Tatort Oberbayern. Jürgen Ahrens
Читать онлайн книгу.dem Reden hat’s der Max noch nie ghabt, da hams scho’ recht. Aber seitdem dass der Bub nimmer is’, hab ich meinen Mann nimma. Vorher hat er zwar ned viel geredet, aber ich hab gwusst, dass er da is’.« Rosa Adelhofer stellte zwei große geblümte Kaffeetassen auf die Wachstuchtischdecke und setzte sich Katharina gegenüber.
»Und jetzt hab ich ihn nimmer, wie wenn er auch tot wär’.«
Die alte Frau starrte in ihre Tasse. Getrunken hatte sie bislang keinen Schluck.
»Hat Ihr Mann ein enges Verhältnis zu Lukas gehabt?«
Rosa Adelhofer sah weiter auf ihren kalt werdenden Kaffee: »Mei, wissns, vom Lukas hama gar nix mehr gwusst. Es ist ihm halt ned gut gegangen, und er war neidisch auf den Robert und hat dacht, dass wir den Robert lieber ham als ihn. Er hat nix mehr mit uns zu tun ham wolln. Mit mir auch ned. Aber ich bin doch seine Mama.« Verstohlen wischte sich Rosa Adelhofer Tränen aus dem Gesicht.
Katharina legte ihre Hand auf die faltige, raue Hand der Bäuerin.
»Entschuldigen Sie bitte meine Fragen, Frau Adelhofer. Das war dumm und unsensibel von mir.«
Rosa schaute auf. In ihrem Blick lag etwas Liebevolles: »Is’ scho’ gut, Madl. Ich bin froh, dass ich mit jemand reden kann, is’ doch sonst keiner mehr da. Wissns, was des Schlimmste war? Ich hab dem Lukas jeden Tag was zu essen vorbeibracht, weil ich gwusst hab, dass es ihm ned gut geht. Seine Leibspeisen hab i gmacht – Rahmschwammerl mit Semmelknödel, Backhendl, Dampfnudeln oder an Obazdn. Er hat mir die Tür aufgmacht, hat’s Essen gnommen und hat die Tür zugmacht. Aber beim letztn Mal …«, Rosa Adelhofer konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Katharina reichte ihr ein Taschentuch und streichelte hilflos ihre Hand.
»Beim letztn Mal hat er mir die Tür nicht aufgmacht. Geredet hat er eh nie was mit mir, aber an dem Tag hat er mich mit den Töpfen vor der Tür grad stehnlassn. Sei eigene Mutter.« Wieder liefen die Tränen. »Dabei hab ich gehört, dass er da war. Rumbrülln hab ich ihn hörn, ich weiß ned, mit wem ers ghabt hat. Er hat ja fast mit jedem irgendwann an Streit ghabt, der Lukas. Dann bin ich halt gegangen. Des gute Essn hab ich weggschmissn, des war wie vergift. Und am nächsten Tag war er tot.«
Mit rotunterlaufenen Augen starrte Rosa Adelhofer Katharina an. »Können Sie des verstehn? Was hab ich falsch gmacht, dass sich mein Bub umbringa tut?«
Die Bäuerin weinte und weinte, der Berg Taschentücher auf dem schweren Holztisch kam Katharina unpassend vor. So sollte das nicht sein in einer gemütlichen Bauernküche im Chiemgau, auf einer hundert Jahre alten Holzbank, an einem Tisch, an dem unzählige Hochzeiten und Taufen geplant worden waren, an dem gelacht und gegessen wurde. Es durfte Probleme geben, aber doch nicht solche. Keine Selbstmorde, keine Söhne, die der Mama solchen Kummer machten, dass sie von Weinkrämpfen geschüttelt wurde.
»Kann ich Ihnen irgendwie helfen, Frau Adelhofer?«
Die alte Frau schnäuzte sich heftig. Danach wirkte sie gefasster. Entschlossenheit lag in ihrem Blick:
»Sagens mir, was passiert ist. Sagens mir, wieso sich der Lukas umbracht hat.«
In den eineinhalb Stunden Fahrt vom Chiemsee nach München philosophierte Katharina über Mütter. Die, die sie gerade näher kennengelernt hatte, ihre eigene, sich selbst. Rosa Adelhofer, die sich für ihre Kinder aufgeopfert hatte – dass es Söhne waren, tat bestimmt sein Übriges. Die stolze bayerische Mama dachte mit Sicherheit nicht an sich selbst, sondern nur an ihre Buben und den Mann. Ihre eigene Mutter war viel selbstständiger gewesen, hatte, auch als sie noch verheiratet war, ihr eigenes Leben gehabt, ihre Freundinnen, ihre leicht esoterischen Interessen, erinnerte sich Katharina schmunzelnd. Aber sie war früher wie heute eine liebevolle, verständnisvolle Mama. Wenn es eng wurde in Katharinas Leben, war ihre Mutter der Fels in der Brandung. Nie würde sie den Nachmittag vor fast acht Jahren vergessen, als sie weinend in der Küche gesessen hatte, schwanger und betrogen von Tobias, Svenjas Vater. Susanne Hartschmidt hatte gefühlt stundenlang Katharinas Kopf gestreichelt, Taschentücher gereicht, zugehört und nicht viel gesagt außer »das versteh ich«, »du Arme«, »komm her, meine Süße.«
Als Katharina gegen Abend gefragt hatte: »Mama, was mach ich denn jetzt?«, hatte ihre großartige Mutter geantwortet:
»Katharinchen, ein Kind ist das Tollste, was es im Leben gibt – egal, von wem es ist. Das schaffst du, ich weiß das. Mich gibt es ja auch noch und Oliver genauso … Es ist aber auch völlig in Ordnung, wenn du es nicht willst. Es ist ja noch früh. Du bist jung, kannst später noch Kinder kriegen. Jetzt gibt’s erst mal Hähnchen mit Pommes, dann schläfst du hier und danach schauen wir weiter. Was meinst du?«
Katharinas vegetarisch lebende Mutter hatte das Lieblingsessen ihrer Tochter zubereitet und offenbar nach dem verzweifelten Anruf sofort eingekauft. Das hatte die nächste Heulattacke ausgelöst, diesmal vor Rührung über diese bedingungslose Liebe. Katharina hatte tatsächlich bei ihrer Mutter übernachtet und sich am nächsten Morgen ein kleines Stückchen besser gefühlt. Im Laufe der nächsten Tage war bei ihr die Überzeugung gewachsen, dass sie das Kind haben wollte.
Was Svenja wohl später über ihre Mutter sagen würde? Sie war noch klein und Mama die Beste auf der Welt. Aber was wäre mit 20: »Du hattest nie Zeit, deine Scheißrecherchen waren wichtiger als ich, seit Jahren gehe ich zur Psychotherapie – wegen dir.« Katharina kannte diese Gedankenschleife, sie holte sie regelmäßig ein. Wie immer in diesen Situationen sagte sie sich, dass sie zwar nicht so viel Zeit hatte wie andere Mütter, aber genauso verständnis- und liebevoll war wie ihre eigene. Das erschien ihr besser, als eine unzufriedene Hausfrau zu sein, die wie eine Klette an ihren Kleinen klebte. Jedenfalls schaffte sie es, wie versprochen um kurz vor 17 Uhr bei ihrer Mutter in Obermenzing zu klingeln. Als die Tür aufging, blickte sie in zwei strahlende Gesichter. »Mama, komm, ich zeig dir, was ich gebaut habe.« Svenja zog Katharina in den Garten des kleinen Reihenhauses. Susanne Hartschmidt hatte gerade noch Zeit, ihrer Tochter eine Kusshand zuzuwerfen. Im Garten hatte Katharinas Mutter extra für Svenja einen Sandkasten eingerichtet. Und darin befand sich eine kleine Flusslandschaft. Von hübschen Steinen eingerahmt hatte Svenja einen Flusslauf gebaut, der in ein größeres Becken mündete. Das Wasser kam aus einem Gartenschlauch und lief an der höchsten Stelle in die Konstruktion hinein. Dass es in dem Becken einfach versickerte, war der ansonsten sehr ökologisch eingestellten Oma Hartschmidt offenbar egal. Noch mehr wunderte sich Katharina über den Einsatz der Steine: »Sind das deine Heilsteine, Mama?«
»Ach, Kind, Svenja hat so lieb gefragt, ich konnte nicht Nein sagen.« Susannes Augen strahlten. Die Heilsteine waren eigentlich verbotenes Terrain, eine falsche Berührung könnte die Heilkraft auslöschen, hatte ihre Mutter stets erklärt. Offenbar galt das nicht für Kinderhände und Gartenschlauchwasser. Katharina liebte ihre Mutter auch für ihre Inkonsequenz. Sie legte den Arm um sie. Gemeinsam beobachteten sie, wie Svenja das Wasser stärker aufdrehte. Ein paar Heilsteine hielten dem Druck nicht stand und die ganze Konstruktion begann, sich in eine wässrige Sandpampe ohne Regulierung zu verwandeln.
»Svenjalein, super. Jetzt dreh das Wasser aus, wir fahren langsam. Oma hat gleich ihren Kurs.«
»Okay, Mama, was essen wir heute Abend? Bei der Oma gab’s Fischstäbchen mit Pommes und Erbsen zu Mittag.« Auch für ihre Enkelin ignorierte Susanne ihre eigenen kulinarischen Vorlieben und kochte das, was Svenja sich bei einem Telefonat am Abend vor dem Omabesuch wünschte. Die merkwürdige Mischung aus Fischstäbchen und Erbsen war eine von Svenjas Leibspeisen.
»Mmh, wie wäre es mit Fleischpflanzl, Kartoffelbrei und Rotkraut?«
Svenja jauchzte begeistert: »Au ja, den Kartoffelbrei machen wir selber, ich zermatsch die Kartoffeln.« Katharina und Susanne grinsten sich an. Svenja war seit jeher eine Feindin von Fertigessen. Als Baby hatte sie Gläschen meist ausgespuckt, selbst gekochten Karotten- oder sonstigen Brei aber in großen Mengen in sich hineingeschaufelt.
»Wie war es am Chiemsee?«, fragte Susanne ihre Tochter, mit der sie weiter Arm in Arm dastand.
»Interessant, Mama, sehr interessant. Würde zu lang dauern, das zu erzählen. Es wird eine spannende Geschichte, die ich schreiben darf. Weißt du, was das Beste an dem Tag