Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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An­se­hen, wel­cher von sei­ner Ge­mein­de, ja von der gan­zen Stadt als ein ex­em­pla­ri­scher Geist­li­cher und gu­ter Kan­zel­red­ner ver­ehrt ward, der aber, weil er ge­gen die Herrn­hu­ter auf­ge­tre­ten, bei den ab­ge­son­der­ten From­men nicht im bes­ten Ruf stand, vor der Men­ge hin­ge­gen sich durch die Be­keh­rung ei­nes bis zum Tode bles­sier­ten frei­geis­ti­schen Ge­ne­rals be­rühmt und gleich­sam hei­lig ge­macht hat­te, die­ser starb, und sein Nach­fol­ger Plitt, ein großer, schö­ner, wür­di­ger Mann, der je­doch vom Ka­the­der (er war Pro­fes­sor in Mar­burg ge­we­sen) mehr die Gabe zu leh­ren als zu er­bau­en mit­ge­bracht hat­te, kün­dig­te so­gleich eine Art von Re­li­gi­ons­kur­sus an, dem er sei­ne Pre­dig­ten in ei­nem ge­wis­sen me­tho­di­schen Zu­sam­men­hang wid­men wol­le. Schon frü­her, da ich doch ein­mal in die Kir­che ge­hen muss­te, hat­te ich mir die Ein­tei­lung ge­merkt und konn­te dann und wann mit ziem­lich voll­stän­di­ger Re­ci­ta­ti­on ei­ner Pre­digt groß­tun. Da nun über den neu­en Se­ni­or man­ches für und wi­der in der Ge­mei­ne ge­spro­chen wur­de und vie­le kein son­der­li­ches Zu­trau­en in sei­ne an­ge­kün­dig­ten di­dak­ti­schen Pre­dig­ten set­zen woll­ten, so nahm ich mir vor, sorg­fäl­ti­ger nach­zu­schrei­ben, wel­ches mir umso eher ge­lang, als ich auf ei­nem zum Hö­ren sehr be­que­men, üb­ri­gens aber ver­bor­ge­nen Sitz schon ge­rin­ge­re Ver­su­che ge­macht hat­te. Ich war höchst auf­merk­sam und be­händ; in dem Au­gen­blick, dass er Amen sag­te, eil­te ich aus der Kir­che und wen­de­te ein paar Stun­den dar­an, das, was ich auf dem Pa­pier und im Ge­dächt­nis fi­xiert hat­te, ei­lig zu dik­tie­ren, so­dass ich die ge­schrie­be­ne Pre­digt noch vor Ti­sche über­rei­chen konn­te. Mein Va­ter war sehr glo­ri­os über die­ses Ge­lin­gen, und der gute Haus­freund, der eben zu Ti­sche kam, muss­te die Freu­de tei­len. Die­ser war mir oh­ne­hin höchst güns­tig, weil ich mir sei­nen »Mes­si­as« so zu ei­gen ge­macht hat­te, dass ich ihm (bei mei­nen öf­tern Be­su­chen, um Sie­ge­l­ab­drücke für mei­ne Wap­pen­samm­lung zu ho­len) große Stel­len da­von vor­tra­gen konn­te, so­dass ihm die Trä­nen in den Au­gen stan­den.

      Den nächs­ten Sonn­tag setz­te ich die Ar­beit mit glei­chem Ei­fer fort, und weil mich der Mecha­nis­mus der­sel­ben so­gar un­ter­hielt, so dach­te ich nicht nach über das, was ich schrieb und auf­be­wahr­te. Das ers­te Vier­tel­jahr moch­ten sich die­se Be­mü­hun­gen ziem­lich gleich blei­ben; als ich aber zu­letzt, nach mei­nem Dün­kel, we­der be­son­de­re Auf­klä­rung über die Bi­bel selbst noch eine freie­re An­sicht des Dog­mas zu fin­den glaub­te, so schi­en mir die klei­ne Ei­tel­keit, die da­bei be­frie­digt wur­de, zu teu­er er­kauft, als dass ich mit glei­chem Ei­fer das Ge­schäft hät­te fort­set­zen sol­len. Die erst so blät­ter­rei­chen Kan­zel­re­den wur­den im­mer ma­ge­rer, und ich hät­te zu­letzt die­se Be­mü­hung ganz ab­ge­bro­chen, wenn nicht mein Va­ter, der ein Freund der Voll­stän­dig­keit war, mich durch gute Wor­te und Ver­spre­chun­gen da­hin ge­bracht, dass ich bis auf den letz­ten Sonn­tag Tri­ni­ta­tis aus­hielt, ob­gleich am Schlus­se kaum et­was mehr als der Text, die Pro­po­si­ti­on und die Ein­tei­lung auf klei­ne Blät­ter ver­zeich­net wur­den.

      Was das Voll­brin­gen be­trifft, dar­in hat­te mein Va­ter eine be­son­de­re Hart­nä­ckig­keit. Was ein­mal un­ter­nom­men ward, soll­te aus­ge­führt wer­den, und wenn auch in­zwi­schen das Un­be­que­me, Lang­wei­li­ge, Ver­drieß­li­che, ja Un­nüt­ze des Be­gon­ne­nen sich deut­lich of­fen­bar­te. Es schi­en, als wenn ihm das Voll­brin­gen der ein­zi­ge Zweck, das Be­har­ren die ein­zi­ge Tu­gend deuch­te. Hat­ten wir in lan­gen Win­ter­aben­den im Fa­mi­li­en­krei­se ein Buch an­ge­fan­gen vor­zu­le­sen, so muss­ten wir es auch durch­brin­gen, wenn wir gleich sämt­lich da­bei ver­zwei­fel­ten und er mit­un­ter selbst der ers­te war, der zu gäh­nen an­fing. Ich er­in­ne­re mich noch ei­nes sol­chen Win­ters, wo wir Bo­wers »Ge­schich­te der Päps­te« so durch­zu­ar­bei­ten hat­ten. Es war ein fürch­ter­li­cher Zu­stand, in­dem we­nig oder nichts, was in je­nen kirch­li­chen Ver­hält­nis­sen vor­kommt, Kin­der und jun­ge Leu­te an­spre­chen kann. In­des­sen ist mir bei al­ler Unacht­sam­keit und al­lem Wi­der­wil­len doch von je­ner Vor­le­sung so viel ge­blie­ben, dass ich in spä­te­ren Zei­ten man­ches dar­an zu knüp­fen im stan­de war.

      Nicht al­lein durch die krie­ge­ri­schen Zu­stän­de, in de­nen wir uns seit ei­ni­gen Jah­ren be­fan­den, son­dern auch durch das bür­ger­li­che Le­ben selbst, durch Le­sen von Ge­schich­ten und Ro­ma­nen, war es uns nur all­zu deut­lich, dass es sehr vie­le Fäl­le gebe, in wel­chen die Ge­set­ze schwei­gen und dem ein­zel­nen nicht zu Hil­fe kom­men, der dann se­hen mag, wie er sich aus der Sa­che zieht. Wir wa­ren nun her­an­ge­wach­sen, und dem Schlen­dria­ne nach soll­ten wir auch ne­ben an­de­ren Din­gen fech­ten und rei­ten ler­nen, um uns ge­le­gent­lich un­se­rer Haut zu weh­ren und zu Pfer­de kein schü­ler­haf­tes An­sehn zu ha­ben. Was den ers­ten Punkt be­trifft, so war uns eine sol­che Übung sehr an­ge­nehm: denn wir hat­ten uns schon längst Hau-Ra­pie­re von Ha­sel­stö­cken, mit Kör­ben von Wei­den sau­ber ge­floch­ten, um die Hand zu schüt­zen, zu ver­schaf­fen ge­wusst. Nun durf­ten wir uns wirk­lich stäh­ler­ne Klin­gen zu­le­gen, und das Geras­sel, was wir da­mit mach­ten, war sehr leb­haft.

      Zwei Fecht­meis­ter be­fan­den sich in der Stadt: ein äl­te­rer erns­ter Deut­scher, der auf die stren­ge und tüch­ti­ge Wei­se zu Wer­ke ging, und ein Fran­zo­se, der sei­nen Vor­teil durch Avan­cie­ren und Re­ti­rie­ren, durch leich­te flüch­ti­ge Stö­ße, wel­che stets mit ei­ni­gen Aus­ru­fun­gen be­glei­tet wa­ren, zu er­rei­chen such­te. Die Mei­nun­gen, wel­che Art die bes­te sei, wa­ren ge­teilt. Der klei­nen Ge­sell­schaft, mit wel­cher ich Stun­de neh­men soll­te, gab man den Fran­zo­sen, und wir ge­wöhn­ten uns bald, vor­wärts und rück­wärts zu ge­hen, aus­zu­fal­len und uns zu­rück­zu­zie­hen und da­bei im­mer in die her­kömm­li­chen Schrei­lau­te aus­zu­bre­chen. Meh­re­re von un­sern Be­kann­ten aber hat­ten sich zu dem deut­schen Fecht­meis­ter ge­wen­det und üb­ten ge­ra­de das Ge­gen­teil. Die­se ver­schie­de­nen Ar­ten, eine so wich­ti­ge Übung zu be­han­deln, die Über­zeu­gung ei­nes je­den, dass sein Meis­ter der bes­se­re sei, brach­te wirk­lich eine Spal­tung un­ter die jun­gen Leu­te, die


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