Dichtung und Wahrheit. Johann Wolfgang von Goethe

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Dichtung und Wahrheit - Johann Wolfgang von Goethe


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un­ter­drücken; dass nun aber im Ge­gen­teil, wäh­rend die jun­gen Ge­schöp­fe mit ei­ner sol­chen Übung be­schäf­tigt sind, sie von an­de­ren das zu lei­den ha­ben, was an ih­nen ge­schol­ten wird und höch­lich ver­pönt ist. Da­durch kom­men die ar­men We­sen zwi­schen dem Na­tur­zu­stan­de und dem der Zi­vi­li­sa­ti­on gar er­bärm­lich in die Klem­me und wer­den, je nach­dem die Cha­rak­tere sind, ent­we­der tückisch, oder ge­walt­sam auf­brau­send, wenn sie eine Zeit lang an sich ge­hal­ten ha­ben.

      Ge­walt ist eher mit Ge­walt zu ver­trei­ben; aber ein gut­ge­sinn­tes, zur Lie­be und Teil­nah­me ge­neig­tes Kind weiß dem Hohn und dem bö­sen Wil­len we­nig ent­ge­gen­zu­set­zen. Wenn ich die Tät­lich­kei­ten mei­ner Ge­sel­len so ziem­lich ab­zu­hal­ten wuss­te, so war ich doch kei­nes­wegs ih­ren Sti­che­lei­en und Miss­re­den ge­wach­sen, weil in sol­chen Fäl­len der­je­ni­ge, der sich ver­tei­digt, im­mer ver­lie­ren muss. Es wur­den also auch An­grif­fe die­ser Art, in­so­fern sie zum Zorn reiz­ten, mit phy­si­schen Kräf­ten zu­rück­ge­wie­sen, oder sie reg­ten wun­der­sa­me Be­trach­tun­gen in mir auf, die denn nicht ohne Fol­gen blei­ben konn­ten. Un­ter an­de­ren Vor­zü­gen miss­gönn­ten mir die Übel­wol­len­den auch, dass ich mir in ei­nem Ver­hält­nis ge­fiel, wel­ches aus dem Schult­hei­ßen­amt mei­nes Groß­va­ters für die Fa­mi­lie ent­sprang: denn in­dem er als der ers­te un­ter sei­nes­glei­chen da­stand, hat­te die­ses doch auch auf die Sei­ni­gen nicht ge­rin­gen Ein­fluss. Und als ich mir ein­mal nach ge­hal­te­nem Pfei­fer­ge­rich­te et­was dar­auf ein­zu­bil­den schi­en, mei­nen Groß­va­ter in der Mit­te des Schöf­fen­rats, eine Stu­fe hö­her als die an­de­ren, un­ter dem Bil­de des Kai­sers gleich­sam thro­nend ge­se­hen zu ha­ben, so sag­te ei­ner der Kna­ben höh­nisch: ich soll­te doch, wie der Pfau auf sei­ne Füße, so auf mei­nen Groß­va­ter vä­ter­li­cher Sei­te hin­se­hen, wel­cher Gast­ge­ber zum Wei­den­hof ge­we­sen und wohl an die Thro­nen und Kro­nen kei­nen An­spruch ge­macht hät­te. Ich er­wi­der­te dar­auf, dass ich da­von kei­nes­wegs be­schämt sei, weil ge­ra­de dar­in das Herr­li­che und Er­he­ben­de un­se­rer Va­ter­stadt be­ste­he, dass alle Bür­ger sich ein­an­der gleich hal­ten dürf­ten und dass ei­nem je­den sei­ne Tä­tig­keit nach sei­ner Art för­der­lich und eh­ren­voll sein kön­ne. Es sei mir nur leid, dass der gute Mann schon so lan­ge ge­stor­ben: denn ich habe mich auch ihn per­sön­lich zu ken­nen öf­ters ge­sehnt, sein Bild­nis viel­mals be­trach­tet, ja sein Grab be­sucht und mich we­nigs­tens bei der In­schrift an dem ein­fa­chen Denk­mal sei­nes vor­über­ge­gan­ge­nen Da­seins ge­freut, dem ich das mei­ne schul­dig ge­wor­den. Ein an­de­rer Miss­wol­len­der, der tückischs­te von al­len, nahm je­nen ers­ten bei­sei­te und flüs­ter­te ihm et­was in die Ohren, wo­bei sie mich im­mer spöt­tisch an­sa­hen. Schon fing die Gal­le mir an zu ko­chen, und ich for­der­te sie auf, laut zu re­den. »Nun, was ist es denn wei­ter«, sag­te der ers­te, »wenn du es wis­sen willst: die­ser da meint, du könn­test lan­ge her­um­ge­hen und su­chen, bis du dei­nen Groß­va­ter fän­dest.« Ich droh­te nun noch hef­ti­ger, wenn sie sich nicht deut­li­cher er­klä­ren wür­den. Sie brach­ten dar­auf ein Mär­chen vor, das sie ih­ren El­tern woll­ten ab­ge­lauscht ha­ben: mein Va­ter sei der Sohn ei­nes vor­neh­men Man­nes, und je­ner gute Bür­ger habe sich wil­lig fin­den las­sen, äu­ßer­lich Va­ter­stel­le zu ver­tre­ten, die hat­ten die Un­ver­schämt­heit, al­ler­lei Ar­gu­men­te vor­zu­brin­gen, z. B. dass un­ser Ver­mö­gen bloß von der Groß­mut­ter her­rüh­re, dass die üb­ri­gen Sei­ten­ver­wand­ten, die sich in Fried­berg oder sonst auf­hiel­ten, gleich­falls ohne Ver­mö­gen sei­en, und was noch an­de­re sol­che Grün­de wa­ren, die ihr Ge­wicht bloß von der Bos­heit her­neh­men konn­ten. Ich hör­te ih­nen ru­hi­ger zu, als sie er­war­te­ten, denn sie stan­den schon auf dem Sprung, zu ent­flie­hen, wenn ich Mie­ne mach­te, nach ih­ren Haa­ren zu grei­fen. Aber ich ver­setz­te ganz ge­las­sen: auch die­ses kön­ne mir recht sein. Das Le­ben sei so hübsch, dass man völ­lig für gleich­gül­tig ach­ten kön­ne, wem man es zu ver­dan­ken habe: denn es schrie­be sich doch zu­letzt von Gott her, vor wel­chem wir alle gleich wä­ren. So lie­ßen sie, da sie nichts aus­rich­ten konn­ten, die Sa­che für dies­mal gut sein; man spiel­te zu­sam­men wei­ter fort, wel­ches un­ter Kin­dern im­mer ein er­prob­tes Ver­söh­nungs­mit­tel bleibt.

      Mir war je­doch durch die hä­mi­schen Wor­te eine Art von sitt­li­cher Krank­heit ein­ge­impft, die im Stil­len fort­sch­lich. Es woll­te mir gar nicht miss­fal­len, der En­kel ir­gend ei­nes vor­neh­men Herrn zu sein, wenn es auch nicht auf die ge­setz­lichs­te Wei­se ge­we­sen wäre. Mei­ne Spür­kraft ging auf die­ser Fähr­te, mei­ne Ein­bil­dungs­kraft war an­ge­regt und mein Scharf­sinn auf­ge­for­dert. Ich fing nun an, die An­ga­ben je­ner zu un­ter­su­chen, fand und er­fand neue Grün­de der Wahr­schein­lich­keit. Ich hat­te von mei­nem Groß­va­ter we­nig re­den hö­ren, au­ßer dass sein Bild­nis mit dem mei­ner Groß­mut­ter in ei­nem Be­such­zim­mer des al­ten Hau­ses ge­han­gen hat­te, wel­che bei­de, nach Er­bau­ung des neu­en in ei­ner obe­ren Kam­mer auf­be­wahrt wur­den. Mei­ne Groß­mut­ter muss­te eine sehr schö­ne Frau ge­we­sen sein und von glei­chem Al­ter mit ih­rem Man­ne. Auch er­in­ner­te ich mich, in ih­rem Zim­mer das Mi­nia­tur­bild ei­nes schö­nen Herrn, in Uni­form mit Stern und Or­den, ge­se­hen zu ha­ben, wel­ches nach ih­rem Tode mit vie­len an­de­ren klei­nen Gerät­schaf­ten, wäh­rend des al­les um­wäl­zen­den Haus­bau­es ver­schwun­den war. Sol­che wie man­che an­de­re Din­ge bau­te ich mir in mei­nem kin­di­schen Kop­fe zu­sam­men und übte früh­zei­tig ge­nug je­nes mo­der­ne Dich­ter­ta­lent, wel­ches durch eine aben­teu­er­li­che Ver­knüp­fung der be­deu­ten­den Zu­stän­de des mensch­li­chen Le­bens sich die Teil­nah­me der gan­zen kul­ti­vier­ten Welt zu ver­schaf­fen weiß.

      Da ich nun aber einen sol­chen Fall nie­man­den zu ver­trau­en, oder auch nur von fer­ne nach­zu­fra­gen mich un­ter­stand, so ließ ich es an ei­ner heim­li­chen Be­trieb­sam­keit nicht feh­len, um wo mög­lich der Sa­che et­was nä­her zu kom­men. Ich hat­te näm­lich ganz be­stimmt be­haup­ten hö­ren, dass die Söh­ne den Vä­tern oder Groß­vä­tern oft ent­schie­den ähn­lich zu sein pfleg­ten. Meh­re­re un­se­rer Freun­de, be­son­ders auch Rat Schnei­der, un­ser Haus­freund, hat­ten Ge­schäfts­ver­bin­dun­gen mit al­len Fürs­ten und Her­ren der Nach­bar­schaft, de­ren, so­wohl re­gie­ren­der als nach­ge­bor­ner, kei­ne ge­rin­ge An­zahl am Rhein und Main und in dem Rau­me zwi­schen bei­den ihre Be­sit­zun­gen hat­ten, und die aus be­son­de­rer Gunst ihre treu­en Ge­schäfts­trä­ger zu­wei­len wohl mit ih­ren Bild­nis­sen beehr­ten. Die­se, die ich von Ju­gend auf viel­mals an den Wän­den ge­se­hen, be­trach­te­te ich nun­mehr mit dop­pel­ter Auf­merk­sam­keit, for­schend, ob ich nicht eine Ähn­lich­keit mit mei­nem Va­ter, oder gar mit mir ent­de­cken könn­te; wel­ches aber zu oft ge­lang, als dass es mich zu ei­ni­ger Ge­wiss­heit hät­te füh­ren kön­nen. Denn bald wa­ren es die Au­gen von die­sem, bald die Nase von je­nem, die mir auf ei­ni­ge Ver­wandt­schaft zu deu­ten schie­nen. So führ­ten mich die­se Kenn­zei­chen trüg­lich ge­nug hin und wi­der. Und ob ich gleich in der Fol­ge die­sen Vor­wurf als ein durch­aus lee­res Mär­chen be­trach­ten muss­te, so blieb mir doch der Ein­druck, und ich konn­te nicht un­ter­las­sen, die sämt­li­chen Her­ren, de­ren Bild­nis­se mir sehr deut­lich in der Fan­ta­sie ge­blie­ben wa­ren, von Zeit zu Zeit im Stil­len bei mir zu mus­tern und zu prü­fen. So wahr ist es, dass al­les, was den Men­schen in­ner­lich in sei­nem Dün­kel be­stärkt, sei­ner heim­li­chen Ei­tel­keit


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