Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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große Freu­de hat­te und durch sei­nen Bei­fall mich zur Wie­der­ho­lung auf­reg­te.

      Ich hat­te von Kind­heit auf die wun­der­li­che Ge­wohn­heit, im­mer die An­fän­ge der Bü­cher und Ab­tei­lun­gen ei­nes Werks aus­wen­dig zu ler­nen, zu­erst der fünf Bü­cher Mo­sis, so­dann der »Ae­nei­de« und der »Me­ta­mor­pho­sen«. So mach­te ich es nun auch mit der gol­de­nen Bul­le und reiz­te mei­nen Gön­ner oft zum Lä­cheln, wenn ich ganz ernst­haft un­ver­se­hens aus­rief: Om­ne reg­num in se di­vi­sum de­so­la­bi­tur: nam prin­ci­pes ejus fac­ti sunt so­cii fu­rum. Der klu­ge Mann schüt­tel­te lä­chelnd den Kopf und sag­te be­denk­lich: »Was müs­sen das für Zei­ten ge­we­sen sein, in wel­chen der Kai­ser auf ei­ner großen Reichs­ver­samm­lung sei­nen Fürs­ten der­glei­chen Wor­te ins Ge­sicht pu­bli­zie­ren ließ.«

      Von Olen­schla­ger hat­te viel An­mut im Um­gang. Man sah we­nig Ge­sell­schaft bei ihm, aber zu ei­ner geist­rei­chen Un­ter­hal­tung war er sehr ge­neigt, und er ver­an­lass­te uns jun­ge Leu­te, von Zeit zu Zeit ein Schau­spiel auf­zu­füh­ren: denn man hielt da­für, dass eine sol­che Übung der Ju­gend be­son­ders nütz­lich sei. Wir ga­ben den »Ka­nut« von Schle­gel, worin mir die Rol­le des Kö­nigs, mei­ner Schwes­ter die Estri­the, und Alfo dem jün­gern Sohn des Hau­ses zu­ge­teilt wur­de. So­dann wag­ten wir uns an den »Bri­tan­ni­cus«, denn wir soll­ten nebst dem Schau­spie­ler­ta­lent auch die Spra­che zur Übung brin­gen. Ich er­hielt den Nero, mei­ne Schwes­ter die Agrip­pi­ne und der jün­ge­re Sohn den Bri­tan­ni­cus. Wir wur­den mehr ge­lobt, als wir ver­dien­ten, und glaub­ten es noch bes­ser ge­macht zu ha­ben, als wie wir ge­lobt wur­den. So stand ich mit die­ser Fa­mi­lie in dem bes­ten Ver­hält­nis und bin ihr man­ches Ver­gnü­gen und eine schnel­le­re Ent­wick­lung schul­dig ge­wor­den.

      Von Rei­neck, aus ei­nem al­tad­li­gen Hau­se, tüch­tig, recht­schaf­fen, aber starr­sin­nig, ein ha­g­rer, schwarz­brau­ner Mann, den ich nie­mals lä­cheln ge­se­hen. Ihm be­geg­ne­te das Un­glück, dass sei­ne ein­zi­ge Toch­ter durch einen Haus­freund ent­führt wur­de. Er ver­folg­te sei­nen Schwie­ger­sohn mit dem hef­tigs­ten Pro­zess, und weil die Ge­rich­te, in ih­rer Förm­lich­keit, sei­ner Rach­sucht we­der schnell noch stark ge­nug will­fah­ren woll­ten, über­warf er sich mit die­sen, und es ent­stan­den Hän­del aus Hän­deln, Pro­zes­se aus Pro­zes­sen. Er zog sich ganz in sein Haus und einen dar­an­sto­ßen­den Gar­ten zu­rück, leb­te in ei­ner weit­läu­fi­gen, aber trau­ri­gen Un­ter­stu­be, in die seit vie­len Jah­ren kein Pin­sel ei­nes Tün­chers, viel­leicht kaum der Kehr­be­sen ei­ner Magd ge­kom­men war. Mich konn­te er gar gern lei­den und hat­te mir sei­nen jün­gern Sohn be­son­ders emp­foh­len. Sei­ne äl­tes­ten Freun­de, die sich nach ihm zu rich­ten wuss­ten, sei­ne Ge­schäfts­leu­te, sei­ne Sach­wal­ter sah er manch­mal bei Ti­sche und un­ter­ließ dann nie­mals, auch mich ein­zu­la­den. Man aß sehr gut bei ihm und trank noch bes­ser. Den Gäs­ten er­reg­te je­doch ein großer, aus vie­len Rit­zen rau­chen­der Ofen die ärgs­te Pein. Ei­ner der ver­trau­tes­ten wag­te ein­mal, dies zu be­mer­ken, in­dem er den Haus­herrn frag­te: ob er denn so eine Un­be­quem­lich­keit den gan­zen Win­ter aus­hal­ten kön­ne. Er ant­wor­te­te dar­auf, als ein zwei­ter Ti­mon und He­au­ton­ti­moru­me­nos: »Woll­te Gott, dies wäre das größ­te Übel von de­nen, die mich pla­gen!« Nur spät ließ er sich be­re­den, Toch­ter und En­kel wie­der­zu­se­hen. Der Schwie­ger­sohn durf­te ihm nicht wie­der vor Au­gen.

      Auf die­sen so bra­ven als un­glück­li­chen Mann wirk­te mei­ne Ge­gen­wart sehr güns­tig: denn in­dem er sich gern mit mir un­ter­hielt und mich be­son­ders von Welt- und Staats­ver­hält­nis­sen be­lehr­te, schi­en er selbst sich er­leich­tert und er­hei­tert zu füh­len. Die we­ni­gen al­ten Freun­de, die sich noch um ihn ver­sam­mel­ten, ge­brauch­ten mich da­her oft, wenn sie sei­nen ver­drieß­li­chen Sinn zu mil­dern und ihn zu ir­gend ei­ner Zer­streu­ung zu be­re­den wünsch­ten. Wirk­lich fuhr er nun­mehr manch­mal mit uns aus und be­sah sich die Ge­gend wie­der, auf die er so vie­le Jah­re kei­nen Blick ge­wor­fen hat­te. Er ge­dach­te der al­ten Be­sit­zer, er­zähl­te von ih­ren Cha­rak­teren und Be­ge­ben­hei­ten, wo er sich denn im­mer streng, aber doch öf­ters hei­ter und geist­reich er­wies. Wir such­ten ihn nun auch wie­der un­ter an­de­re Men­schen zu brin­gen, wel­ches uns aber bei­nah übel ge­ra­ten wäre.

      Von glei­chem, wenn nicht noch von hö­he­rem Al­ter als er war ein Herr von Mala­part, ein rei­cher Mann, der ein sehr schö­nes Haus am Ross­markt be­saß und gute Ein­künf­te von Sa­li­nen zog. Auch er leb­te sehr ab­ge­son­dert; doch war er Som­mers viel in sei­nem Gar­ten vor dem Bo­cken­hei­mer Tore, wo er einen sehr schö­nen Nel­ken­flor war­te­te und pfleg­te.

      Von Rei­neck war auch ein Nel­ken­freund; die Zeit des Flors war da, und es ge­sch­a­hen ei­ni­ge An­re­gun­gen, ob man sich nicht wech­sel­sei­tig be­su­chen woll­te. Wir lei­te­ten die Sa­che ein und trie­ben es so lan­ge, bis end­lich von Rei­neck sich ent­schloss, mit uns einen Sonn­tag Nach­mit­tag hin­aus zu fah­ren. Die Be­grü­ßung der bei­den al­ten Her­ren war sehr la­ko­nisch, ja bloß pan­to­mi­misch, und man ging mit wahr­haft di­plo­ma­ti­schem Schritt an den lan­gen Nel­ken­ge­rüs­ten hin und her. Der Flor war wirk­lich au­ßer­or­dent­lich schön, und die be­son­dern For­men und Far­ben der ver­schie­de­nen Blu­men, die Vor­zü­ge der einen vor der an­de­ren und ihre Sel­ten­heit mach­ten denn doch zu­letzt eine Art von Ge­spräch aus, wel­ches ganz freund­lich zu wer­den schi­en; wor­über wir an­de­ren uns umso mehr freu­ten, als wir in ei­ner be­nach­bar­ten Lau­be den kost­bars­ten al­ten Rhein­wein in ge­schlif­fe­nen Fla­schen, schö­nes Obst und an­de­re gute Din­ge auf­ge­tischt sa­hen. Lei­der aber soll­ten wir sie nicht ge­nie­ßen. Denn un­glück­li­cher­wei­se sah von Rei­neck eine sehr schö­ne Nel­ke vor sich, die aber den Kopf et­was nie­der­senk­te; er griff da­her sehr zier­lich mit dem Zei­ge- und Mit­tel­fin­ger vom Sten­gel her­auf ge­gen den Kelch und hob die Blu­me von hin­ten in die Höhe, so­dass er sie wohl be­trach­ten konn­te. Aber auch die­se zar­te Berüh­rung ver­dross den Be­sit­zer: von Mala­part er­in­ner­te, zwar höf­lich, aber doch steif ge­nug und eher et­was selbst­ge­fäl­lig an das o­cu­lis, non ma­ni­bus. Von Rei­neck hat­te die Blu­me schon los­ge­las­sen, fing aber auf je­nes Wort gleich Feu­er und sag­te mit sei­ner ge­wöhn­li­chen Tro­cken­heit und Ernst: es sei ei­nem Ken­ner und Lieb­ha­ber wohl ge­mäß, eine Blu­me auf die Wei­se zu be­rüh­ren und zu be­trach­ten; wor­auf er denn je­nen Gest wie­der­hol­te und sie noch ein­mal zwi­schen die Fin­ger nahm. Die bei­der­sei­ti­gen Haus­freun­de – denn auch von Mala­part hat­te einen bei sich – wa­ren nun in der größ­ten Ver­le­gen­heit. Sie lie­ßen einen Ha­sen nach dem an­de­ren lau­fen (dies war uns­re sprüchwört­li­che Re­dens­art, wenn ein Ge­spräch soll­te un­ter­bro­chen und auf einen an­de­ren Ge­gen­stand ge­lenkt wer­den); al­lein es woll­te nichts ver­fan­gen: die al­ten Her­ren wa­ren ganz stumm ge­wor­den, und wir fürch­te­ten je­den Au­gen­blick, von Rei­neck möch­te je­nen Akt wie­der­ho­len; da wäre es denn um uns alle ge­schehn ge­we­sen. Die bei­den Haus­freun­de hiel­ten ihre Her­ren aus ein­an­der, in­dem sie sel­bi­ge bald da bald dort be­schäf­tig­ten, und das klügs­te war, dass wir end­lich auf­zu­bre­chen An­stalt mach­ten; und so muss­ten wir lei­der den rei­zen­den Kre­denz­tisch un­ge­nos­sen mit dem Rücken an­se­hen.

      Ho­frat Hüs­gen, nicht von Frank­furt ge­bür­tig, re­for­mier­ter Re­li­gi­on und des­we­gen kei­ner öf­fent­li­chen


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