Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe
Читать онлайн книгу.»Nun, wozu der Lärm? heute rot, morgen tot!« – Auf diese Worte schien die Frau zu verstummen. Sie sah mich an und entfernte sich von mir, sobald es nur einigermaßen möglich war. Ich dachte nicht weiter an meine Worte. Nur einige Zeit hernach fielen sie mir auf, als der Knabe, anstatt sich nochmals sehen zu lassen, krank ward und zwar sehr gefährlich. Ob er gestorben ist, weiß ich nicht zu sagen.
Dergleichen Vordeutungen durch ein unzeitig, ja unschicklich ausgesprochnes Wort standen bei den Alten schon in Ansehen, und es bleibt höchst merkwürdig, dass die Formen des Glaubens und Aberglaubens bei allen Völkern und zu allen Zeiten immer dieselben geblieben sind.
Nun fehlte es von dem ersten Tage der Besitznehmung unserer Stadt, zumal Kindern und jungen Leuten, nicht an immerwährender Zerstreuung. Theater und Bälle, Paraden und Durchmärsche zogen unsere Aufmerksamkeit hin und her. Die letztern besonders nahmen immer zu, und das Soldatenleben schien uns ganz lustig und vergnüglich.
Der Aufenthalt des Königsleutnants in unserm Hause verschaffte uns den Vorteil, alle bedeutenden Personen der französischen Armee nach und nach zu sehen und besonders die Ersten, deren Name schon durch den Ruf zu uns gekommen war, in der Nähe zu betrachten. So sahen wir von Treppen und Podesten, gleichsam wie von Galerien, sehr bequem die Generalität bei uns vorübergehn. Vor allen erinnere ich mich des Prinzen Soubise als eines schönen, leutseligen Herrn; am deutlichsten aber des Marschalls von Broglio als eines jüngern, nicht großen, aber wohlgebauten, lebhaften, geistreich um sich blickenden, behänden Mannes.
Er kam mehrmals zum Königsleutnant, und man merkte wohl, dass von wichtigen Dingen die Rede war. Wir hatten uns im ersten Vierteljahr der Einquartierung kaum in diesen neuen Zustand gefunden, als schon die Nachricht sich dunkel verbreitete: die Allierten seien im Anmarsch, und Herzog Ferdinand von Braunschweig komme, die Franzosen vom Main zu vertreiben. Man hatte von diesen, die sich keines besondern Kriegsglückes rühmen konnten, nicht die größte Vorstellung, und seit der Schlacht von Rossbach glaubte man sie verachten zu dürfen; auf den Herzog Ferdinand setzte man das größte Vertrauen, und alle preußisch Gesinnten erwarteten mit Sehnsucht ihre Befreiung von der bisherigen Last. Mein Vater war etwas heiterer, meine Mutter in Sorgen. Sie war klug genug, einzusehen, dass ein gegenwärtiges geringes Übel leicht mit einem großen Ungemach vertauscht werden könne: denn es zeigte sich nur allzu deutlich, dass man dem Herzog nicht entgegengehen, sondern einen Angriff in der Nähe der Stadt abwarten werde. Eine Niederlage der Franzosen, eine Flucht, eine Verteidigung der Stadt, wäre es auch nur, um den Rückzug zu decken und um die Brücke zu behalten, ein Bombardement, eine Plünderung, alles stellte sich der erregten Einbildungskraft dar und machte beiden Parteien Sorge. Meine Mutter, welche alles, nur nicht die Sorge ertragen konnte, ließ durch den Dolmetscher ihre Furcht bei dem Grafen anbringen; worauf sie die in solchen Fällen gebräuchliche Antwort erhielt: sie solle ganz ruhig sein, es sei nichts zu befürchten, sich übrigens still halten und mit niemand von der Sache sprechen.
Mehrere Truppen zogen durch die Stadt; man erfuhr, dass sie bei Bergen halt machten. Das Kommen und Gehen, das Reiten und Laufen vermehrte sich immer, und unser Haus war Tag und Nacht in Aufruhr. In dieser Zeit habe ich den Marschall Broglio öfter gesehen, immer heiter, ein wie das andere Mal an Gebärden und Betragen völlig gleich, und es hat mich auch nachher gefreut, den Mann, dessen Gestalt einen so guten und dauerhaften Eindruck gemacht hatte, in der Geschichte rühmlich erwähnt zu finden.
So kam denn endlich, nach einer unruhigen Karwoche, 1759, der Karfreitag heran. Eine große Stille verkündigte den nahen Sturm. Uns Kindern war verboten, aus dem Hause zu gehen; der Vater hatte keine Ruhe und ging aus. Die Schlacht begann; ich stieg auf den obersten Boden, wo ich zwar die Gegend zu sehen verhindert war, aber den Donner der Kanonen und das Massenfeuer des kleinen Gewehrs recht gut vernehmen konnte. Nach einigen Stunden sahen wir die ersten Zeichen der Schlacht an einer Reihe Wagen, auf welchen Verwundete in mancherlei traurigen Verstümmelungen und Gebärden sachte bei uns vorbeigefahren wurden, um in das zum Lazarett umgewandelte Liebfrauenkloster gebracht zu werden. Sogleich regte sich die Barmherzigkeit der Bürger. Bier, Wein, Brot, Geld ward denjenigen hingereicht, die noch etwas empfangen konnten. Als man aber einige Zeit darauf blessierte und gefangne Deutsche unter diesem Zug gewahr wurde, fand das Mitleid keine Grenze, und es schien, als wollte jeder sich von allem entblößen, was er nur Bewegliches besaß, um seinen bedrängten Landsleuten beizustehen.
Diese Gefangenen waren jedoch Anzeichen einer für die Alliierten unglücklichen Schlacht. Mein Vater, in seiner Parteilichkeit ganz sicher, dass diese gewinnen würden, hatte die leidenschaftliche Verwegenheit, den gehofften Siegern entgegenzugehen, ohne zu bedenken, dass die geschlagene Partei erst über ihn wegfliehen müsste. Erst begab er sich in seinen Garten vor dem Friedberger Tore, wo er alles einsam und ruhig fand; dann wagte er sich auf die Bornheimer Heide, wo er aber bald verschiedene zerstreute Nachzügler und Troßknechte ansichtig ward, die sich den Spaß machten, nach den Grenzsteinen zu schießen, sodass dem neugierigen Wandrer das abprallende Blei um den Kopf sauste. Er hielt es deshalb doch für geratner, zurückzugehen, und erfuhr bei einiger Nachfrage, was ihm schon der Schall des Feuerns hätte klar machen sollen, dass alles für die Franzosen gut stehe und an kein Weichen zu denken sei. Nach Hause gekommen, voll Unmut, geriet er beim Erblicken der verwundeten und gefangenen Landsleute ganz aus der gewöhnlichen Fassung. Auch er ließ den Vorbeiziehenden mancherlei Spende reichen; aber nur die Deutschen sollten sie erhalten, welches nicht immer möglich war, weil das Schicksal Freunde und Feinde zusammen aufgepackt hatte.
Die Mutter und wir Kinder, die wir schon früher auf des Grafen Wort gebaut und deshalb einen ziemlich beruhigten Tag hingebracht hatten, waren höchlich erfreut, und die Mutter doppelt getröstet, da sie des Morgens, als sie das Orakel ihres Schatzkästleins durch einen Nadelstich befragt, eine für die Gegenwart sowohl als für die Zukunft sehr tröstliche Antwort erhalten hatte. Wir wünschten unserm Vater gleichen Glauben und gleiche Gesinnung, wir schmeichelten ihm, was wir konnten, wir baten ihn, etwas Speise zu sich zu nehmen, die er den ganzen Tag entbehrt hatte; er verweigerte unsre Liebkosungen und jeden Genuss und begab sich auf sein Zimmer. Unsre Freude ward indessen nicht gestört: die Sache war entschieden; der Königsleutnant, der diesen Tag gegen seine Gewohnheit zu Pferde gewesen, kehrte endlich zurück, seine Gegenwart zu Hause war nötiger als je. Wir sprangen ihm entgegen, küssten seine Hände und bezeigten ihm unsre Freude. Es schien ihm