch­ten es wohl lei­den, wenn ein Chris­ten­kna­be, ih­nen am Sab­bat auf dem Fi­scher­fel­de be­geg­nend, sich freund­lich und auf­merk­sam be­wies. Äu­ßerst neu­gie­rig war ich da­her, ihre Ze­re­mo­ni­en ken­nen zu ler­nen. Ich ließ nicht ab, bis ich ihre Schu­le öf­ters be­sucht, ei­ner Be­schnei­dung, ei­ner Hoch­zeit bei­ge­wohnt und von dem Lau­ber­hüt­ten­fest mir ein Bild ge­macht hat­te. Über­all war ich wohl auf­ge­nom­men, gut be­wir­tet und zur Wie­der­kehr


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