Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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per­sön­li­chen Glück­wün­schun­gen für die Stadt sehr be­le­bend. Wer sonst nicht leicht aus dem Hau­se kam, warf sich in sei­ne bes­ten Klei­der, um Gön­nern und Freun­den einen Au­gen­blick freund­lich und höf­lich zu sein. Für uns Kin­der war be­son­ders die Fest­lich­keit in dem Hau­se des Groß­va­ters an die­sem Tage ein höchst er­wünsch­ter Ge­nuss. Mit dem frühs­ten Mor­gen wa­ren die En­kel schon da­selbst ver­sam­melt, um die Trom­meln, die Ho­boen und Kla­ri­net­ten, die Po­sau­nen und Zin­ken, wie sie das Mi­li­tär, die Stadt­mu­si­ci und wer sonst al­les er­tö­nen ließ, zu ver­neh­men. Die ver­sie­gel­ten und über­schrie­be­nen Neu­jahrs­ge­schen­ke wur­den von den Kin­dern un­ter die ge­rin­gern Gra­tu­lan­ten aus­ge­teilt, und wie der Tag wuchs, so ver­mehr­te sich die An­zahl der Ho­no­ra­tio­ren. Erst er­schie­nen die Ver­trau­ten und Ver­wand­ten, dann die un­tern Staats­be­am­ten; die Her­ren vom Rate selbst ver­fehl­ten nicht, ih­ren Schult­heiß zu be­grü­ßen, und eine aus­er­wähl­te An­zahl wur­de abends in Zim­mern be­wir­tet, wel­che das gan­ze Jahr über kaum sich öff­ne­ten. Die Tor­ten, Bis­kuit­ku­chen, Mar­zi­pa­ne, der süße Wein übte den größ­ten Reiz auf die Kin­der aus, wozu noch kam, dass der Schult­heiß so wie die bei­den Bur­ge­meis­ter aus ei­ni­gen Stif­tun­gen jähr­lich et­was Sil­ber­zeug er­hiel­ten, wel­ches denn den En­keln und Pa­ten nach ei­ner ge­wis­sen Ab­stu­fung ver­ehrt ward; ge­nug, es fehl­te die­sem Fes­te im klei­nen an nichts, was die größ­ten zu ver­herr­li­chen pflegt.

      Der Neu­jahrs­tag 1759 kam her­an, für uns Kin­der er­wünscht und ver­gnüg­lich wie die vo­ri­gen, aber den äl­tern Per­so­nen be­denk­lich und ah­nungs­voll. Die Durch­mär­sche der Fran­zo­sen war man zwar ge­wohnt, und sie er­eig­ne­ten sich öf­ters und häu­fig, aber doch am häu­figs­ten in den letz­ten Ta­gen des ver­gan­ge­nen Jah­res. Nach al­ter reichs­städ­ti­scher Sit­te po­saun­te der Tür­mer des Haupt­turms, so oft Trup­pen her­an­rück­ten, und an die­sem Neu­jahrs­ta­ge woll­te er gar nicht auf­hö­ren, wel­ches ein Zei­chen war, dass grö­ße­re Hee­res­zü­ge von meh­re­ren Sei­ten in Be­we­gung sei­en. Wirk­lich zo­gen sie auch in grö­ße­ren Mas­sen an die­sem Tage durch die Stadt; man lief, sie vor­bei­pas­sie­ren zu se­hen. Sonst war man ge­wohnt, dass sie nur in klei­nen Par­ti­en durch­mar­schier­ten; die­se aber ver­grö­ßer­ten sich nach und nach, ohne dass man es ver­hin­dern konn­te oder woll­te. Ge­nug, am 2ten Ja­nu­ar, nach­dem eine Ko­lon­ne durch Sach­sen­hau­sen über die Brücke durch die Fahr­gas­se bis an die Kon­sta­bler­wa­che ge­langt war, mach­te sie Halt, über­wäl­tig­te das klei­ne, sie durch­füh­ren­de Kom­man­do, nahm Be­sitz von ge­dach­ter Wa­che, zog die Zeil hin­un­ter, und nach ei­nem ge­rin­gen Wi­der­stand muss­te sich auch die Haupt­wa­che er­ge­ben. Au­gen­blicks wa­ren die fried­li­chen Stra­ßen in einen Kriegs­schau­platz ver­wan­delt. Dort ver­harr­ten und bi­voua­kier­ten die Trup­pen, bis durch re­gel­mä­ßi­ge Ein­quar­tie­rung für ihr Un­ter­kom­men ge­sorgt wäre.

      Die­se un­er­war­te­te, seit vie­len Jah­ren un­er­hör­te Last drück­te die be­hag­li­chen Bür­ger ge­wal­tig, und nie­man­den konn­te sie be­schwer­li­cher sein als dem Va­ter, der in sein kaum vollen­de­tes Haus frem­de mi­li­tä­ri­sche Be­woh­ner auf­neh­men, ih­nen sei­ne wohl­auf­ge­putz­ten und meist ver­schlos­se­nen Staats­zim­mer ein­räu­men und das, was er so ge­nau zu ord­nen und zu re­gie­ren pfleg­te, frem­der Will­kür preis­ge­ben soll­te; er, oh­ne­hin preu­ßisch ge­sinnt, soll­te sich nun von Fran­zo­sen in sei­nen Zim­mern be­la­gert se­hen: es war das Trau­rigs­te, was ihm nach sei­ner Denk­wei­se be­geg­nen konn­te. Wäre es ihm je­doch mög­lich ge­we­sen, die Sa­che leich­ter zu neh­men, da er gut fran­zö­sisch sprach und im Le­ben sich wohl mit Wür­de und An­mut be­tra­gen konn­te, so hät­te er sich und uns man­che trü­be Stun­de er­spa­ren mö­gen: denn man quar­tier­te bei uns den Kö­nigs­leut­nant, der, ob­gleich Mi­li­tär­per­son, doch nur die Zi­vil­vor­fäl­le, die Strei­tig­kei­ten zwi­schen Sol­da­ten und Bür­gern, Schul­den­sa­chen und Hän­del zu schlich­ten hat­te. Es war Graf Tho­ra­ne, von Gras­se in der Pro­vence, un­weit An­ti­bes, ge­bür­tig, eine lan­ge, ha­g­re, erns­te Ge­stalt, das Ge­sicht durch die Blat­tern sehr ent­stellt, mit schwar­zen, feu­ri­gen Au­gen, und von ei­nem wür­di­gen, zu­sam­men­ge­nom­me­nen Be­tra­gen. Gleich sein Ein­tritt war für den Haus­be­woh­ner güns­tig. Man sprach von den ver­schie­de­nen Zim­mern, wel­che teils ab­ge­ge­ben wer­den, teils der Fa­mi­lie ver­blei­ben soll­ten, und als der Graf ein Ge­mäl­de­zim­mer er­wäh­nen hör­te, so er­bat er sich gleich, ob es schon Nacht war, mit Ker­zen die Bil­der we­nigs­tens flüch­tig zu be­se­hen. Er hat­te an die­sen Din­gen eine über­große Freu­de, be­zeig­te sich ge­gen den ihn be­glei­ten­den Va­ter auf das ver­bind­lichs­te, und als er ver­nahm, dass die meis­ten Künst­ler noch leb­ten, sich in Frank­furt und in der Nach­bar­schaft auf­hiel­ten, so ver­si­cher­te er, dass er nichts mehr wün­sche, als sie bal­digst ken­nen zu ler­nen und sie zu be­schäf­ti­gen.

      Aber auch die­se An­nä­he­rung von Sei­ten der Kunst ver­moch­te nicht die Ge­sin­nung mei­nes Va­ters zu än­dern noch sei­nen Cha­rak­ter zu beu­gen. Er ließ ge­sche­hen, was er nicht ver­hin­dern konn­te, hielt sich aber in un­wirk­sa­mer Ent­fer­nung, und das Au­ßer­or­dent­li­che, was nun um ihn vor­ging, war ihm bis auf die ge­rings­te Klei­nig­keit un­er­träg­lich.

      Graf Tho­ra­ne in­des­sen be­trug sich mus­ter­haft. Nicht ein­mal sei­ne Land­kar­ten woll­te er an die Wän­de ge­na­gelt ha­ben, um die neu­en Ta­pe­ten nicht zu ver­der­ben. Sei­ne Leu­te wa­ren ge­wandt, still und or­dent­lich; aber frei­lich, da den gan­zen Tag und einen Teil der Nacht nicht Ruhe bei ihm ward, da ein Kla­gen­der dem an­de­ren folg­te, Ar­re­stan­ten ge­bracht und fort­ge­führt, alle Of­fi­zie­re und Ad­ju­tan­ten vor­ge­las­sen wur­den, da der Graf noch über­dies täg­lich off­ne Ta­fel hielt, so gab es in dem mä­ßig großen, nur für eine Fa­mi­lie ein­ge­rich­te­ten Hau­se, das nur eine durch alle Stock­wer­ke un­ver­schlos­sen durch­ge­hen­de Trep­pe hat­te, eine Be­we­gung und ein Ge­sum­me wie in ei­nem Bie­nen­kor­be, ob­gleich al­les sehr ge­mä­ßigt, ernst­haft und streng zu­ging.

      Zum Ver­mitt­ler zwi­schen ei­nem ver­drieß­li­chen, täg­lich mehr sich hy­po­chon­drisch quä­len­den Haus­herrn und ei­nem zwar wohl­wol­len­den, aber sehr erns­ten und ge­nau­en Mi­li­tär­gast fand sich glück­li­cher­wei­se ein be­hag­li­cher Dol­met­scher, ein schö­ner, wohl­be­leib­ter, heit­rer Mann, der Bür­ger von Frank­furt war und gut fran­zö­sisch sprach, sich in al­les zu schi­cken wuss­te und mit man­cher­lei klei­nen Unan­nehm­lich­kei­ten nur sei­nen Spaß trieb. Durch die­sen hat­te mei­ne Mut­ter dem Gra­fen ihre Lage bei dem Ge­müts­zu­stan­de ih­res Gat­ten vor­stel­len las­sen; er hat­te die Sa­che so klüg­lich aus­ge­malt, das neue, noch nicht ein­mal ganz ein­ge­rich­te­te Haus, die na­tür­li­che Zu­rück­ge­zo­gen­heit des Be­sit­zers, die Be­schäf­ti­gung mit der Er­zie­hung sei­ner Fa­mi­lie, und was sich al­les sonst noch sa­gen ließ, zu be­den­ken ge­ge­ben, so­dass der Graf, der an sei­ner Stel­le auf die höchs­te Ge­rech­tig­keit, Un­be­stech­lich­keit und eh­ren­vol­len Wan­del den größ­ten Stolz setz­te, auch hier sich als Ein­quar­tier­ter mus­ter­haft zu be­tra­gen vor­nahm und es wirk­lich die ei­ni­gen Jah­re sei­nes Da­blei­bens un­ter man­cher­lei Um­stän­den un­ver­brüch­lich ge­hal­ten hat.

      Mei­ne Mut­ter be­saß ei­ni­ge Kennt­nis des Ita­liä­ni­schen, wel­che Spra­che über­haupt nie­man­den


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