Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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als Be­schüt­zer, als Ret­ter, und durch sei­ne Unei­gen­nüt­zig­keit als Kö­nig. Dank­bar emp­fan­gen ihn die Kö­ni­ge des Tals, seg­nend Mel­chi­se­dek, der Kö­nig und Pries­ter.

      Nun wer­den die Weis­sa­gun­gen ei­ner un­end­li­chen Nach­kom­men­schaft er­neut, ja sie ge­hen im­mer mehr ins Wei­te. Vom Was­ser des Eu­phrat bis zum Fluss Ägyp­tens wer­den ihm die sämt­li­chen Land­stre­cken ver­spro­chen; aber noch sieht es mit sei­nen un­mit­tel­ba­ren Lei­be­ser­ben miss­lich aus. Er ist acht­zig Jahr alt und hat kei­nen Sohn. Zara, we­ni­ger den Göt­tern ver­trau­end als er, wird un­ge­dul­dig; sie will nach ori­en­ta­li­scher Sit­te durch ihre Magd einen Nach­kom­men ha­ben. Aber kaum ist Ha­gar dem Haus­herrn ver­traut, kaum ist Hoff­nung zu ei­nem Soh­ne, so zeigt sich der Zwie­spalt im Hau­se. Die Frau be­geg­net ih­rer eig­nen Be­schütz­ten übel ge­nug, und Ha­gar flieht, um bei an­de­ren Hor­den einen bes­sern Zu­stand zu fin­den. Nicht ohne hö­hern Wink kehrt sie zu­rück, und Is­ma­el wird ge­bo­ren.

      Abra­ham ist nun neun­und­neun­zig Jah­re alt, und die Ver­hei­ßun­gen ei­ner zahl­rei­chen Nach­kom­men­schaft wer­den noch im­mer wie­der­holt, so­dass am Ende bei­de Gat­ten sie lä­cher­lich fin­den. Und doch wird Zara zu­letzt gu­ter Hoff­nung und bringt einen Sohn, dem der Name Isaak zu teil wird.

      Auf ge­setz­mä­ßi­ger Fort­pflan­zung des Men­schen­ge­schlechts ruht größ­ten­teils die Ge­schich­te. Die be­deu­tends­ten Welt­be­ge­ben­hei­ten ist man bis in die Ge­heim­nis­se der Fa­mi­li­en zu ver­fol­gen ge­nö­tigt; und so ge­ben uns auch die Ehen der Erz­vä­ter zu eig­nen Be­trach­tun­gen An­lass. Es ist, als ob die Gott­hei­ten, wel­che das Schick­sal der Men­schen zu lei­ten be­lieb­ten, die ehe­li­chen Er­eig­nis­se je­der Art hier gleich­sam im Vor­bil­de hät­ten dar­stel­len wol­len. Abra­ham, so lan­ge Jah­re mit ei­ner schö­nen, von vie­len um­wor­be­nen Frau in kin­der­lo­ser Ehe, fin­det sich in sei­nem hun­derts­ten als Gat­te zwei­er Frau­en, als Va­ter zwei­er Söh­ne, und in die­sem Au­gen­blick ist sein Haus­frie­de ge­stört. Zwei Frau­en ne­ben ein­an­der, so wie zwei Söh­ne von zwei Müt­tern ge­gen­ein­an­der über, ver­tra­gen sich un­mög­lich. Der­je­ni­ge Teil, der durch Ge­set­ze, Her­kom­men und Mei­nung we­ni­ger be­güns­tigt ist, muss wei­chen. Abra­ham muss die Nei­gung zu Ha­gar, zu Is­ma­el auf­op­fern: bei­de wer­den ent­las­sen und Ha­gar ge­nö­tigt, den Weg, den sie auf ei­ner frei­wil­li­gen Flucht ein­ge­schla­gen, nun­mehr wi­der Wil­len an­zu­tre­ten, an­fangs, wie es scheint, zu des Kin­des und ih­rem Un­ter­gang; aber der En­gel des Herrn, der sie frü­her zu­rück­ge­wie­sen, ret­tet sie auch dies­mal, da­mit Is­ma­el auch zu ei­nem großen Volk wer­de und die un­wahr­schein­lichs­te al­ler Ver­hei­ßun­gen selbst über ihre Gren­zen hin­aus in Er­fül­lung gehe.

      Zwei El­tern in Jah­ren und ein ein­zi­ger spät­ge­bor­ner Sohn: hier soll­te man doch end­lich eine häus­li­che Ruhe, ein ir­di­sches Glück er­war­ten! Kei­nes­wegs. Die Himm­li­schen be­rei­ten dem Erz­va­ter noch die schwers­te Prü­fung. Doch von die­ser kön­nen wir nicht re­den, ohne vor­her noch man­cher­lei Be­trach­tun­gen an­zu­stel­len.

      Soll­te eine na­tür­li­che, all­ge­mei­ne Re­li­gi­on ent­sprin­gen und sich eine be­son­de­re, geof­fen­bar­te dar­aus ent­wi­ckeln, so wa­ren die Län­der, in de­nen bis­her un­se­re Ein­bil­dungs­kraft ver­weilt, die Le­bens­wei­se, die Men­schen­art wohl am ge­schick­tes­ten dazu; we­nigs­tens fin­den wir nicht, dass in der gan­zen Welt sich et­was ähn­lich Güns­ti­ges und Heitres her­vor­ge­tan hät­te. Schon zur na­tür­li­chen Re­li­gi­on, wenn wir an­neh­men, dass sie frü­her in dem mensch­li­chen Ge­mü­te ent­sprun­gen, ge­hört viel Zart­heit der Ge­sin­nung: denn sie ruht auf der Über­zeu­gung ei­ner all­ge­mei­nen Vor­se­hung, wel­che die Wel­t­ord­nung im gan­zen lei­te. Eine be­sond­re Re­li­gi­on, eine von den Göt­tern die­sem oder je­nem Volk geof­fen­bar­te, führt den Glau­ben an eine be­sond­re Vor­se­hung mit sich, die das gött­li­che We­sen ge­wis­sen be­güns­tig­ten Men­schen, Fa­mi­li­en, Stäm­men und Völ­kern zu­sagt. Die­se scheint sich schwer aus dem In­nern des Men­schen zu ent­wi­ckeln. Sie ver­langt Über­lie­fe­rung, Her­kom­men, Bürg­schaft aus ur­al­ter Zeit.

      Schön ist es da­her, dass die is­rae­li­ti­sche Über­lie­fe­rung gleich die ers­ten Män­ner, wel­che die­ser be­son­dern Vor­se­hung ver­trau­en, als Glau­bens­hel­den dar­stellt, wel­che von je­nem ho­hen We­sen, dem sie sich ab­hän­gig er­ken­nen, alle und jede Ge­bo­te eben so blind­lings be­fol­gen, als sie, ohne zu zwei­feln, die spä­ten Er­fül­lun­gen sei­ner Ver­hei­ßun­gen ab­zu­war­ten nicht er­mü­den.

      So wie eine be­son­de­re, geof­fen­bar­te Re­li­gi­on den Be­griff zum Grun­de legt, dass ei­ner mehr von den Göt­tern be­güns­tigt sein kön­ne als der an­de­re, so ent­springt sie auch vor­züg­lich aus der Ab­son­de­rung der Zu­stän­de. Nahe ver­wandt schie­nen sich die ers­ten Men­schen, aber ihre Be­schäf­ti­gun­gen trenn­ten sie bald. Der Jä­ger war der frei­es­te von al­len; aus ihm ent­wi­ckel­te sich der Krie­ger und der Herr­scher. Der Teil, der den Acker bau­te, sich der Erde ver­schrieb, Woh­nun­gen und Scheu­ern auf­führ­te, um das Er­wor­be­ne zu er­hal­ten, konn­te sich schon et­was dün­ken, weil sein Zu­stand Dau­er und Si­cher­heit ver­sprach. Dem Hir­ten an sei­ner Stel­le schi­en der un­ge­mes­sens­te Zu­stand so wie ein gren­zen­lo­ser Be­sitz zu teil ge­wor­den. Die Ver­meh­rung der Her­den ging ins Unend­li­che, und der Raum, der sie er­näh­ren soll­te, er­wei­ter­te sich nach al­len Sei­ten. Die­se drei Stän­de schei­nen sich gleich an­fangs mit Ver­druss und Ver­ach­tung an­ge­sehn zu ha­ben; und wie der Hir­te dem Städ­ter ein Gräu­el war, so son­der­te er auch sich wie­der von die­sem ab. Die Jä­ger ver­lie­ren sich aus un­sern Au­gen in die Ge­bir­ge und kom­men nur als Ero­be­rer wie­der zum Vor­schein.

      Zum Hir­ten­stan­de ge­hör­ten die Erz­vä­ter. Ihre Le­bens­wei­se auf dem Mee­re der Wüs­ten und Wei­den gab ih­ren Ge­sin­nun­gen Brei­te und Frei­heit, Ge­wöl­be des Him­mels, un­ter dem sie wohn­ten, mit al­len sei­nen nächt­li­chen Ster­nen, ih­ren Ge­füh­len Er­ha­ben­heit, und sie be­durf­ten mehr als der tä­ti­ge, ge­wand­te Jä­ger, mehr als der sich­re, sorg­fäl­ti­ge, haus­be­woh­nen­de Ackers­mann des un­er­schüt­ter­li­chen Glau­bens, dass ein Gott ih­nen zur Sei­te zie­he, dass er sie be­su­che, an ih­nen An­teil neh­me, sie füh­re und ret­te.

      Zu noch ei­ner an­de­ren Be­trach­tung wer­den wir ge­nö­tigt, in­dem wir zur Ge­schichts­fol­ge über­ge­hen. So mensch­lich, schön und hei­ter auch die Re­li­gi­on der Erz­vä­ter er­scheint, so ge­hen doch Züge von Wild­heit und Grau­sam­keit hin­durch, aus wel­cher der Mensch her­an­kom­men, oder wor­ein er wie­der ver­sin­ken kann.

      Dass der Hass sich durch das Blut, durch den Tod des über­wun­de­nen Fein­des ver­söh­ne, ist na­tür­lich; dass man auf dem Schlacht­fel­de zwi­schen den Rei­hen der Ge­tö­te­ten einen Frie­den schloss, lässt sich wohl den­ken; dass man eben so durch ge­schlach­te­te Tie­re ein Bünd­nis zu be­fes­ti­gen glaub­te, fließt aus dem Vor­her­ge­hen­den; auch dass man die Göt­ter, die man doch im­mer als Par­tei, als Wi­der­sa­cher oder als Bei­stand an­sah, durch Ge­tö­te­tes her­bei­zie­hen, sie ver­söh­nen, sie ge­win­nen kön­ne, über die­se Vor­stel­lung hat man sich gleich­falls nicht zu ver­wun­dern. Blei­ben wir aber bei den Op­fern ste­hen und be­trach­ten die Art, wie sie in je­ner Ur­zeit dar­ge­bracht wur­den, so fin­den wir einen


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